Die drei Bäume in Hain. Meine Begegnungen mit dem Bildhauer Gerhard Marcks (1889 – 1981)
Zuerst lernte ich einige seiner Arbeiten kennen. Ich hatte mein Studium an den Kölner Werksschulen im Frühjahr 1949 begonnen und war fasziniert und begeistert von den großen Abenteuern der Kunst in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in der NS-Zeit als „entartet“ eingestuft und zumal uns jungen Menschen vorenthalten worden waren. Zu einer meiner ersten, wenn auch nicht der aufregendsten Begegnungen mit der Moderne gehörte eine Ausstellung von Werken des Bildhauers Gerhard Marcks in der Kölner Hahnentorburg. Dort standen u. a. für einen jungen Mann wie mich von besonderem Reiz die herrlichen Bronzefiguren schlanker Mädchen in stiller Grazie. Die eine, einen Apfel in der Hand, wohl eine Eva; eine andere das Ende ihres Zopfes spielend haltend. Und an den Wänden der Ausstellung hingen die so typischen, leicht mit dem Bleistift hingeschriebenen Zeichnungen ähnlicher Motive.
Es gibt aus meiner Studienzeit einige Blätter, in denen die Nachwirkung dieser Begegnung mit Werken von Gerhard Marcks noch sichtbar ist.
Mitte der 1950er Jahre lernte ich dann den Meister persönlich kennen. In seinem Köln-Müngersdorfer Atelierhaus fand sich einmal im Monat – jeweils am ersten Donnerstag – so wie ich mich erinnere – ein Kreis meist junger Maler, Bildhauer und Architekten ein zum Gespräch mit dem Meister bei Tee und Keksen. Alkohol, Kaffee und Tabak waren tabu. Ich durfte einige Male dabei sein und hörte gebannt zu, wenn der große Mann erzählte. Der Kontakt ging verloren, denn andere Kunstaspekte fanden mein besonderes Interesse. Unvergesslich die erste große Picasso-Ausstellung in Köln-Deutz und die vielen Erlebnisse mit der abstrakten und experimentellen Kunst.
Erst viele Jahre später, 1974, sah ich Gerhard Marcks wieder, und zwar in Hain in der Eifel.
Ich hatte dort eine Zweitwohnung gemietet und blickte vom Balkon auf das Marcks’sche Haus. Es stand in kaum mehr als 50 m Entfernung, damals noch ganz einzeln und frei an einem unbefestigten Weg.
Da Gerhard Marcks sein Haus hier in der Eifel nur zeitweilig bewohnte und ich meine Wohnung nur an Wochenenden, sah ich ihn nur einige Male und dann vor allem beim Zeichnen im Freien. Ich wagte dann kaum mehr als einen guten Tag zu wünschen, denn vom eigenen Arbeiten wusste ich, wie lästig eine Unterbrechung beim konzentrierten Zeichnen ist. Wenn mir dabei jemand zusieht, lege ich den Stift gleich zur Seite.
Obwohl kein rechter Kontakt mit Gerhard Marcks zustande kam, stellte sich aber heraus, dass etwas, den meisten Menschen wohl völlig Unauffälliges, unser beider Interesse und Aufmerksam hatte.
Am östlichen Dorfrand zwischen einem Wäldchen, „Lenner Büschelche“ genannt, und dem Marcks-Haus standen auf einem schmalen Wiesenstreifen von Acker umgeben drei ältere Obstbäume, welche die für die Natur so verheerende Flurbereinigung überlebt hatten.
Immer wieder, wenn ich in meiner Wohnung in Hain war, ging mein Blick zu diesen Bäumen hinüber. Ich erlebte mit ihnen die Jahreszeiten, sah sie grün, goldbraun und im Winter kahl und schwarz erstarrt. Im Frühjahr hielt ein Turmfalkenpaar Hochzeit in der Krone des einen, baute im mittleren sein Nest und zog Jahre später um zum „Professor“, wie die Hainer Gerhard Marcks nannten, in den Eulenkasten, den er am Ostgiebel seines Hauses aufgehängt hatte. Dort wohnten die Falken jahrelang und zogen manche Brut auf.
Dann aber geschah etwas, das an einer entscheidenden Wende meines Lebens als kleines Mosaiksteinchen Anteil hatte. Ich war damals schon einige Jahre alkoholabhängig. Es war mir schon nicht mehr möglich, den Tag ohne die flüssige Droge zu beginnen, wenn ich nicht zusammenbrechen wollte.
Es war an einem Wintermorgen und ich sah – noch halb wirr und halb blind vom vortäglichen Alkoholkonsum zum Fenster hinaus zu den drei Bäumen hinüber. Ich sah, da saß Gerhard Marcks (Jg. 1889), fast doppelt so alt wie ich, auf einem Hocker im Schnee, eine Decke um die Schulter gelegt und zeichnete die drei Bäume mit ihrem winterlichen schwarzen Geäst. Mit unbarmherziger Deutlichkeit zeigten mir seine Anwesenheit und sein konzentriertes Arbeiten zu so früher Stunde eines kalten Wintertags, was durch die Sucht aus meinem Leben geworden war.
Es war der Schrecken dieser Einsicht und diese Demütigung, die zusammen mit vielen anderen kleinen und großen Niederlagen mich dann zwei Jahre später bereit machten, mir helfen zu lassen und mich vom Zwang der Sucht zu befreien. In einer Fachklinik im Brohltal fand ich den Grundstein für ein trockenes und wieder positiv abenteuerliches Leben.
Das war vor 26 Jahren. Und nun zeichne ich selbst Blatt um Blatt und mit klarem Kopf, zwar nicht vor der Natur, aber doch mit Bezug zur Eifellandschaft und ihren Menschen.
Und immer wieder kommt mir ein Gedanke der Dankbarkeit an Gerhard Marcks für sein „Vorbild“. Nie hat der große Mann erfahren, der 1981 in Burgbrohl starb, was er bei mir angerichtet, besser gesagt ausgerichtet hat an jenem Wintertag des Jahres 1976.
Die drei Bäume mussten kürzlich zur Errichtung eines Parkplatzes weichen.
„Die drei Bäume“: Lithographie von Gerhard Marcks
Das Ehepaar Gerhard und Maria Marcks in Hain, 1979
Für Gerhard Marcks ist in Hain eine Gedenktafel mit folgendem Wortlaut geplant:
GERHARD MARCKS 1889 – 1981EINER DER GROSSEN BILDHAUER DES 20. JAHRHUNDERTS VERBRACHTE SEIT 1974 SEINE LETZTEN LEBENSJAHRE ÜBERWIEGEND IN SEINEM HAUS IN HAIN. HIER ENTSTAND EIN BESONDERES ZEICHNERISCHES UND MALERISCHES WERK MIT MOTIVEN DES DORFES HAIN, DER BURG OLBRÜCK UND DER EIFELLANDSCHAFT. |