Die Martinssänger
Erzählung von Heinz Graef
Jüppken Kaumanns kann es kaum erwarten. Mit strahlenden Augen schaut er Ohm Hendrik zu, der eben den letzten Pinselstrich an einem großen Transparent aus durchsichtigem Ölpapier tut. Es ist ein Meisterwerk! Wirklich und wahrhaftig ein Meisterwerk! Denn Ohm Hendrik, der den Bauern die Hauswände malt und die Kammern tüncht, hat sich diesmal selbst übertroffen. Alles, was ihm aus der Heiligenlegende noch im Gedächtnis geblieben ist, hat sein phantasievoller Pinsel auf die vier Seiten der Fackel gezaubert. Da sieht man den heiligen Rochus, den Dulder Job und St. Sebastian. Am besten aber ist dem Ohm St. Martin selber gelungen, der auf einem Bauerngaul mit silbernem Zaumzeug dahertrabt. Sein wallender Mantel aus schreiendem Rot bauscht sich im Wind, und mit mitleidigem Blick mustert der Heilige den vor Frost klappernden Bettler, der ihm seine ausgemergelten Arme wie winterkahles Gezweig entgegenstreckt. Jüppken strahlt. Er ist überglücklich. Damit können die ändern nun wirklich nicht konkurrieren! Junge, Junge! Die würden Augen machen!
„So!“ sagt Ohm Hendrik und wischt sich die farbbeklecksten Hände an seiner Hose ab, „so, Jung! Die kann sich sehen lassen!“ Er seufzt erleichtert auf, tritt einen Schritt zurück und überprüft mit zusammengekniffenen Brauen sein Kunstwerk. Inzwischen muß Jüppken den Schaft halten und die Fackel langsam drehen. Er zittert vor Ungeduld, denn der Ohm nimmt Bild für Bild unter die Lupe und wird sich unweigerlich von neuem ans Pinseln geben, wenn eine Nase, ein Ohr oder auch eine Gewandfalte nicht den richtigen Schmiß hat. Aber seine Befürchtung trifft diesmal nicht zu. Mit zufriedener Miene stapft Ohm Hendrik zum Küchenfenster, wo eine dicke Kerze liegt, die er im Innern des Gehäuses befestigt. Er ratscht ein Zündholz an, bringt es vorsichtig an den Kerzendocht, und nun erhellt sich die Fackel wie ein Kirchenraum, in dem die Bilder wie kostbare Glasfenster erstrahlen. Jüppken tanzt wie besessen um das Wunderwerk herum, und das hagere Stoppelbartgesicht des Ohms lächelt vor Behagen. „Schönen Dank, Ohm! Sollst auch was abkriegen vom Ersungenen. Den schönsten Weckmann und die dickste Mettwurst!“ Jüppken ist außer sich vor Freude. Schmunzelnd wehrt der Ohm ab. Er hätte große Lust, selber noch einmal aufs Martinssingen zu gehen, aber das darf er dem Jungen doch nicht zeigen. Also runzelt er die Stirn und brummt mahnend: „Langsam an, Jung! Fein aufgepaßt, daß das Licht nicht an die Fackel kommt! Keine Dummheiten, hörst du!“
Aber das kleine, rundliche Jüppken ist bereits in der Dielentür verschwunden und kehrt bald darauf mit Wolljacke und Ohrenmütze und einem über die Schulter geworfenen leeren Sack zurück „So, Ohm! Jetzt kann’s losgehen!“ Er entwindet dem Ohm etwas unsanft den Fackelschaft und trippelt mit seinen kurzen, dicken Beinchen eilfertig davon, so daß Ohm Hendrik gar keine Zeit mehr findet, ihm noch weitere Ermahnungen mit auf den Weg zu geben. Es bleibt ihm also nichts anderes übrig, als bis zum Gartentor hinterherzustapfen und von dort aus der hellen Fackel sehnsüchtig nachzuträumen, deren Lichtschein in der fallenden Dämmerung kleiner und kleiner wird, bis er hinter einer Wegbiegung gänzlich verschwindet.
Als Jüppken die Handvoll Häuser hinter sich hat und aufs freie Feld kommt, bläst ihm der Wind unsanft um die Ohren, und die Lichtflamme in seiner Fackel beginnt unruhig zu flackern. Er schlingt seinen Wollschal fester um den Hals und zieht die Klappen der Mütze tiefer über die Ohren. Dann greift er wieder zu Sack und Fackel und steuert tapfer gegen den Wind an, der in kurzen, heftigen Stößen über Land fegt. Dabei läßt Jüppken die Fackel nicht aus den Augen. Immer wieder will der Wind die tanzende Flamme an das ölgetränkte Papier bringen, aber Jüppken weicht ihr geschickt aus. Freilich ist das nicht leicht, und das Bürschchen keucht und ächzt wie ein löcheriger Blasebalg.
Allmählich hebt sich das Gelände. In langsamer Steigung führt der von alten Kopfweiden bestandene Weg einen kleinen Hügel hinan, auf dessen Kuppe der weiße Rumpf einer Mühle durch die Dunkelheit schimmert. Am Himmel haben sich die ersten Sterne entzündet, und der runde, weinrote Herbstmond blinzelt gerade über den Hügelrand, Je höher er steigt, um so kleiner und blasser wird er, und als Jüppken zitternd und frierend an der Mühle anlangt, erglänzt er bereits im kalten Silberlicht der Sterne. Hier oben pfeift der Wind noch wütender, aber ein wunderbarer Anblick läßt Jüppken Kälte und Wind vollkommen vergessen. Unter dem samtenen Blau des Himmels nähern sich von allen Seiten, auf Wegen und Pfaden, bunte, leuchtende, glühende Fackeln, so daß es aussieht, als wallfahrte eine Lichterprozession zu einem Gnadenort. Jüppken sperrt Mund und Nase auf. Er kann sich gar nicht satt sehen. Der Wind trägt Fetzen von Gesang an sein Ohr. Mit jedem Schritt wird der Gesang vernehmlicher. Bald kann der Lauscher auf dem Hügel auch die Worte verstehen, und leise und glücklich summt er die Melodie vor sich hin.
Unten an der alten Feldscheune, die zum Eickschen Hof gehört, haben sich die von allen Seiten Heraneilenden inzwischen versammelt. Jüppken ist der letzte, der zu ihnen stößt. Als der Schein der Fackeln auf sein Gesicht fällt, wird der Ankömmling mit lautem Hallo begrüßt, ,,’n Abend, Jüppken! …. Auch schon da? … Junge, wo hast du die feine Fackel her? . . . Sag, wer hat die gemacht?“ So stürmen sie mit Fragen auf ihn ein und drücken ihre Nasen möglichst nahe an das Wunderwerk heran. Jüppken gibt bereitwilligst Auskunft. Stolz dreht er das Transparent nach allen Seiten. Jedes „Oh!“ der Bewunderung, jeder Ausruf des Erstaunens ist seinen Ohren süße Musik. Aber mit dem Reiz der Neuheit schwindet auch das Interesse der Burschen. Einer nach dem ändern läßt von ihm ab, und ihre Gedanken und Wünsche schweifen wieder zum nahen Dorf hinüber, wo man auf eine gute Ausbeute hofft. Endlich setzt sich der Zug in Bewegung.
Schnatternd vor Kälte, mit klammen Fingern und klappernden Zähnen, aber doch voll guten Mutes und freudiger Erwartung, erreichen sie nach kurzem Marsch das Dorf, das sich wie eine dunkle, formlose Masse unter dem hohen, sternklaren Himmel hinduckt. Überall lockt der Gesang der Burschen Neugierige vor die Türen, deren strahlende Gesichter im bunten Schein der Fackeln zauberhaft erglühen. Vor dem Wirtshaus „Zur Linde“ machen die Sänger halt. Hein Klömpkes erteilt kurze, halblaute Befehle, während die Burschen einander stoßen und drängen. Jeder möchte der Wirtshaustür am nächsten sein. Endlich ist man so weit. Hein kommandiert: „Achtung!“, und dann erschallt aus heischenden Jungenkehlen das alte, fröhliche Martinslied:
Hier wohnt ein reicher Mann,
Der uns was geben kann.
Viel kann er geben,
Lang soll er leben,
Selig soll er sterben,
Das Himmelreich erwerben!
Unter der Tür erscheint, behäbig und selbstzufrieden, Christian Guyens, der Wirt. Hinter ihm drängen sich neugierig ein paar Gäste. Bauern aus dem Nachbardorf, die einen Handel abgeschlossen haben und ihren Erfolg ausgiebig begießen. Eine kleine, bewegliche Frau mit einem Einkaufskorb am Arm hat die Männer zur Seite geschoben. „Mutter Guyens soll leben!“ Aber schon hat die Wirtsfrau in den Korb hineingelangt, und ein Regen von Zuckerwerk, Äpfeln und Nüssen ergießt sich über die Köpfe der Jungen. Ein Freudengeheul ist die Antwort, und nun stürzt alles, was Beine hat, über die am Boden kollernden Leckereien her. Sie drängen, stoßen und knuffen einander, und wenn einer glaubt, einen Apfel oder eine Printe für sich erobert zu haben, so fährt plötzlich die Hand eines ändern dazwischen, und weg ist die Beute!
Jüpken ist nicht in dem balgenden Knäuel. Behutsam nähert er sich dem hin und her wogenden Durcheinander von Armen und Beinen, um seinen Teil geschickt aufzulesen. Doch er prallt an ihm ab wie ein Ball an einem rollenden Rad. Wie er da steht, gleicht er einem schwerfälligen Dackel, der einer Wildkatze zu Leibe will, aber bei jedem Nasenstüber heulend zurückweicht. Soll er seine Fackel aufs Spiel setzen? Die schöne Fackel, die ihm Ohm Hendrik mit soviel Liebe und Kennerschaft angefertigt hat! Nein, das bringt er nicht übers Herz! Auf keinen Fall! — Verärgert und verstimmt, mit knirschenden Zähnen und zornfunkelnden Augen, klaubt er ein paar armselige Nüsse auf, die von den ändern nicht bemerkt, abseits in die Gosse gerollt sind. Als er sie in den geräumigen Sack gleiten läßt, in dem sie wie zum Hohn lustig herumklappern, überkommt ihn ein Gefühl ‚bitterer Enttäuschung.
Mutter Guyens hat ihren letzten Gabenwurf getan. Die Sänger richten ihre roten Köpfe und zerbeulten Fackeln auf, die Rücken straffen sich wieder, zusammengekrampfte Hände entleeren ihre Beute in Taschen und Säcke, und in lebhaftem Meinungsaustausch, durch den noch die ganze Glut der Kampfstimmung zittert, setzen sie ihren Weg fort. Willem Heisterkamp sieht, daß Jüppken eine verstohlene Träne über die Backen kullert. Er hat Mitleid mit ihm: „Sei still, Jüpp! Ick gew da wat mit!“ Und er streckt ihm eine Handvoll Pfeffernüsse entgegen. Aber Jüppken will nicht. Er hat auch seinen Stolz. Ingrimmig schiebt er die angebotene Gabe zurück. Das nächste Mal wird er schneller bei der Hand sein!
Aber beim Bäcker Verhulst wiederholt sich das gleiche Schauspiel. Die Jungen balgen sich um die ausgeworfenen Eierplätzchen und den Spekulatius, begleitet vom Gelächter und den Zurufen der Umstehenden. Keiner achtet mehr auf die zerbeulten und zerknautschten Fackeln. Wenn nur Taschen und Säcke sich füllen! Doch einer unter ihnen denkt anders: Jüppken! Wieder schnappen sie dem Zaudernden die Beute vor der Nase weg. Wieder geht der Ärmste leer aus. Und bei den folgenden Häusern ist es das gleiche. Von den Mettwürsten des Metzgers van der Bölt kriegt er nicht mal einen Zipfel, und was hatten die für eine pralle, fettglänzende Haut! Lediglich bei den rotwangigen Äpfeln der Witwe op de Hipp scheint ihm das Glück zu winken. Einer rollt ihm gerade vor die Füße, aber als er sich danach bücken will, schwupp!, hat ein anderer ihn erwischt. Oh, es ist zum Verzweifeln! In seinem Innern entbrennt ein Kampf, der ihn zwischen den wider-strebensten Gefühlen hin- und herreißt. Der Sack — oder die Fackel, das war jetzt die Frage. Darf er mit einem leeren Sack nach Hause kommen? Bei solch einer Fackel! Wird ihn der Ohm nicht auslachen obendrein? Bei einem Prachtstück wie dieser! Und nichts im Sack? Nein, es muß sich endlich entscheiden: Entweder der Sack — oder die Fackel!
Nicht lange dauert Jüppkens seelischer Zwiespalt. Singend und lärmend sind die Sänger vor Anton Gasthaus‘ Gemischtwarenhandlung angelangt. Hier wird zum letztenmal gesungen. Das gibt den Ausschlag. Jüppken ist bereit, alles auf eine Karte zu setzen. „Der Sack!“ denkt er, „der Sack .. .!“ Mag die Fackel auch draufgehen, es ist die letzte Chance! Anton Gasthaus steht mit krummen Säbelbeinen und breitem Lächeln unter der Ladentüre. Er hat bei den Dragonern gedient, ist ein Freund von Spässen und tollen Streichen und hat ein warmes Herz für die Jugend. Wie er so im Lichtkegel der Türe steht, einen Korb voll Naschwerk neben sich, ist er ein Bild unbegrenzten Wohlwollens. Auch die Sänger fühlen sich zu ihm hingezogen, ,,’n Avend Tonn!“ schallt es ihm von allen Seiten entgegen, „’n Avend, ihr Börsch! Nu man gesungen!“ ist die verheißungsvolle Antwort, die durch einen Seitenblick auf den gefüllten Korb wirkungsvoll unterstrichen wird. Jüppken läßt keinen Blick von Anton, dessen Hand nach langer Geduldsprobe endlich in den Korb hineinlangt. Schwupp! . . . prasselt die erste Ladung über ihre Köpfe hinweg. „Jetzt oder nie!“ denkt er und wirft sich wie ein Löwe auf die drängende, schiebende, stoßende Masse vor ihm. Federnd wie ein Gummiball prallt er zurück. Seine Wut steigert sich ins Grenzenlose. Noch einmal nimmt er einen Anlauf. Diesmal gelingt es ihm. Hände und Beine entwinden sich wirrer Verstrickung. In dem Knäuel öffnet sich ein gähnendes Loch, in dem Jüppken samt seiner Fackel verschwindet. Und nun hagelt es von allen Seiten auf ihn los. Ritsch! … St. Martins wehender Mantel hängt in einem breiten Fetzen herunter. Peng! . . . Wo eben noch der arme Job auf seinem Dunghaufen saß, klafft jetzt ein faustgroßes Loch in der Fackel. Ratsch! . . . Des Rochus Hündlein läuft plötzlich ohne Schwanz herum. Klatsch! … St. Sebastians Beine baumeln in der Luft . . . Immer dichter hageln die Püffe und Schläge, bis von Jüppkens Fackel nur noch der Schaft übrig ist. Aber auch den ereilt sein Schicksal, denn als Jüppken ihn frei bekommt, um ihn wie eine Streitkeule auf seine Angreifer niedersausen zu lassen, zersplittert er krachend in tausend Stücke. Heulend entflieht der Schwergeprüfte dem Kampfgemenge. Verflogen sind sein Zorn und seine Kampflust, und der Rest ist ein hoffnungsloser Schmerz und ein abgrundtiefer Kummer . . .
Als die Sänger sich mit lautem Hallo und übermütigem Geschrei aus dem Staube gemacht haben, die prallen Säcke mit beiden Händen geschultert und das glänzende Ergebnis mit redseligen Zungen rühmend, steht Jüppken immer noch im Halbdunkel der Straße und heult. Heult wie ein Schloßhund. Unaufhörliches Schluchzen schüttelt in kurzen, heftigen Stößen seinen kleinen, rundlichen Körper. Die geballten Fäuste hält er vor die tränennassen Backen gepreßt, auf denen sich die Spuren des Kampfes in feuchten Schmutzflecken festgesetzt haben. Aber das ansehen können und Anton Gasthaus heißen, ist ein Ding der Unmöglichkeit.
„Komm, Jüppken!“ sagt Anton mit seiner zärtlichsten Stimme, wobei ihm vor lauter Mitleid ein Kratzen in die Kehle kommt. .„Komm, Jung! Beß still! Du soß ock wat hebben! …“ Er rafft Jüppkens leeren ‚Sack vom Boden auf und zieht den kaum Widerstrebenden .in den nach Rosinen und Schmierseife, nach Apfelkraut un’d Petroleum duftenden Laden hinein, über dessen Theke eine trübe ölfunzel blakt. Jüppkens Nasenflügel blähen sich. Erst wie ein Jollensegel bei leichter Brise, dann wie ein Viermaster bei Windstärke elf. Ein würziger Duft aus fernen Ländern kitzelt seine Geruchsnerven, und wie eine Fata Morgana sieht er plötzlich schlanke Palmwipfel vor seinen Augen, in denen schokoladebraune Negerkinder nach Kokosnüssen klettern.
Mitten in seine Träume hinein ertönt Antons Kommando: „Aufhalten!“ Jüppken weiß nicht, wie ihm geschieht. Seine Augen werden größer und größer. Willenlos läßt er sich von Anton den Sack in die Hand drücken, den er mit beiden Händen aufhalten muß, während Anton in Gläser, Dosen und Kisten greift und in den Sack hineinstopft, was das Zeug hält: Datteln und Feigen, Spekulatius und gefüllte Klümpchen, Apfelsinen, Printen, Pfeffernüsse und Lakritzstangen . . . Jüppken schwindelt vor Glück. Vom zaghaften Lächeln unter Tränen bis zum freudigen Strahlen huschen alle nur erdenklichen Zwischenstufen wie ein Spiel von Sonne und Wolken über seine verweinten Züge. Oberströmend vor Dankbarkeit will er sich bei dem pfiffig schmunzelnden Anton bedanken. Aber kein Ton kommt von seinen Lippen. Hilflos wie ein nach Luft schnappender Karpfen öffnet und schließt er vergeblich sein rundliches Mäulchen, bis ihn Anton mit einem tröstlich gemurmelten: „Laß gut sein, Jung!“ in den mondhellen Abend hinausschiebt, wo ihm ein unverhofftes Glück die Schritte beflügelt.