Die Glocken von St. Peter Sinzig
Dr. Peter P. Pauly
Glocken symbolisieren den Prediger und ihr Klang die Lehre derjenigen, deren »Botschaft in die ganze Welt ausgegangen ist« (Ps. 19). Wann und wo Glocken auf dieser Welt zum erstenmal geläutet wurden, werden wir nie mit Sicherheit erfahren. Fest steht, daß sie mit ihrem Klang voller Tiefe, Fülle und Wärme die Gemüter der Menschen aller Kulturstufen und zu allen Zeiten bewegt haben.
Am Anfang der geschichtlichen Entwicklung steht die Glocke als Zeichengeber, als Rufzeichen. In diesem Sinne ist sie vor 5 000 Jahren in dem auf hoher Kulturstufe stehenden China, dem möglichen Geburtsland der Glocken, bereits bekannt gewesen. Hier reifte sie als Musikinstrument zur höchsten gußtechnischen und formkünstlerischen Vollendung heran. Im Laufe von Jahrtausenden gelangte die Glocke über den Orient ins Abendland. Perser, Ägypter, Hebräer, Griechen und Römer benutzten sie sowohl zu profanen Zwecken als Signalinstrumente an Türen, Pfosten und Bädern, als auch zu kultischen Handlungen in Tempeln, Heiligtümern und auf Friedhöfen. Offensichtlich haben auch die wandernden Kelten Glocken von Asien nach Italien, England, Schottland, Irland und Island eingeführt. Die ersten literarischen Zeugnisse des Altertums, in denen Glocken erwähnt werden, finden wir in einem Epigramm des röm. Dichters Martial [40-100 n. Chr. — »sonat aes therma-rum«— ] und in einem Brief des röm. Redners und Schriftstellers Plinius des Jüngeren [1 -113 n. Chr. — »hora balinei nuntiata est«]. Seit wann Glocken offiziell als Kultgegenstand in der christlichen Religion benutzt worden sind, ist nicht genau bekannt. Vieles spricht dafür, daß mit dem Mailänder Toleranzedikt aus dem Jahre 313 unter Kaiser Konstantin dem Großen (306-337), das den Christen freie Religionsausübung gestattete, Glocken als liturgische Gegenstände in christlichen Gemeinden eingeführt wurden. Vielfach wird der berühmte hl. Paulinus, Bischof von Nola in Campanien (353 – 431), als Erfinder des Glockengusses genannt. Er soll die Glocke auch zum erstenmal im Gottesdienst benutzt haben. Vielleicht hat die etymologische Worterklärung, nämlich die lateinische Bezeichnung »campana« für große und »nola« für kleine Glocke, zu dieser Vorstellung beigetragen. Jedenfalls erzählt eine Sage, wie Paulinus auf die eigentümliche Glockenform kam:
»Als er in friedlicher Abendstille auf einer Wiese ging, bat der fromme Bischof den Herrn um ein Zeichen, daß er bei ihm weile. Alsbald vernahm er von allen Seiten ein leises Klingen, und beim Umschauen sah er die blauen Glok-kenblumen — campana — sich hin- und herwiegen, so daß ihm war, als klingelten die Blumen und gaben ihm damit das erwünschte göttliche Zeichen. Zum Andenken daran ließ er eine Glockenblume in Erz gießen, die er im Dom anbrachte und jedesmal zum Gebet anschlagen ließ.«
Als frühe literarische Quelle, die Auskunft über den kultischen Gebrauch in der christlichen Religion gibt, sind die Schriften des hl. Gregor von Tours (540 – 604) anzusehen. Aus ihnen lesen wir, daß zu Beginn des Gottesdienstes und zu bestimmten kanonischen Stunden Glocken geläutet wurden. In den folgenden Jahrhunderten verbreitete sich die Glocke insbesondere durch die Verordnung Papst Sabinianus (604 – 606) über ganz Europa, so daß um 800 Glocken auch in Dorfkirchen vorkamen. Dabei entwickelten sich zwei technische Verfahren getrennt voneinander:
Das Guß- und das Schmiedeverfahren. Die älteste gegossene Glocke stammt aus dem Jahre 490 vom hl. Folkernus, dem Sohn eines irischen Fürsten, Gründer des Klosters Leimster und Bischof von Trim. Die älteste, geschmiedete, eiserne Glocke stammt aus Deutschland, nämlich der »Saufang« aus dem Jahre 613 von St. Cäci-lie/Köln, bzw. aus der Schweiz die St.-Gallus-Glocke aus St. Gallen.
Die Glockengießkunst beginnt um das Jahr 1000 in der Abtei am Tegernsee mit dem Abt Adalrich von Freising. Seit dieser Zeit haben die Glocken eine neue gegenständliche Bedeutung. Zwar bleibt die praktisch-musikalische Aufgabe der Glocke die Grundlage ihrer Bewertung, durch die künstlerisch-reliefartige Darstellung der Schauseite aber erhält sie eine neue kunstgewerbliche Dimension. Die ältesten Zeugnisse der Geschichte der rheinischen Glocken sind die wenigen noch vorhandenen romanischen Glocken. Die einzige beschriftete romanische Glocke ist aus dem Jahre 1150. Sie stammt von dem Abt Ewerwinus aus der Abteikirche Mönchen-Gladbach. Die älteste romanische Glocke mit Bildwerk finden wir in dem Eifeldörfchen Kirchsahr; sie gehört wahrscheinlich in die Mitte des XII. Jhs. Die oktogonale Tristega von St. Peter Sinzig beherbergt eine kirchliche Denkmalgruppe von hoheni kultur- und lokalgeschichtlichen Rang. Es handelt sich hierbei um vier unter Denkmalschutz stehende historische Glocken. 1. Die kleine »Namenlose« Die Nachforschungen zeigen, daß die kleinste Nola — sine nomine — wahrscheinlich auch die älteste der Sinziger Glocken ist. Möglicherweise handelt es sich hierbei um die Glocke aus der Petruskapelle. Die Glocke erfüllt mehrere Erfordernisse der für den romanischen Glockenguß maßgebenden Formregeln des Theophilus, eines Benediktinermönches, der im 12. Jh. im Kloster Hel-mershausen als Goldschmied tätig war. Die bienenkorbförmige Glocke ist unbeschriftet, weist viele Gußnarben auf und trägt nicht auf der Haube, sondern am Halsrand ein Rosenfries, wobei als Zäsurzeichen ein Doppelvolutenkreuzchen benutzt wird. Bei einem Durchmesser von 73 cm und einer Höhe samt Krone von 83 cm hat sie ein Gewicht von ca. 300 kg. Ihre Melodie, die durch eine Klanguntersuchung mit Hilfe der Barthelmes’schen Stimmgabel bestimmt wurde, lautet: e“ o, g“ -3, h“ – 7, e“ o, g“ ‚-3, h“ -2. Entsprechend der mittelalterlichen Vorstellung hatte ein Oratorium oder eine königliche Eigenkirche nur eine Glocke. Die Zahl eins wurde ausschließlich Gott beigelegt, dem Anfang von allern und der unteilbaren Einheit. Außerdem sollte die Zahl eins das einzige Ziel des Christen symbolisieren: die ewige Seligkeit. 2. Die Marienglocke 1299
Im Glockenstuhl nebeneinander: die kleine »Namenlos« (r.) und die Marienglocke
Die Glocke der Himmelsherrscherin ist nicht nur eine der schönsten Glocken auf deutschem Boden, sie ist auch die älteste mit einer Jahreszahl und die größte der Sinziger Glocken. Es handelt sich um ein Meisterwerk mittelalterlicher Glockengießerkunst von hohem Rang.
Die Glocke hat eine klassisch schöne Form. Die relativ kleine Krone mit Öhren von quadratischem Querschnitt und abgerundeten Kanten leitet harmonisch über zur stark abgeplatteten Haube, die einen betonten Mantelstreifen trägt und unten einen weit ausschwingenden Schlagring hat. Sie gehört in eine Zeit, in der die interessantesten Glockeninschriften vorkommen. Mit einer eigenartig primitiven Technik wurden Buchstaben, Figuren und Ornamente aus gedrehten Wachsstreifen mit Pressein auf das Glockenmodell aufgelegt. Auf diese Weise entstand ihr einziger, aber außergewöhnlich schöner Schmuck, nämlich die zweizeilige gotische Majuskelumschrift: MARIA RECTOR CELI NOS EXAUDI TU Dl-GNARE NOS SALVARE O ET ALPHA NOS ADIUVA, A Q REX GLORIE, VENI CUM PAGE, DOMINI MCCLXXXXIX MENSE MAI FUSA
Bei einem Durchmesser von 144 cm, einer Körperhöhe von 148 cm und einem Gewicht von ca. 2 100 kg nimmt sie in der Glockenstube einen dominierenden Platz ein. Das Tongebäude dieser Glocke lautet: dis‘ + 2, fis‘ +9, ais‘ -2, dis“ +2, fis“ +2, ais“ -4, h“ o, cisis“ ‚ -1, dis“ ‚ +1, e“ ‚ +8, fisis“ ‚ +6 f.
Im Mittelalter hatten Pfarrkirchen zwei Glocken, weil die Zahl zwei die zwei Naturen des Gottmenschen Jesu Christi darstellten.
Die kleine „Namenlos
Marienglocke von 1299
3. Die Angelusglocke 1451 Ein hervorragendes Zeugnis mittelalterlicher Glockengießerkunst ist die Angelusglocke aus dem Jahre 1451. Die Form der Glocke beeindruckt durch ihr harmonisches Maßverhältnis von Rippe und kronenförmiger Ausbiegung der achtseitigen Öhre. Die Inschrift in gotischen Minuskeln, die mit dem Worttrennungszeichen den englischen Gruß beinhaltet:
AVE MARIA; GRACIA PLENA, DOMYNUS TECUM, BENEDICTATU IN MULYERIBUS ET FRUCTUS VENTRI (darunter ENTRIS) BENIDICTUS IHESUS. MCCCCLI. Mit fortschreitender Entwicklung im Kunsthandwerk des Glockengusses im 15. Jh. war es möglich, mit bildhaften Darstellungen Glocken auszuschmücken. Schriften, Figuren und Bilder wurden vor dem Gießen in die Innenwand des Lehmmantels der Glocke eingeschrieben. Nach vollendetem Guß traten die Ritzzeichnungen in erhabenen Flächen auf der Glocke in Erscheinung. Außer der Inschrift hat der Meister, zwar zaghaft und unbeholfen, aber von deutlicher Plastizität, zwei Figuren, ein Porträtstandbild des hl. Ritters Quirinus (Neußer Wallfahrtsabzeichen) und einen Bischof in Sitzhaltung auf der Aveglocke abgebildet. Heiligengestalten wurden im Mittelalter ohne Ausnahme frontal auf der Wandung von Glocken dargestellt, im Gegensatz zu der Darstellung von Stiftern und Gießern, die in der Seitenansicht vorkommen. Die Glockenmaße betragen: Unterer Durchmesser 89 cm, Höhe 96 cm, Gewicht ca. 500 kg. Die Glocke klingt auf der Melodie: h‘ + 5, D“ + 2, f – 5, h“ + 5, eis“‚ + 4, fis“‚ + 2, ais“‚ -1 p, h“‚ + 14, e““ + 6 f, e“ + 6 m f. Drei Glocken symbolisieren das Bild der geheimnisvollen, hochheiligen und herrschenden Dreieinigkeit, »die ohne Anfang und Ursprung existiert und alles Gewordene, Ursprung, Wurzel und Ursache in sich enthält« (Euseb. De laud. Constant. c6). 4. Die IHE-MA-PE-Glocke 1462 Die Jesus-Maria-Petrus-Glocke ist ein Prachtstück spätgotischer Glockengießerkunst eines unbekannten Meisters aus dem Jahre 1462. Nachdem sowohl Schriften als auch Ornamente zu einem festen Bestandteil der Glockenzier geworden waren, wurde das Streben nach thematischer Gestaltung immer stärker.
Beliebte Darstellungen zu dieser Zeit sind dabei zum Beispiel der Kampf zwischen dem Erzengel Michael und dem Drachen oder ähnliche. Trotz der Ansätze zu künstlerischer Gestaltung erstarren viele figürliche Ritzungen im konservativen Formenkanon ohne Variationen. Die Ursache hierfür ist die Schwierigkeit der Ritztechnik und die Tatsache, daß die Ritzer im allgemeinen keine bedeutenden Künstler waren und sich häufig mit der Wiederholung von Vorlagen begnügten. Von der künstlerischen Zier ist auf der Jesus-Maria-Petrus geweihten Glocke auf einem 58 cm langen Friesstück mit Ranken nur noch der Drachen erkennbar. Die Glocke ist mit einem Durchmesser von 135 cm, einer Höhe von 144 cm und einem Gewicht von 1 700 kg die zweitgrößte. Ihre Inschrift in gotischen Minuskeln lautet: IHESUS MARIA PETRUS, ANNO DOMINI MILLESIMO CCCC SEXAGESIMO SE-CUNDODIEXIIIIMENSISIULII.
Der musikalische Aufbau der Glocke: e‘ -6, g‘-10, b‘ -7, e“ + 6, fis“ -1 f, g “ + 5 f, a“ – 7 p, h“- 7, eis“‚ + 8 p, d“‚ o, e“‚ + 2, gis“‚ -12, a“‚-8 f.
Die vier Glocken versinnbildlichten die vier Evangelisten, die das Evangelium in die vier Himmelsrichtungen der vier Weltgegenden verbreiten sollten. 5. Die Täuferglocke 1661 Der Dreißigjährige Krieg hatte durch Raub und Umguß so große Schäden unter deutschen Glocken angerichtet, daß die berühmten Glockengießerfamilien allein nicht in der Lage waren, diese zu beseitigen. Zahlreiche neue Gießerbetriebe versuchten ihr handwerkliches Können, das sich vor allem in der aufwendigen Gestaltung des Zierwerkes der Glocken ausdrückte, um diese Verluste zu beheben. Die Kunst aber, Glocken zu gießen, die den gewünschten Ton und einen reinen, vollen Klang besaßen, beherrschten sie nicht. Aus dieser Zeit stammt die Uhrschlagglocke aus der Glockengießerwerkstatt des berühmten Joan Nelman. Sie kündet seit 1661 aus dem Turmhelm des Giebeltürmchens über der Westfassade den Menschen dieser Gemeinde die Zeit. Sie trägt als einzige der Sinziger Glocken ihre Inschrift in deutscher Sprache:
Aveglocke von 1451
IHE – M A – PE-Glocke von 1462
IOANNES BAPTISTA HEISCHEN ICH, ZUR EHRE GOTTES UND GEMEINSCHAFT BEROIF ICH; MATTHEIS BÖLLER, MATT-HEIS THESIEN CONSULES, IOAN NEL-MAN GOS MICH ANNO 1661. Ihr unterer Durchmesser ist 72 cm, ihre Körperhöhe beträgt 78 cm und ihr Gewicht 250 kg. Ihr Schlagton: d“‚ + 8
Das aus den vier von unbekannten Meistern aus z. T. verschiedenen Jahrhunderten stammende Hauptgeläute — das seit dem Weihnachtsfest 1952 von Läutemaschinen in Gang gesetzt wird — ist nach Ausweis der Klanganalysen sowohl hinsichtlich der Melodieführung (Schlagtonstim-mungslinie), als auch im Aufbau der einzelnen Klänge voll schärfster Dissonanzen. Diese Feststellung braucht keineswegs zu erschüttern; solche Dissonanzen sind vielmehr bei allen mittelalterlichen Geläuten mehr oder weniger anzutreffen; das Geläut erzielt so nicht die musikalische Übersichtlichkeit und Klarheit, wie wir sie von modernen Geläuten gewohnt sind. Seine Wirkung ist trotzdem von faszinierender Eindringlichkeit, absolut originell und ohne Parallele.
Die Geschichte des Sinziger Basilikageläutes muß einbezogen werden in die Betrachtung des geschichtlichen Wechselverhältnisses von Frieden und Krieg. Bereits 1414 ließ Kurfürst Friedrich l. von Brandenburg, der erste Landesfürst aus dem Hause der Hohenzollern, zum Schütze seines Landes gegen den märkischen Adel Kirchenglocken, darunter sogar die Glocken der Berliner Marienkirche, zu Kanonen umschmel-zen (Augonzeugen berichten, daß dies ihm ein schweres Sterbelager bereitet habe!). Aus diesem schlechten Beispiel entwickelte sich das Gewohnheitsrecht, das dem siegreichen Feldherrn nach der Eroberung einer Stadt erlaubte, das Metall der Glocken zu Kanonen umzugießen (dieses Recht wurde durch Art. 8 der Brüsseler Völkerrechtserklärung von 1874 aufgehoben).
Wie durch ein Wunder hat das Sinziger Glockengeläute die schweren Stürme kriegerischer Auseinandersetzungen wie den Kölnischen Krieg (1582 – 1584), den Streit um die Jülich-Klevische-Erbfolge (1614), den Dreißigjährigen Krieg (1618 -1648), den Pfälzischen Erbfolgekrieg (1688 – 1697), die Napoleonischen Feldzüge (1806 -1814) und den Deutsch-Französischen Krieg (1870 -1871) überstanden. Auch die beiden großen Stadtbrände von 1583 und 1758 haben weder den Glocken noch der Pfarrkirche Schaden zugefügt.
Als die deutsche Heeresverwaltung im dritten Kriegsjahr am 1. März 1917 die Bestandserhebung, Beschlagnahme und Enteignung von Glocken in Bronze verkündete, begann die Endphase eines sinnlosen gigantischen Blutopfers der Völker Europas und das große »Sterben« der Glocken im Reich. Um die Rohstoffbasis zu sichern und die deutsche Kriegsrüstung in Gang zu halten, wurden u. a. Glocken in drei Klassen eingeteilt. Die Klasse A war für solche Glocken vorgesehen, die keinen besonderen wissenschaftlichen, geschichtlichen oder künstlerischen Wert besaßen und sofort an die Kriegsrüstung abzuliefern waren. In Klasse B wurden Glocken aufgenommen, die
wegen ihres Alters oder ihrer Gestalt und in Klasse C diejenigen, die wegen ihrer Inschrift oder ihres Bildschmuckes, des Gusses oder Klanges von hervorragendem kulturellem Wert waren; sie sollten zunächst verschont bleiben. Als der l. Weltkrieg zu Ende war, hatte die Rüstungsindustrie fast jede zweite deutsche Glocke vernichtet (genau 44 Prozent). Unter ihnen waren solche, deren Kulturwert nicht mehr zu ersetzen ist. Die Glockengießerbetriebe hatten kaum Zeit, die Schäden des Weltkrieges unter den Glocken mengenmäßig auszugleichen, als der Kriegstreiber ausgerechnet auf dem »Parteitag der Ehre« im Jahre 1936 den rechtlichen Rahmen zur Vorbereitung eines noch schlimmeren Weltbrandes absteckte. Alle späteren Anordnungen zur Sicherung von Rohstoffen für die Durchführung eines längerdauernden Krieges bezogen sich auf diesen sog. Vierjahresolan.
Das deutsche Terrorregime des Zweiten Weltkrieges konnte sich die Einteilung der Glocken in vier Gruppen sehr wohl leisten, da historische Glocken von der Qualität der Gruppe D nur noch sehr wenige vorhanden waren. Von den vier Sinziger Turmglocken gehörten drei dieser Gruppe an, über deren Schicksal sich der »Reichsmarschall« persönlich die Entscheidung vorbehalten hatte. Nach dem 12. November 1941 sollte entsprechend den Anordnungen über die Ablieferung von Nichteisenmetallen die Abnahme der Bronzeglocken erfolgen.
Am 15. Oktober 1942 wurden die beiden Glocken der St.-Wendelinus-Kapelle in Koisdorf aus den Jahren 1823 bzw. 1920, die beide der Gruppe A zugeordnet waren, von einer Sinziger Baufirma abgenommen und an die Reichsstelle für Metalle abgeliefert.
Am Ende des Jahres 1942 waren alle Glocken der Gruppen A und B in den Verhüttungswerkstätten eingeschmolzen. Im Januar 1943 kamen die Glocken der Gruppe C an die Reihe. Nun schlug die Schicksalsstunde der wertvollen Sinziger Angelusglocke aus dem Jahre 1451. Die Abschiedszeremonien gestalteten sich sehr unterschiedlich und offenbarten in diesen schweren Stunden geheimnisvolle Beziehungen und eigenartige Gefühle zwischen Mensch und Glocke. In einem Fall stand der Ortspfarrer im Turmfenster und blies auf einem Hörn zum Abschied seiner Glocke »Deutschland, Deutschland über alles!«. In anderen Fällen hatten die Pfarrer die mit Blumen geschmückten Glocken am Hochaltar aufgestellt und hielten vor der versammelten Kirchengemeinde einen Abschiedsgottesdienst, wobei es oft zu Szenen menschlicher Betroffenheit kam. Meistens vollzog sich der Abschied allerdings still und unauffällig, so auch bei der Sinziger Glocke. Eigentlich sollte sie auf die Reise zum Glockensammellager nach Hamburg transportiert und auf den meterhohen Glockenhaufen aufgekarrt werden. Ihr Schicksalsweg endete jedoch im Kirchturm der Pfarrkirche St. Sebastian in Bodendorf/Ahr. Durch den Mut und die Klugheit eines einzelnen war sie dem Schicksal der Vernichtung im Zweiten Weltkrieg entgangen, von dem 74 Prozent aller deutschen Glocken betroffen waren. Insgesamt wurden in Europa durch Kriegseinwirkungen 175000 Glocken vernichtet.
Nachdem die Verpflichtungen der Pfarrgemeinde Bodendorf gegenüber erfüllt waren (eine Ersatzglocke zu beschaffen), wurde die Glocke unter großer Feierlichkeit nach Sinzig zurückgebracht und läutet seit dem Sommer 1953 von ihrem jahrhundertealten Platz täglich zum Angelus.
Wer die Denkmäler der Vergangenheit sehen möchte, muß sich der Mühe unterziehen, über die Südempore, am schmalen dunklen Triforium entlang, durch die Schneckenstiege, auf wackligen Brettern über das Gewölbe des Presbyteriums zu gehen und über eine steile Leiter auf drehbaren, durchgetretenen Sprossen zu klettern, um in die zugige, aber geräumige Glockenkammer zu gelangen. Nicht nur der Anblick der wertvollen Glocken allein, sondern auch der alters- und denkmalswerte gotische Glockenstuhl entschädigt den Besucher für seine Mühe. Schwere Träger und Balken des Eichenbockstuhls, zu Stein erstarrt, von Schmieröl und Vogelmist verkrustet, durch jahrhundertealten Staub grau geworden, zu einem mächtigen Gestell zusammengefügt, das die wertvollen Glocken seit 720 Jahren trägt. Die absolute Zeitbestimmung nach der C 14-Methode (Radiokohlenstoff-Methode) durch das Labor des Instituts für Ur- und Frühgeschichte der Universität Köln erlaubte es, das »kalibrierte Datum« auf das Jahr 1260 festzusetzen.
Wenn man den mächtigen Vierungsturm der Sinziger Pfarrkirche von außen betrachtet, ahnt man nicht, daß sich hinter dem romanischen Mauerwerk eine Schatzkammer von seltener Harmonie zwischen gotischem Glockenstuhl und altehrwürdigen Glocken verbirgt. Glocken sind vielseitige Kulturdenkmäler der Vergangenheit. Sie geben Auskunft über das musikalische, bildnerische und sprachliche Empfinden unserer Ahnen; sie dienen heute wie vor 720 Jahren dem gleichen Zweck — veraltern können sie nie.