Die Gerste in der Geschichte und im Leben der Völker
VON DR. V. BRANDENBURGER
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Die Gerste ist eine der ältesten, wenn nicht die älteste unserer Kulturpflanzen überhaupt. Sie stammt vermutlich aus Afrika und hier wahrscheinlich aus Abessinien, wo auch heute noch eigenartige Kulturgersten anzutreffen sind. Infolge ihrer geringen Ansprüche an das Wasser, ihrer kurzen Vegetationszeit und Anpassungsfähigkeit an die Wärme ist sie fast über alle Länder der Erde in mehr oder weniger starkem Maße verbreitet. Sie gedeiht noch in Gebieten mit nur 370 bis 400 mm Jahresniederschlag und kommt bei 5 bis 10° C Bodenwärme ebensogut voran wie bei 30° C. Die Gerste findet sich von allen Getreidearten am weitesten im Norden. Ihre Polargrenze ist deshalb gleichbedeutend mit der Polargrenze des Getreidebaues überhaupt. In den Subtropen des östlichen und südlichen Mittelmeergebietes ist die Gerste sehr stark verbreitet; aber auch in weiten Gebieten Südrußlands, in Tibet, in Nord- und Südamerika und in Australien ist sie anzutreffen. Auch dringt sie von allen Getreidearten am höchsten ins Gebirge vor. In den Alpen gedeiht Gerste bis 1900 m, im Kaukasus bis 2700 m und in Tibet bis 4700 m Höhe. Die Gerste ist sehr vielgestaltig und formenreich. Es gibt Sommer-, Winter- und Übergangsformen, sechszeilige, vierzeilige und zweizeilige bespelzte und Nacktgersten. Innerhalb der einzelnen Formen lassen sich weiße, schwarze und blaue Gersten unterscheiden. In Ägypten ist von den ältesten Zeiten an eine sechszeilige, eine vierzeilige und eine Nacktgerste bekannt. Ursprünglich war die Gerste in diesem Land neben der Hirse die Hauptbrotfrucht. Auch brauten die alten Ägypter aus Gerste eine Art Bier, das den Wein ersetzte. In der Literatur wird über das altägyptische Bier und das Biertrinken folgendes berichtet: „Das Berauschen in Bier scheint schon in den ältesten Zeiten bei Vornehm und Gering, bei Alt und Jung ein weitverbreitetes Übel gewesen zu sein, denn gar zu häufig ertönt aus dem Munde weiser Philosophen die Warnung vor übermäßigem Biergenuß: Versitz nicht im Bierhaus die Zeit und Übles vom Nächsten darfst Du im Rausche nicht reden. Denn fällst Du zu Boden und brichst Dir die Glieder, reicht keiner Dir die Hände zu helfen.“ Zu erwähnen wäre noch in diesem Zusammenhang, daß die alten Ägypter ihrem Bier zur längeren Haltbarkeit einen Bitterstoff, ähnlich wie unseren heutigen Hopfen, zusetzten. Im Alten Testament wird berichtet, daß die Hebräer neben Weizen in der Hauptsache Gerste angebaut haben. Gerste war neben der Brotfrucht auch Hauptfutterpflanze für Pferde und Esel. Gerstenbrot scheint geradezu das Symbol des israelitischen Bauern und des niederen Volkes gewesen zu sein. Der Opferkult in Israel kannte aus dem Pflanzenreich nur Gerste, Weizen, Wein und Öl. Bei Ausgrabungen in der Umgebung von Jaffa und Jerusalem und noch an anderen Orten fand man in fast allen Schichten Gerste, und ?war neben Weizen und Hülsenfrüchten — ein Beweis dafür, daß die Gerste im ganzen Land verbreitet war. Im alten Babylon stand ebenfalls unter den Getreidearten die Gerste an erster Stelle. Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß sie roh gegessen wurde wie auch zu Brot verbacken, das Hauptnahrungsmittel darstellte. Funde bei Ausgrabungen, die auf das Jahr 250 v. Chr. zurückgehen, deuten darauf hin, daß es sich bei den Babyloniern nicht um eine Wildgerste, sondern schon um eine Kulturform gehandelt haben muß. In Ostasien ist die Gerste ebenfalls eine alte Kulturpflanze. Sie zählte dort von jeher zu den fünf heiligen Pflanzen, die der Kaiser bei festlichen Anlässen selbst aussäte. Während früher in Ostindien die Gerste neben dem Reis die Hauptgetreideart war, ist sie heute durch den Weizen in ihrer Verbreitung sehr stark eingeengt. Der römische Geschichtsschreiber Plinius spricht von dein großen Gerstenanbau Indiens: „Die Inder besitzen eine Saatgerste und eine Wildgerste, woraus bei ihnen ein gutes und nahrhaftes Brot hergestellt wird. Am meisten erfreuen sie sich des Reises, aus welchem sie ein berauschendes Getränk herstellen, welches die übrigen Menschen aus Gerste bereiten.“ Die Sprachvergleichung in den indogermanischen Sprachen deutet mit Sicherheit darauf hin, daß die Gerstenkultur dem indogermanischen Volk bereits vor ihrer Trennung in asiatische und europäische Indogermanen bekannt, und daß sie damals das wichtigste Getreide war. Man nannte sie „gherzda“. Daß die Kultur der Gerste sehr weit in das Altertum zurückreicht, ist schon in dem Umstand zu erblicken, daß das Gerstenkorn bei sehr vielen Völkern als das kleinste Maß für Gewicht und Länge benutzt wurde. Interessant ist auch, daß von den meisten europäischen Völkern die kleine Geschwulst über dem Augenlid als Gerstenkorn bezeichnet wird. Bei den alten Griechen war die Gerste ebenfalls Hauptgetreideart; sie verlor jedoch später durch den Weizen an Bedeutung. Nach der Überlieferung sollen die Götter den Menschen als erste Nahrung die Gerste gegeben haben. In späterer Zeit, nachdem die Griechen den Weizen als Nahrungsmittel mehr schätzten, wurde nach althergebrachter Sitte die Gerste beim Opferkult dennoch weiter verwendet, wie Homer (Odyssee III, 444—450) berichtet: „Der Vater wusch zuerst sich die Hände, und streute die heilige Gerste, flehte dann zu den Athenen, und warf in die Flammen das Stirnhaar. Als sie jetzt gefleht und die heilige Gerste gestreut, trat der mutige Held Thrasymedos näher und haute zu; es zerschnitt die Axt die Sehnen des Nackens, und kraftlos stürzte die Kuh in den Sand.“ Die Sieger der eleusinischen Kampfspiele erhielten als Preis ein Maß Gerste, und den Kranz der Demeter bildeten Gerstenähren. Wenn im alten Athen Feste gefeiert wurden, steuerte jede Familie ein Maß Gerste bei. Die Gerste wurde von den alten Griechen geröstet, grob geschrotet, mit Wasser zu einem Brei vermengt und nach Zugabe von Olivenöl verzehrt. Diese Mahlzeit wurde auch noch in späterer Zeit zubereitet, als schon längst aus Gerste Brot gebacken wurde. Es ist anzunehmen, daß die Gerstenkörner zuerst roh oder geröstet gegessen wurden und erst viel später aus ihnen Mehl gewonnen und Brot gebacken wurde. Bei zahlreichen Ausgrabungen fand man Skelette und daneben Töpfe, gefüllt mit Gerste. Man gab den Toten Gerste als Wegzehrung auf die Reise mit ins Grab. Die Römer bauten eine zweizeilige Sommergerste und eine sechszeilige Wintergerste an. Die zweizeilige Gerste war wegen ihres Gewichtes und ihres hellen Mehles sehr geschätzt, mit Weizen vermischt ergab sie ein ausgezeichnetes Mehl für den Hausgebrauch. Auf alten römischen Münzen findet sich die Gerste häufig abgebildet. Als Brotgetreide hatte sie in Italien in ältester Zeit eine sehr große Bedeutung. Allmählich wurde die Gerste auch liier von dem Weizen verdrängt. Der vornehme Römer aß später Gerstenbrot nur noch in der Not, im übrigen blieb die Gerste die Nahrung der unteren Klassen. Wenn die Soldaten im römischen Heer die Schlacht verloren, erhielten sie zur Strafe Gerstenbrot. Die älteste Form der Gerste dürfte auf Grund zahlreicher Funde die sechszeilige gewesen sein. Die zweizeilige Gerste ist eine Kulturform der Mittelmeerländer und spielte bereits schon bei den Römern im Sommergetreidebau eine wichtige Rolle. Die Römer brachten wahrscheinlich auf ihren Kriegszügen die Gerstenkultur nach Gallien (Frankreich), dann nach England und Deutschland. Die vierzeilige Gerste tritt in Schriften des 16. Jahrhunderts erstmalig m Erscheinung. Sie hat im Laufe des Mittelalters und der Neuzeit gemeinsam mit der zweizeiligen Sommergerste die früher in Mittel- und Nordeuropa allein herrschende sechszeilige Gerste fast restlos verdrängt.
Bei unseren Vorfahren, den Germanen, diente die Gerste als Brotgetreide und viel zur Opfergabe. Mancher alte Brauch erinnert auch heute noch daran. Tacitus erwähnt die Verwendung von Gerste und Weizen zur Bierherstellung in Germanien. Man hat also in den ältesten Zeiten nicht nur bei den alten Kulturvölkern, sondern auch bei uns schon dem edlen Gerstensaft gehuldigt.
Obwohl die Gerste wegen ihrer Besonderheiten schon in grauer Vorzeit auf der ganzen Erde verbreitet war und in der Geschichte und im Leben der Völker eine sehr wichtige Rolle gespielt hat, ist sie auch in der Gegenwart noch fast überall anzutreffen. Im hohen Norden und in verschiedenen südlichen Landern liefert die Gerste noch für viele Menschen das tägliche Brot, darüber hinaus ist sie bestes Futtergetreide und dient zur Herstellung von Graupen, Grützen und Getränken. In Mitteleuropa haben sich auf Grund besonders geeigneter Kulturverhältnisse engumgrenzte Gebiete entwickelt, in denen der Anbau der zweizeiligen Sommergerste zu Brauzwecken eine beachtliche Rolle spielt.
Infolge der günstigen Entwicklung der Gesamtwirtschaft seit der Währungsreform ist der Bierverbrauch in der Bundesrepublik auf das Dreifache angestiegen. Die Erzeugung von Braugerste in den letzten Jahren zeigt zwar auch eine starke Zunahme, konnte aber bisher mit dem rasch ansteigenden Bierkonsum nicht Schritt halten. Es besteht daher heute bei dem Rohstoff Braugerste eine erhebliche Bedarfslücke, die durch Einfuhren aus dem Ausland gedeckt wird. Da in den alten geborenen Braugerstengebieten eine weitere Flächenausdehnung aus naheliegenden Gründen nur in den seltensten Fällen möglich ist, wird in neuerer Zeit angestrebt, den Sommergerstenbau in beträchtlichem Umfange auch auf solche Gebiete auszudehnen, die bisher dafür nicht geeignet erschienen. Die neueren Zuchtsorten, richtige Anbautechnik und zweckentsprechende Düngung lohnen den Anbau der Sommergerste zu Brauzwecken auch auf den ärmeren Böden in den Höhenlagen des Kreises Ahrweiler.