die drei kreuze
VON WILHELM LANGEWISCHE
Drei Kreuze standen auf Golgatha,
Drei Kreuze stehen auch heute noch da,
Und ist seitdem vergangen kein Tag,
Auf dem nicht dunkel ihr Schatten lag. —
Und jede Zeit sprach zu jeder Zeit:
„Wir hangen am Kreuze, dem Tode geweiht.
Wir hangen am Kreuze, wir armen Schacher,
Zur Rechten ein frommer, zur Linken ein frecher,
Wer aber ist der gekreuzigte Dritte?
Wen trägt das ragende Kreuz in der Mitte?
Ist er ein Träumer, ein Tor, ein Nichts?
Ist er ein siegendes Wunder des Lichts?
Ist er ein Sinnbild aus alten Zeiten?
Ist er ein König der Ewigkeiten?
Ist er ein tönernes Ziel allen Spottes?
Ist er der Sohn des lebendigen Gottes?“ — —
Und jede Zeit hat um solche Fragen
Tausend und Tausend ans Kreuz geschlagen . . .
Drei Kreuze standen auf Golgatha,
Drei Kreuze stehen auch heute noch da,
Und wessen Augen erblicken die drei,
Den lassen sie nimmer und nimmermehr frei,
Dem tritt entgegen ihr Bild, ihre Frage,
Auf jedem Weg und an jedem Tage.
Er schließt die Augen, er wendet den Schritt —
Das Bild und die Frage der Kreuze geht mit:
„Was ist dir das Kreuz in der Mitte, das eine?
In welchem der ändern erkennst du das deine?“
Und schwankt er, die Frage bedrängt ihn beständig,
Und schweigt er, die Frage bleibt wach und lebendig:
„Was ist dir das eine? Sprich, welches der beiden
Erwählst du als deines? Du mußt dich entscheiden!“
Eine frühe und fröhliche Antwort ist Gnade . . .
Dir naht schon der Abend auf dunkelndem Pfade.
Erwäg‘ es, o Seele, und antworte doch,
Auch dich sucht ein seliges: „Heute noch!“
Kreuzigungsgruppe am Kloster Kalvarienberg
Foto: Vollrath, Ahrweiler