Die Marienkapelle von C.C. Pickel – ein ungewöhnlicher Kirchenneubau der Jahrhundertwende in Adenau
Die Marienkapelle von C. C. Pickel –
ein ungewöhnlicher Kirchenneubau der Jahrhundertwende in Adenau
Christiane Hicking
Es müssen nicht immer unbedingt die Großprojekte sein, die sich im Oeuvre eines Architekten als besondere Leistung hervorheben. Mit der katholischen Marienkapelle von Caspar Clemens Pickel und der evangelischen Erlöserkirche von Franz Heinrich Schwechten sind gleich zwei Beispiele dafür in Adenau vertreten.1) Nicht ohne Grund wird die Marienkapelle in einem Atemzug mit dem größten Pickeischen Projekt St.Peter in Düsseldorf genannt. Es mag spekulativ klingen, daß die wirtschaftliche Situation der heutigen Stadt in der Hocheifel der Nährboden für ungewöhnliche Kirchenbauprojekte gewesen ist. Adenau, das zwar Sitz des Kreises Adenau war, aber bis auf eine kurze Pause zu Beginn des 19. Jahrhunderts keine Stadtrechte besaß, erlebte seit dem Anschluß an das Eisenbahnnetz 1888 einen wirtschaftlichen Aufschwung, der sich vor allem in größeren Hotel- und Wohnbauten manifestierte. Offensichtlich waren auch die Pfarrgemeinden bestrebt, in diesem Sinne für sich ein Zeichen zu setzen. Die katholische Pfarrgemeinde verfügte zur damaligen Zeit über eine völlig verbaute Pfarrkirche. Die räumlichen Bedingungen für die stetig wachsende Gemeinde waren durch das schmale Langhaus und den gestreckten Chor des ehemaligen Konvents des Johanniterordens mehr als dürftig. Eine Erweiterung der Kirche war aber äußerst problematisch und sollte nach vielen, langwierigen Diskussionen zwischen Gemeinde, Generalvikariat und Denkmalpflege erst später realisiert werden. So war es ein glücklicher Umstand, wenigstens die barocke Marienkapelle durch einen Neubau nach Plänen Pikkels ersetzen zu können. Da diese im Mai 1895 konsekriert wurde, sollte sie Aufgaben der Pfarrkirche mit übernehmen.
Planung und Bau der Marienkapelle 1893-95
Als Sohn eines Steinbruchsbesitzers 1847 in Kottenheim bei Mayen geboren, arbeitete Pickel nach dem Architekturstudium an der Bauakademie Berlin ab 1867 als Bauleiter für Friedrich von Schmidt (1825-1891) und August Rincklake (1843-1915). Um 1883/84 übernahm er das Düsseldorfer Büro Rincklakes, der bereits seit mehreren Jahren den Lehrstuhl für mittelalterliche Architektur an der Technischen Hochschule Braunschweig bekleidete. Rund 70 Kirchenbauten hat Pickel meist im neugotischen Stil bis zum Ersten Weltkrieg vorwiegend in den Regionen um Düsseldorf, Westfalen und seiner Heimat, der Eifel, ausgeführt. Neben den Entwürfen zu den Kirchenprojekten hat er in vielen Fällen auch die Innenausstattung dazu entworfen. Weitgehend unbekannt ist aber, daß er nicht nur für eigene Projekte, sondern auch für fremde, das heißt ältere Kirchen Einrichtungen entworfen hat. Daß dies offensichtlich auch ein fester Bestandteil der Aufgaben des Büros war, läßt sich unter anderem aus dem Archivmaterial zu Marienkapelle und Pfarrkirche St. Johannes d.T. in Adenau festmachen. So war Pickel mit der Planung und Ausführungsbetreuung zu Kanzel, Kirchenbänken und Seitenportalen für die Pfarrkirche seit 1890 betraut. Wahrscheinlich ist, daß über diese Tätigkeit der Gedanke für den Neubau einer Kapelle konkretisiert werden konnte, der die alte Marienkapelle an der Provinzialstraße im Bereich der Pickelsgasse ersetzen sollte. Es ist davon auszugehen, daß Pickel Entwürfe der nicht zur Ausführung gelangten Wallfahrtskapelle für Essen-Bredeney vorgestellt hatte. Die Entwürfe zu diesem eigenwilligen Zentralbau waren in der Zeit der Sozietät Pickel-Rincklake zwischen etwa 1870 und 1883/84 entstanden. Nach der Übernahme des Büros durch Pickel wurde er in einer perspektivischen Ansicht im Architektonischen Skizzenbuch 1884 veröffentlicht. Damit war der Baugedanke zur weiteren Nachahmung freigegeben und wurde unter anderem in vereinfachtem Dekor und ca. 40 Prozent in der hiesigen Marienkapelle verwirklicht. Nach weitgehendem Abschluß der Renovierung der Pfarrkirche fanden seit Oktober 1892 Kollekten für den Neubau statt, der die alte, 1753 geweihte Kapelle zur schmerzhaften Mutter Maria ersetzen sollte. Seit dem Ausbau der Hauptstraße (1860-1862) stellte der etwa 2,5 Meter in der Straße liegende Vorgängerbau ein verkehrstechnisches Problem dar. Durch Bevölkerungswachstum und Wiederaufleben der Marienverehrung war „der Zulauf (…) so groß, daß die Leute in einem dichten Haufen vor der Thüre der alten Kapelle stehen mußten.“ Sie wurde im Juni 1893 abgebrochen.
Längsschnitt (Blaupause) der Marienkapelle Adenau von C. C. Pickel vom 12. 5. 1893
Baubeschreibung
Die aus sauber geschnittenen Tuffplatten verblendete Marienkapelle steht völlig frei etwa sechs Meter von der Hauptstraße zurück, so daß sie in ihrer ganzen Komplexität erfaßbar ist. Durch die auf Repräsentation zielende Standortwahl ergibt sich eine Ausrichtung auf eine Nordost-Südwestachse. Mittelpunkt des 16,4 Meter breiten und 21,1 Meter langen Baus bildet ein sterngewölbtes gleichschenkeliges Sechseck, das von trapezförmigen Radialkapellen umsäumt wird. Auf der Längsachse ist ein Joch zwischengeschaltet, um den Chor auszuweisen. Vor dem Gemeinderaum wird die Vorhalle mit darüberliegender Orgelbühne von zwei Türmen flankiert. Im Aufriß wird die Besonderheit der in der neugotischen Kirchenarchitektur nur selten zur Ausführung gelangten zweitürmigen Schauseite erkennbar. Sie weist zwar deutlich die Portalseite aus, unterwirft sich aber gleichzeitig dem alles überragenden, auf Fernwirkung gerichteten Dachreiter, der über dem Mittelpunkt des Innern auf eine Höhe von 31 Meter ansteigt. Die Schauseite erfährt eine horizontale und vertikale Dreiteilung. Vertikal wird der Mittelteil mit seinem dreiteiligen Maßwerkfenster durch hoch aufragende Strebepfeiler von den Turmflanken getrennt. Horizontal erfolgt die Gliederung durch Sockel, Kaff- und Hauptgesimse in die niedrige Portalzone und das Haupt- und Freigeschoß. In gleicher Höhe setzen sich an den Radialkapellen und dem Chor die Gesimse fort. Die einzelnen Raumkompartimente werden von Pyramidendächern akzentuiert, die sich zu Satteldächern in das zentrale, konische über dem Sechseck formieren. Die südöstlich an den Chor angeschlossene Sakristei schließt in Höhe des Kaffgesimses ab. Im Hauptgeschoß ergibt sich daher eine regelmäßige Durchbrechung der einzelnen Wandteile durch zweiteilige Maßwerkfenster, die nur am Chorjoch ausgespart wurden. Die innere Konzeption besticht durch ihre stimmige Ausrichtung auf das kuppelige Sterngewölbe über dem Hexagon. Die einzelnen Raumabschnitte werden von den Gurtbögen markiert. Die großzügige Wirkung der Halle wird durch die gleichmäßige Belichtung der Maßwerkfenster über dem hohen Sockelgeschoß, das Stelzen der Gewölbekappen und die schlanken Dienste erzielt.
Bewertung
Pickel hatte vor Baubeginn von einem „so komplizierten Kirchenbau“ gesprochen, den er nur einem zuverlässigen Bauunternehmer anvertrauen wollte. Zu einer der vielen Debatten, die schon vor Baubeginn Mißgunst und Mißtrauen sähen sollten, gehörte auch die Aufforderung, durch extreme Verjüngung des aufgehenden Mauerwerks Kosten zu sparen. Beim Vermessen der Kapelle fiel auf, daß die korrespondierenden Seitenlängen exakt übereinstimmten oder im ungünstigsten Falle um maximal 2 cm differierten (!). Neben diesen Anhaltspunkten für eine exakte Aufmauerung fiel auch auf, daß das aufgehende Mauerwerk im Durchschnitt nur 52 bis 80 cm (einschließlich der Tuffverblendung) stark war.
Die Marienkapelle ist aber nicht nur bautechnisch von höchster Präzision, sondern dokumentiert auf eindrucksvolle Weise die künstlerische Auffassung des Architekten. Denn für Pikkels gesamtes Oeuvre sind freie Raumschöpfungen charakteristisch, während er sich bei den architektonischen Schmuckformen enger an den historischen Belegen orientierte. Daß der Begriff „Kapelle“ auf den Baukörper angewendet werden muß, bestätigt die Innenausstattung des mit ca. 26 x 33 Meter deutlich größer geplanten Grundrisses der Wallfahrtskapelle für Bredeney. Mit je zwei Votivaltären, Beichtstühlen und Seitenaltären, einer Kanzel und einem mit drei Altarstufen ausgewiesenen Hochaltar sollten der Kapelle die Pflichten einer Waltfahrts- und Pfarrkirche übertragen werden. Die Funktion der Anlagen mußte also nicht individuellen Anforderungen der Adenauer Gemeinde angeglichen werden, sondern war bereits im Urkonzept vorgelegt. Auch wenn im Titel des Entwurfes das Patrozinium der Kapelle nicht zum Ausdruck kommt, liegt doch die Annahme einer marianischen Wallfahrtsstätte nahe. Mit dem Dogma der Unbefleckten Empfängnis (1854) und den von der Kirche anerkannten Marienerscheinungen in La Salette (1846) und Lourdes (1858) war die neuerliche Marienverehrung bestärkt worden, wie sie sich beispielsweise in dem Bau der Wallfahrtsbasilika in Kevelaer (1858-64) äußerte. Der Adenauer Neubau steht also in der expansiven Entwicklung regionaler Gnadenbildverehrungen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Würde man seine Benennung als „Kapelle“ noch mit dem Vorgängerbau rechtfertigen können, so manifestiert sich im Bredeneyer Konzept definitiv die dem Baukörper zugrunde liegende Idee. Da die Entstehung derWallfahrtskapelle in Bredeney nicht auf einen historischen Befund wie in Kevelaer oder Adenau zurückzuführen wäre, hätte der Entwurf in dieser Hinsicht ebenso seine Berechtigung in der Benennung als „Kirche“ gefunden. Daher wird er motivisch von zentrierten Kapellen abgeleitet werden können, wie sie zur Verehrung Mähens seit dem 12. Jahrhundert in der englischen und dem 13. Jahrhundert in der französischen Architektur auftreten. Sind Marienkapellen, aus derfrühchristlichen Außenkrypta entwickelt, im nordfranzösischen Raum meist als Chorscheitelkapellen in Kirchen mit Marienpatrozinium eingebunden, so ist ihre klare Eingliederung in den Chor für die englische Gotik unverbindlich. Da die Lady Chapel in Kathedralen ohne Marienpatrozinium auftritt, zeichnet sich offenbar die Tendenz ab, ihre liturgische Funktion durch einen wie auch immer gestalteten Annexbau herauszustellen. Die Kenntnis historischer Zusammenhänge und neuerer konstruktiver Errungenschaften eröffnet dem neugotischen Architekten die Möglichkeit zu autonomen Lösungen. Es würde hier zu weit führen, den konstruktiven Werdegang des Bredeneyer Entwurfes nachzuvollziehen. Fest steht aber, daß schon bei Friedrich von Schmidt und August Rincklake die künstlerischen Durchgestaltung das Ergebnis rationaler, symmetrisch-geometrischer Variationen war. Zentral- und Achsialbauten finden sich zahlreich bei Friedrich von Schmidt, und Zentralbautendenzen bestimmen auch maßgeblich das Oeuvre Pickels. Dagegen wurden sie weit weniger konsequent von Ricklakes Bauten bestimmt. Von daher könnte man geneigt sein, das Bredeneyer Konzept eher Pickel als Rincklake zuzuschreiben.
Die Marienkapelle Adenau von C.C. Pickel (1993)
Anmerkung:
- Die evangelische Erlöserkirche soll in einem späteren Beitrag im Heimaliahröuch vorgestellt werden. Auf Anmerkungen wird im vorliegenden Aufsatz verzichtet. Eine Ausführung der Darstellung mit ausführlichen Belegen befindet sich im Kreisarchiv Ahrweiler.