„Die Gegend ist drei Ausrufezeichen werth“ – Friedrich Nietzsche im Rheinland
Die Gegend ist drei Ausrufezeichen werth“
Friedrich Nietzsche im Rheinland
Rainer Henseler
Im September des Jahres 1864 tritt ein junger Mann aus Naumburg/Saale seine erste längere Bahnreise an. Sie führt ihn ins Rheinland. Wenige Tage zuvor hat er sein Abiturexamen bestanden und nun fährt er mit großen Erwartungen dem Rhein und seiner Zukunft als Student der Universität Bonn entgegen.
Sein Name ist Friedrich Nietzsche, jener Nietzsche, den wir heute zu den bedeutendsten europäischen Philosophen zählen und dessen Geburtstag sich am 15. Oktober 1994 zum 150. Male jährte.
Anschaulich beschreibt uns der junge Student Nietzsche seine Eindrücke vom Rheinland zur damaligen Zeit, und berichtet dabei auch von Ausflügen, die er in den Kreis Ahrweiler unternimmt. Doch bevor Nietzsche in Bonn sein Studium beginnt, trifft er in Elberfeld seinen Schulfreund Paul Deussen und fährt mit ihm Rheinaufwärts zu dessen Eltern in den Westerwald. Der Freund erinnert sich später an einen Aufenthalt in Königswinter: „Wir ließen uns, von Wein und Freundschart trunken, trotz der Beschränktheit unserer Mittel dazu überreden, Pferde zu nehmen und auf den Drachenfels hinaufzureiten… Noch toller trieben wir es am späten Abend. Wir zogen… durch die Straßen des Städtchens, um Mädchen, die wir hinter den Fenstern vermuteten, Ovationen darzubringen, bis ein Mann aus der Tür stürzte und uns unter Schmähworten und Drohungen verjagte.“ Am nächsten Tag geht die Reise weiter nach Ober-dreis, hier verbringen die Freunde ihr „harmloses Dasein in der reinen Bergluft des Wester-waldes.“ Über seine ersten Eindrücke im Rheinland schreibt Nietzsche an seine Mutter: „Unsere Rheinreise war kostbar, nimm das Wort, wie Du willst, es trifft immer. Ich habe diese Tage schon wieder Sehnsucht empfunden nach diesem grünwogigen prachtvollen Strom.“ „Meine Anschauungen über Volksleben- und Sitten bereichern sich täglich.“ Schon in Elberfeld bemerkt Nietzsche an den Frauen „ihre besondere Vorliebe für frommes Kopfhängen“ und „die jungen“, bemerkt er, „tragen sich sehr elegant mit Mäntelchen mit scharter Taille.“ Die Mädchen in Oberdreis findet er zwar „nicht schön“, aber gutmütig und alle sehr fleißig“. Am 12. Oktober berichtet er: „Gestern war bei der Pfarre das sogenannte „Schlör“, bei dem der Flachs gebrochen und geschwungen wird. Neulich bin ich auch bei einer Bauernkindtaufe gewesen, wo es wie immer Kaffee und Kartoffeln gab. Davon leben die Leute überhaupt hier.“ Drei Tage später feiert man Nietzsches 20. Geburtstag und dann, so erinnert sich Deussen, „stiegen wir von dem Gebirge des Westerwaldes in das Rheintal nach Neuwied hinab, von wo der Dampfer in wenigen Stunden nach Bonn führte.“
Der Rolandsecker Bahnhof mit dem Drachenfels. 1864 besuchte Nietzsche die Gegend.
Friedrich Nietzsche (1844 – 1900), Zeichnung Rainer Henseler
Nicht weit von Beethovens Geburtshaus findet Nietzsche in der Bonngasse 518 eine Studentenbude. „Ich glaube sehr zufrieden sein zu können“ bemerkt er dazu, „monatlich 5 Thai. Miete. Sehr schönes Haus… Es ist mir sehr lieb, bei meinen Wirtsleuten essen zu können für 5 Srg. sehr gute Hausmannskost, Suppe, Gemüse und Fleisch.“ Doch Nietzsche kann sich an die Küche nicht gewöhnen und meldet einige Wochen später nach Hause: „Außerdem muß ich jetzt gestehen, daß die rheinische Kost mir auf die Dauer gar nicht behagen will. Mein Appetit für dieselben nimmt bedeutend ab.“ Neben dem philologischen Studium gilt Nietzsches große Leidenschaft der Musik. Er mietet sich ein Klavier und komponiert in Hochgefühl seiner ersten Monate in Rheinland zahlreiche Lieder. Er tritt dem Bonner Gesangverein bei, besucht häufig Theater- und Konzertveranstaltungen und er beschließt zusammen mit Deussen der Burschenschaft Frankonia beizutreten. Um das „Leben kennen zu lernen“, und wie er selbst sagt, um „das zu werden, was man einen flotten Studenten nennt,“ gibt sich Nietzsche dem fröhlichen, freien Treiben des Verbindungslebens hin. Man feiert gemeinsam Kneipen, hält Vortragsabende und übt sich in der Fechtkunst. Zudem unternehmen die Frankonen gerne Ausflüge in die weitere Umgebung Bonns. Im Oktober 1864 fahren sie nach Rolandseck und Nietzsche ist begeistert:
„Die Gegend ist prachtvoll, und wir haben einige sehr schöne Tage gehabt. Gestern fuhren die Frankonen nach Plittersdorf, dort war Kirmes, und es wurde tüchtig getanzt, bei einem Bauer Most getrunken; Abends ging ich mit einem Frankonen…den Rhein entlang nach Bonn zurück; auf den Bergen waren Weinlesefeuer. Ihr glaubt nicht, wie schön alles ist.“ Auch den anderen muß es in Rolandseck gut gefallen haben, denn die Frankonen halten dort am 11. und 12. Dezember ihr Stiftungsfest ab. Nietzsche berichtet uns davon: „Gestern war großer Commersabend mit…unendlichen Bowlenströmen; Gästen aus Heidelberg und Göttingen; mehrere Professoren…Die Gemütlichkeit war eine herrliche, erhebende…Heute Mittag ist großer Auszug durch die Hauptstraße mit Paradeanzügen und fabelhafter Rennomage. Dann fahren wir mit dem Schiff nach Rolandseck, dort ist großer Diner in Hotel Croyen.“ Das Fest findet in der Rheinfahrt nach Rolandseck seinen Höhepunkt und voller Begeisterung schildert Nietzsche seine Eindrücke. „Wir haben ein wunderschönes Wetter gehabt, der Auszug mit schöner Husarenmusik machte großes Aufsehen, der Rhein hatte die schönste blaue Farbe, wir hatten Wein mit auf dem Dampfschiff genommen. Wie wir nach Rolandseck kamen, wurden Böller zu unserem Empfang gelöst. Wir tafelten nachher bis gegen 6 Uhr, waren ausnehmend vergnügt und sangen viele selbstverfaßte unsinnreiche Lieder. Draußen war es Dämmerung geworden, der Mondschein lag auf dem Rhein und beleuchtete die Gipfel des Siebengebirges, die aus dem bläulichen Nebel hervortraten.“ Nach dem Essen saß Nietzsche mit einem Verbindungsbruder zusammen: „Wirblieben bei einem edlen Rheinwein, während die anderen Champagnerbowle tranken. Die Gegend ist dort wirklich drei Ausrufezeichen werth, besonders die reizende Insel Nonnenwörth, auf der ein Mädchenpensionat ist; darüber ragt der Drachenfels, diese mächtige steile Felswand. Der Ort macht den Eindruck tiefer Ruhe. -„
Dieser Ausflug nach Rolandseck und die schöne Landschaft blieben Nietzsche unvergeßlich, er erwähnt ihn noch nach Jahren, als er 1872 als Professor in Basel seine Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten“ hält. Dort schildert er nochmals die Rheinfahrt, wie er sie in Erinnerung behalten hat: „Es war eine jener vollkommenen Tage, wie sie, in unserem Klima wenigstens, nur eben diese Spätsommerzeit zu erzeugen vermag: Himmel und Erde im Einklang ruhig nebeneinander hinströmend, wunderbar aus Sonnenwärme, Herbstfrische und blauer Unendlichkeit gemischt. Wir bestiegen, in buntesten, phantastischen Aufzuge, an dem sich der Trübsinnigkeit aller sonstigen Trachten, allein noch der Student ergötzen darf, ein Dampfschiff, das zu unseren Ehren festlich bewimpelt war, und pflanzten unsere Verbindungsfarben auf seinem Verdeck auf. Von beiden Ufern des Rheins ertönte…ein Signalschuß, durch den nach unserer Anordnung ebenso die Rheinanwohner als vor allem unser Wirt in Rolandseck über unser Herankommen benachrichtigt wurde. Ich erzähle nun nichts von dem lärmenden Einzug, vom Landungsplatze aus, durch den aufgeregt-neugierigen Ort hindurch, ebensowenig von den nicht für jedermann verständlichen Freuden und Scherzen, die wir uns untereinander gestatteten; ich übergebe ein allmählich bewegtes, ja wild werdendes Festessen und eine unglaubliche musikalische Produktion, an der sich, bald durch Einzelvorträge, bald durch Gesamtleistungen die ganze Tafelgesellschaft beteiligen mußte, und die ich…früher einzustudieren und jetzt zu dirigieren hatte.“
Nietzsches jugendliche Begeisterung für das Burschenleben, wie es noch in diesem späteren Bericht anklingt, läßt in den folgenden Monaten nach. An musikalischen Veranstaltungen ist er lebhaft beteiligt, doch die wilden Bierabende der Burschen behagen ihm weniger. Er zieht es daher vor, in kleinem Kreise zusammenzusein, zu diskutieren, zu singen und abends einen „feurigen Walporzheimer“ zu genießen.
Nach nur zwei Semestern beendet Nietzsche im August 1865 seinem Studienaufenthalt im Rheinland und fährt nach Leipzig.
Literatur:
Nietzsche. Friedrich, Sämtliche Briefe, Kritische Studienausgabe, Bd. 2, München 1986
Althaus, Horst, Friedrich Nietzsche. Eine bürgerliche Tragödie, München 1985
Deussen, Paul, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche, Leipzig 1901
Janz, Curt Paul, Nietzsche. Biographie. Bd. 1, München 1978 Scheuren, O.F., Friedrich Nietzsche als Student, Bonn 1923