Die „gute alte Zeit“

EIN KAPITEL AUS DEM DORFBUCH VON RAMERSBACH1)

Von Rudolf Wies

Wie alt mag es eigentlich sein, das Wort von der „guten alten Zeit“? Jeder Generation schien i h r Lebensabschnitt schwer und der vergangene rosig. Immer schon war es „früher“ besser, schöner. Schauen „wir also einmal hinein in die vergangenen Tage des Dorfes, in denen z. B. im 18. Jahrhundert „Ihrer Kurfürstlichen Durchlaucht allerunterthänigste Dorffeingesessene“ wohnten!

Der Landesherr besaß die „Oberhoheit und die Herrschaft, die Kirche, die Straßen, Gewässer, Weiden, Gerichtsbarkeit über Leib und Güter“: Du armes Bäuer-lein, was blieb dir noch? Nur dein Abrackern auf einem Lande, das zu wenig zum Leben und zu viel zum Sterben einbrachte!

Weistümer zur Aufrechterhaltung der im Sachsenspiegel niedergelegten Gesetze; Gutachten über Arbeitsverhältnisse und Rentabilität auf Gütern; Pfarrakten, darunter besonders die Bittschriften nach dem großen Dorfbrand vom 9. 4. 1736, der 80 Prozent des Dorfes buchstäblich so hinwegfraß, daß „nur die bloße und ledige platzen seyen stehengeblieben“, vermitteln uns einen anschaulichen Einblick. Die Wohnungen waren primitive Lehmverflechtungen mit Stroh- und Moosbedachung. „Gebuchte“ nennen sie die Bittschriften nach 1736, und so heißen in der Mundart heute noch alte, zerfallene Gebäude. Pastor Zerhofen (1725—1744) schrieb jeden Heller auf, den seine abgebrannte „pastoralbehausung“ aufzubauen kostete. In diesem Dokument im Pfarrarchiv ersteht vor uns sein neues Heim vom „leimb“ über „aichen bäumger“, „widtgerten“, „pungen haaberstrohe“ usw. bis zu den einzelnen Handwerkerlöhnen und Beköstigungsangaben.

Für jede Behausung, für jeden rauchenden Schornstein, war alljährlich, teils an Martini, teils an Fastnacht (Mönchen-Gladbach) das Rauchhuhn fällig.

Und das Feld? „Eiffelländische Schiffelländerey, so mehr auszurichten kostet als einbringet (1736)! Und doch, was mußte es nicht alles hergeben. So legte Art. 48 des Sachsenspiegels fest:

§ 4: Die Saat verzehntet man auf dem felde, das vieh in jeglichen mannes hause, da das vieh geworffen wird;

§ 7: Wenn ein mainn sein körn einfahren will, das soll er ankündigen dem zehntherren;

§ 9: Wo man kornzehnten gibt, da soll das seil, mit dem die garbe gebunden ist, sein eine daumeneile lang zwischen den zwei knoten.

Der Herzog erhielt 15—20 Malter „houltshafer“ Anerkennung als Landesherr, woraus die Verpflichtung erwuchs, des Dorfes Schutz- und Schirmherr zu sein. — Der Zehnt an die Benediktinerabtei Mönchen-Gladbach betrug ebenfalls etwa 15 Malter2) Getreide.

1) Ramersbach gehörte zu einem Pfalzgrafenlehen im Besitz der Grafen von Are und kam mit der „Grafschaft Neuenahr“ 1545 zum Herzogtum Jülich, 1612 zu Pfalz-Neuburg, 1742 zur Kurpfalz, zu dem 1777 auch Kurbayern kam. Zehntherren waren zur Hälfte die Abtei M.-Gladbach, zur Hälfte erbfolgend Neuenahr, Gymnich, Orsbeck, Braunsberg, Bourscheid. Die Einnahmen dieser zweiten Hälfte dienten der Sicherstellung der Pfarrkirche und Pfarrei, wobei die Zehntherren die Kollatoren blieben.

2) 1 Malter umfaßte hier etwa 180 Liter und war ein bauchiges, faßähnliches Strohgeflecht. Er war in 6 Sester zu je 4 Mühlfaß unterteilt. Bei den Dorfalten war ein „Müllebesfeldche“ ein kleines Feld, für dessen Besäen ein Mühlfaß Getreide reichte, ein „Siechtefeld“ ein solches, für das man einen Sester Saatgut benötigte.

 — Der Pfarrzehnt wird 1743 angegeben mit 8—9 Karreh Heu, 16—18 Malter Roggen, 18—24 Malter Hafer, 2—3 Sester2) Raps, 4—5 Malter Heckenkorn, 3 Sester Erbsen, 1 Malter Gerste und den Zehnten von Linnen, Eämmern und Ferkeln. Auch durfte der Bauer sein Getreide nicht in der nahen Blasweiler Mühle mahlen lassen. O nein! Er war verpflichtet, in die Eandmühle des Herzogs nach Hemmessen (Ahr) zu fahren, zu deren und ihres Teiches Unterhalt er überdies zu fronen hatte. In einer Beschwerde darüber aus dem Jahre 1603 heißt es, die durch die dauernden Ahrüberschwemmungen hervorgerufenen Verwüstungen der Mühlklausen und -teiche belaste die Dörfer derart mit Bauholz, Schanzen und Fronden, daß ihnen Wälder, Büschen und Rahmhecken zu Schaden kämen.

Auch das Vieh wurde verzehntet; denn also legte der Sachsenspiegel im Art. 48 fest:

§ 11: von bienen und allerhand vieh nimmt der Zehntherr seinen zehnten.

§ 12: von jedem fohlen und maultier gibt man einen pfennig, von kalb und esel und schaf und ferkel einen halben pfennig . . .3)

Jährlich mußte nach Neuenahr der Maihammel geliefert werden. Wuchs die Herde über dreißig Stück an, dann waren dafür schon wieder „brächten“ (Steuern) fällig. Ebenso verschlangen die fürstlichen Schafhaltereien jährlich aus der Grafschaft mehrere hundert „Bauschen Stroh“, ‚damit daraus Mist für die Weinberge wurde. (Frick).

Sollte das Ackerland durch Rodung vermehrt werden, wunde der Rodungszehnt fällig. 1603 wurde er lt. Rentmeisterbericht feierlich vor aufgestellten Kerzen verpachtet; denn abermals bestimmt der Sachenspiegel im Art. 54:

§ 5: kein zinsmann darf ohne seines herrn erlaubnis ‚holzhauen noch roden auf seinem zinsgute, es sei denn sein erbzinsgut.

Kein Untertan durfte wegziehen, um sein Eos etwa anderswo besser zu gestalten. Ebensowenig konnte er ohne weiteres einen auswärtigen Ehepartner wählen. Erst mußte er sich loskaufen. So steht in der Rentmeistereirechnung 1639: „Zieht jemand aus, so gibt er den zehnten Teil seines väterlichen Erbes an den Kurfürsten, aber alles auf dessen Gnade oder Ungnade.“ Der Fürst brauchte also nicht einzuwilligen. 1504 heiratete Wynrich Pornen von Ramersbach nach Bachern und zahlte pflichtschuldig dem Herzog von Jülich und dem Herrn von Orsbeck sein Auszugsgeld.

Jeder der beiden eingangs erwähnten Dorfbesitzer besaß im Ort seinen „c h u r m u e t i g e n“ Schaffen. Ihren Ursprung hatte die K u r m u t in dem Erbrecht, das der Herr an der gesamten Hinterlassenschaft der Eeibeigenen besaß. Das milderte sich später dahingehend, daß nur mehr die Hälfte, ein Drittel, ein Viertel oder das „Besthaupt“ (Stück Vieh) abgegeben wurde. Das Weistum für Mönchen-Gladbach aus dem Jahre 1589 besagt: Stirbt einer der Scheffen, so setzt der Schultheiß einen neuen ein. Der m u ß annehmen und den Scheffeneid leisten; denn keiner „der soviel zinsbares Gut besitzt, als man mit einem dreistempeiigen Stuhl bedecken kann“, darf das Amt ausschlagen. Die Scheffen waren auch für die Ablieferung des Zehnten nach dem Zinsregister verantwortlich.

Damit dem Herrn nur ja nichts entging, fanden jährlich drei „Dinge“ statt, bei denen Rechte und Pflichten von Herrn und Untertanen „gewiesen“ wurden. Jeder hatte zu erscheinen, Treue und Gehorsam durch Zahlen von drei Raderhellern3) zu bekräftigen und unter Strafandrohung von 7 1/2 Schilling3) alles „Strafwürdige“ anzugeben.

3) a) 11.—12. Jahrhundert: 1 Kölner Mark = 1 altgerm. Pfd. Silber hatte 12 Solidi oder Denare, l Solidus = 12 Pfennig. Nur der Pfennig war als geprägte Münze im Umlauf!
b) Nach dem Münzvertrag der rheinischen Kurfürsten von 1493 galt zunächst l Kölner Mark = 6 neue rheinische Weißpfennige oder Stüber;
c) später galt der Florentinergulden — etwa 2,5 g Gold — zu 24 Albus (— silberner Weißpfennig). 1 Albus = 2 Schilling, 1 Schilling = 6 Heller, 1 Heller = 2 Pfennig (dunkler Kupferpfennig). Radermünzen trugen auf der Rückseite ein Doppelkreuz in einem Ringe, also ein radähnliches Gebilde.

Neben all diese Abgaben traten oft noch Sonderlasten. 1581 wurde dem Amte Neuenahr als Anteil an der dem Herzog von Jülich bewilligten Heiratssteuer 1083 Gulden3) auferlegt. 1680 mußte das Amt „schwere Türkensteuer“ zahlen. 1554 waren fünfzehnhundert Goldgulden Reichssteuer aufzubringen. Bedenken wir dazu, daß seit 1550 jede Generation in den zählreichen Kriegen mehr als einmal die Bekanntschaft der rohen Söldnerheere machen mußte, die bei Durchzug und Einquartierung stahlen und beschlagnahmten, dann wird verständlich, welch arme, geplagte Menschen doch unsere bäuerlichen Vorfahren in der „guten alten Zeit“ waren.

Zum Abschluß einige interessante Angaben aus dem Gutachten eines Jesuitenpaters aus dem Jahre 1676 für Verhältnisse auf einem Gute von dreißig Morgen in Neuenahr. Er beruft sich dabei auf eine 40jährige Erfahrung:

Baut der Lehnsmann auf die Brache, so braucht er nicht zu misten und erntet ein über das andere Jahr 6 Malter Getreide je Morgen. Mistet er aber, so darf er den gleichen Ertrag in jedem Jahr erwarten. Gut gepflegte Wiesen erlauben viermaliges Krauten oder dreimaliges Heuen. Auf den dreißig Morgen erntet man 100 Malter Frucht, ohne die Sommerfrüchte, wie Kappes, Rüben, Wicken, Linsen, die für die Arbeiter gebraucht werden.

Nach getaner Arbeit soll man die Leute gleich lohnen. Weinbergarbeiter verdienen 7 kölnische Albus3), im Mai aber 8 Albus, da sie dann sticken und graben. Man soll aber keine alten Huddelbauern nehmen, sondern junge, starke Leute. Morgens erhalten die Arbeiter Haferbrei und Beerenkraut (Birnkraut) oder Butter und faulen Käse, davon zwei Stück beisammen. Mittags gibt es warme Suppen, mit Löffeln zu essen, oder Mus oder Bohnen und etwas Käse oder Beerenkraut. Um fünf Uhr muß man ihnen Brot und Käse in den Wingert bringen, doch ist man davon vor dem 1. Mai befreit. Nach Möglichkeit verabreicht man ein- bis zweimal wöchentlich Fleisch, sonst sonntags; denn alle Arbeiter, die die Woche hindurch gearbeitet haben, haben sonntags freie Kost. In der Fastenzeit gibt man einen Hering, der des Morgens aus der Tonne genommen, bis zum Abend gewässert und alsdann (gesotten wird. Davon ist die Brühe .noch für die Suppe zu brauchen. Mittags gibt man keinen Hering; denn darauf trinken sie zuviel. Für Brot rechnet man pro Mann höchstens 6 Pfund, oder je Mahlzeit Pfund. Ein Neuenahrer Malter kostet 3 Reichstaler und liefert gewöhnlich 50 Brote. (Frick).

Diese Jahrhunderte härtester Arbeit formten den stillen, verschlossenen, fleißigen, zähen und anspruchslosen Menschenschlag, der in ergebener Gottesfürchtigkeit und treuer Nachbarhilfe seinen gewiß nicht leichten Tagespflichten nachging. Er wurde zu jenem überfließenden Gesundbrunnen, der unsere Städte mehrte und frischte und hochstehende geistige Kräfte aussandte. Heute, da dieser Lebensquell von Jahr zu Jahr durch die Hohlheit und Gottesfremdheit unserer „modernen“ Zeit mehr und mehr zu verpesten und zu versiegen droht, wird uns langsam klar, daß wir mit jedem „Alten“, den wir in seine Heimaterde senken, wirklich zu Grabe tragen ein Stück der „guten alten Zeit“.

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