Die Grafschaft „boomt“ – ZumWachstum einer ländlichen Gemeinde

Die Grafschaft „boomt“ –

Zum Wachstum einer ländlichen Gemeinde 

Uta Kristina Maul

 Einst wurde ihr der Untergang prophezeit: „Nicht lebensfähig“, urteilten Ende der 60er, Anfang der 70er Jahre Experten der rheinland-pfälzischen Landesregierung über die Grafschaft -weil sie weniger als 7.500 Einwohner hatte und damit nach Meinung des Landes als eigenständige Verbandsgemeinde chancenlos war. Doch das fruchtbare Hügelland nördlich der unteren Ahr trotzte allen Vorhersagen, nahm einen Aufschwung, den damals noch niemand für möglich gehalten hätte. Seit Gründung der verbandsfreien Gemeinde Grafschaft im März 1974, die unterm Strich aus der „Attacke“ der Mainzer resultiert, schnellt die Bevölkerungszahl in die Höhe, das Gewerbegebiet wächst und wächst, mit ihm die Arbeitsplätze – Ende nicht in Sicht. Aus der einst totgeglaubten Grafschaft wurde die „Boom-Town“ Grafschaft, deren „Regierung“ den Ansturm heute nur mühsam bewältigen kann.

 Bevölkerungsstatistik

Ein Blick in die Statistik zeigt, daß die Grafschaft in puncto Bevölkerungszuwachs einsamer Spitzenreiter im Kreis Ahrweiler ist. Am 31. Dezember 1973, also kurz vor ihrer Umwandlung von der Verbandsgemeinde Ringen in die Gemeinde Grafschaft, zählte sie 6.113 Einwohner (ohne Kaienborn, das im März 1974 der Verbandsgemeinde Altenahr zugeschlagen wurde), am 31. Dezember 1995 exakt 4.020 mehr, nämlich 10.133 Bürger- das sind sensationelle 66 Prozent mehr. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum konnte die Stadt Sinzig rund 3.400 Bürger mehr in ihre Mauern locken, hatte Ende 1995 gut 16.400 Einwohner und damit 26 Prozent mehr als Ende 1973. Und mit diesem Zuwachs liegt die Barbarossastadt schon an zweiter Stelle hinter der Grafschaft. Auf den weiteren Plätzen folgen die Verbandsgemeinde Bad Breisig mit einer Steigerung von rund 24 Prozent (12.780 Einwohner Ende 1995), die Verbandsgemeinde Brohltal mit 16 (17.681), die Stadt Remagen mit 10 (16.286) und die Verbandsgemeinden Adenau (14.268) und Altenahr (11.391) mit jeweils 7 Prozent. Und die Kreisstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler? Sie fuhr mit 26.417 Einwohnern am 31. Dezember 1995 gegenüber 26.494 22 Jahre früher sogar ein Minus von etwa 0,3 Prozent ein. Die Grafschaft hingegen holte allein vom 31. Dezember 1995 bis zum 31. Juli 1996 noch einmal 256 Neubürger in ihre elf Ortsbezirke, macht summa summarum 10.389 Bürger. Es dürfte eine Frage der Zeit sein, wann sie die Verbandsgemeinde Altenahr einwohnermäßig überflügelt.

 Baulandpreise

Einer der Gründe für die Zuwächse: Die Grafschaft verfügt noch immer über Bauland, das im Vergleich zum nahen Nordrhein-Westfalen oder zur Kreisstadt mit 140 bis 300 Mark je Quadratmeter (für erschlossenes Bauland) relativ preiswert und daher gerade für junge Familien interessant ist. Dabei handelt es sich eigentlich um „Altlasten“: Die ehemals selbständigen Orte haben damals, vor 1974, auf „Teufel komm‘ raus“ Bebauungspläne aufgestellt. „Die sind bis heute nicht abgearbeitet“, erzählt Bürgermeister Hubert Kolvenbach. Seit der Neugliederung 1974 habe die Gemeinde lediglich vier neue Bebauungspläne aufgestellt; der Rest -rund 70 insgesamt – stammt von damals. Auf zwölf bis 14 Millionen Mark schätzt Kolvenbach die Erschließungskosten, die aus den alten Plänen noch auf die Kommune zukommen. Vier bis fünf Jahre werde es noch dauern, bis zumindest die dicken Brocken durch sind. Danach, hofft er, gebe es endlich (finanzielle) Luft, um sich auf freiwillige Leistungen wie beispielsweise Vereinsförderung oder Dorfplatzgestaltung zu konzentrieren.

 Kindergärten und Schulen

Denn „Boom-Town“ zu sein, hat durchaus seinen Preis. Mehr Einwohner heißt ja auch: mehr Kindergärten, mehr Schulen, mehr Dienstleistung – bis 1995 gab es noch nicht einmal eine Apotheke in der Grafschaft. Das Problem dabei:

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Die Verwaltung hat keinen Planungsvorlauf, denn niemand kann voraussehen, wieviele Familien mit wievielen Kindern morgen oder übermorgen in die Grafschaft ziehen. Aber für den Bau neuer Kindergärten oder Schulen müssen schon zwei bis drei Jahre kalkuliert werden. So ist es gut möglich, daß der gerade fertiggestellte neue Kindergarten in Esch – der dritte kommunale Vier-Gruppen-Kindergarten neben den beiden in Leimersdorf und Ringen; bis 1986 gab es nur die zwei katholischen in Lantershofen und Gelsdorf – schon bald nicht mehr reicht, um den Bedarf zu decken. Ähnlich verhält es sich mit den drei Grundschulen in Ringen, Leimersdorf und Gelsdorf, die inzwischen alle zweizügig sind. Daß für Gelsdorf jetzt die Zweieinhalb-Zügigkeit diskutiert wird, nimmt kaum wunder:

Nach Landesberechnungen müssen von 1997 bis zum Jahre 2002 allein in der Grafschaft 873 Kinder eingeschult werden.

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Das Gewerbegebiet Grafschaft bietet schon heute (1996) über 800 Arbeitsplätze.

Gewerbegebiet

„Boom-Town“ findet allerdings nicht nur in Schulen und Kindergärten statt, sondern auch im Gelsdorfer Gewerbegebiet, das nicht zuletzt wegen seiner unmittelbaren Nähe zum Autobahnkreuz Meckenheim (A 61 in die Richtungen Köln und Koblenz, A 565 Richtung Bonn) für viele Unternehmen interessant ist. Mit den ersten Planungen für dieses Gebiet wurde im Jahre 1977 begonnen. Heute sind dort rund 800 Menschen beschäftigt, etwa 300 weitere Arbeitsplätze erwartet die Gemeinde von der Erweiterung des Gewerbegebietes. Zusammen mit den 600 bis 650 Soldaten und Zivilangestellten, die künftig im Amt für Nachrichtenwesen der Bundeswehr (derzeit im Bau) direkt neben dem Gewerbegebiet arbeiten werden, kommen dann fast 2.000 Arbeitsplätze zusammen – in einer 10.000-Einwohner-Gemeinde.

Und das schlägt sich natürlich auch finanziell nieder: Kassierte die Grafschaft 1979 noch 622.000 Mark an Gewerbesteuer, so waren es 1995 schon 2,8 Millionen. Für 1996 werden die Einnahmen auf mehr als drei Millionen Mark geschätzt. Eine der finanziellen Kehrseiten des Wachstums: Mit der Ansiedlung von Gewerbe steigen auch die Risiken der Brandgefahr. Wo früher der „Ruf durchs Küchenfenster“ (Kolvenbach) reichte, müssen heute modernste Ausrüstung wie Funk, Atemschutz oder leistungsstarke Fahrzeuge und Spezialausbildungen her. Von 1987 bis heute wurden dafür fast 900.000 Mark aufgewandt. Teuer wird der „Boom“ auch in anderer Hinsicht: 1979 mußte die Grafschaft nur 294.000 Mark für Sozialhilfe und Asylbewerber ausgeben, 1995 waren es 1,7 Millionen Mark. Was Kolvenbach ganz besonders ärgert:

Weil es nur alle drei Jahre eine Einkommensteueranpassung gibt, entspricht der Gemeindeanteil an der Einkommensteuer (1979: 1,35 Millionen Mark; 1995: 4,6 Millionen) nie der tatsächlichen Einwohnerzahl bzw. Finanzkraft. Kolvenbach: „Wenn Leute in die Grafschaft ziehen, haben wir die Ausgaben sofort, die Einnahmen aber stark zeitversetzt.“

Ganz glücklich ist der Bürgermeister mit alldem nicht: „Dieses Wachstum ist zu schnell, das halten wir auf Dauer nicht durch.“Denn je schneller die Dörfer wachsen, desto offensichtlicher wird die mangelnde Infrastruktur. Es fehlt an Sportanlagen – trotz der vier Millionen Mark teuren Ringener Turnhalle -, an Jugend-, Alten-, Kultur- und Mehrzweckräumen. Und Geld für freiwillige Leistungen kann die Verwaltung allein schon wegen der bundesweiten Finanzmisere nicht lockermachen. Trotzdem muß Kolvenbach schmunzeln, wenn er an die Vergangenheit denkt: „Wer hätte jemals gedacht, daß die damals zum Tode verurteilte Grafschaft eines Tages so blühen würde?“