Die Fastenpredigt des Weihbischofs
VON JOHANN WOLFGANG VON GOETHE
Nachdem der Weihbischof das Laster der Trunkenheit in seiner Fastenpredigt gegeißelt hatte, schloß er:
„Ihr überzeugt euch also hieraus, andächtige, zu Reu und Buße schon begnadigte Zuhörer, daß derjenige die größte Sünde begeht, welcher die herrlichen Gaben Gottes solcherweise mißbraucht. Der Mißbrauch schließt aber den Gebrauch nicht aus. Steht doch geschrieben: Der Wein erfreuet des Menschen Herz! Daraus erhellt, daß wir, uns und andere zu erfreuen, des Weins gar wohl genießen können und sollen. Nun ist aber unter meinen männlichen Zuhörern vielleicht keiner, der nicht zwei Maß zu sich nähme, ohne deshalb gerade einige Verwirrung seiner Sinne zu spüren; wer jedoch bei dem dritten oder vierten Maß schon so arg in Vergessenheit seiner selbst gerät, daß er Frau und Kinder verkennt, sie mit Schelten, Schlägen und Fußtritten versetzt und seine Geliebtesten als Feinde behandelt, der gehe sogleich in sich und unterlasse ein solches Übermaß, welches ihn mißfällig macht Gott und den Menschen und seinesgleichen verächtlich.
Wer aber bei dem Genuß von vier Maß, ja von fünfen und sechsen noch dergestalt sich selbst gleich bleibt, daß er seinem Nebenchristen liebevoll unter die Arme greifen mag, dem Hauswesen vorstehen kann, ja die Befehle geistlicher und weltlicher Obern auszurichten sich imstande findet: auch er genieße sein bescheiden Teil und nehme es mit Dank dahin! Er hüte sich aber, ohne besondere Prüfung weiter zu gehen, weil hier gewöhnlich dem schwachen Menschen ein Ziel gesetzt wird. Denn der Fall ist äußerst selten, daß der grundgütige Gott jemandem die besondere Gnade verleiht, acht Maß Bier trinken zu können, wie er mich, seinen Knecht, gewürdigt hat. Da mir nun aber nicht nachgesagt werden kann, daß ich in ungerechtem Zorn auf irgend jemand losgefahren sei oder wohl gar die mir obliegenden geistlichen Pflichten und Geschäfte verabsäumt hätte, vielmehr ihr alle mir das Zeugnis geben werdet, wie ich immer bereit bin, zu Lob und Ehre Gottes, auch zu Nutz und Vorteil meines Nächsten mich tätig finden zu lassen: so darf ich wohl mit gutem Gewissen und mit Dank dieser anerkannten Gabe mich auch fernerhin erfreuen. Und ihr, meine andächtigen Zuhörer, nehme ein jeder, damit er nach dem Willen des Gebers am Leibe erquickt, am Geiste erfreut werde, sein bescheiden Teil dahin! Und auf daß ein solches geschehe, alles Übermaß dagegen verbannt sei, handelt sämtlich nach der Vorschrift des heiligen Apostels, welcher spricht: Prüfet alles, und das Beste behaltet.“