Die Brüder Grimm sammeln Märchen und Sagen
Im Jahre 1812 erschien die l. Ausgabe der „Kinder und Hausmärchen“ der Gebrüder Grimm. Die Herausgeber schöpften dabei aus mündlichen und schriftlichen Quellen. In den Jahren 1812 bis 1859 erschienen zehn kleine und sieben große Ausgaben, die mit ihren ständigen stilistischen Umarbeitungen die Entwicklung eines Künstlers offenbaren wie wenige Werke der Weltliteratur.
Und auch heute noch lauschen die Kinder und alle Menschen mit einem kindlichen Gemüte gern dem Erzähler eines Grimmschen Märchens, denn Märchen sollen möglichst vorerzählt werden. Wenn wir hier Märchen in Abdruck bringen, so wissen wir, daß dies nur ein schwacher Ersatz ist für das gesprochene Wort, für das Vorerzählen der Märchen.
DIE KORNÄHRE
Vorzeiten, als Gott noch selbst auf Erden weilte, da war die Fruchtbarkeit des Bodens viel größer, als sie jetzt ist: damals trugen die Ähren nicht fünfzig= oder sechzigfältig, sondern vier= bis fünfhundertfältig. Da wuchsen die Körner am Halm von unten bis oben hinauf; so lang er war, so lang war auch die Ähre. Aber wie die Menschen sind, im Überfluß achten sie des Segens nicht mehr, der von Gott kommt, werden gleichgültig und leichtsinnig. Eines Tages ging eine Frau an einem Kornfeld vorbei, und ihr kleines Kind, das neben ihr sprang, fiel in eine Pfütze und beschmutzte sein Kleidchen. Da riß die Mutter eine Handvoll der schönen Ähren ab und reinigte ihm damit das Kleid. Als der Herr, der eben voriiberkam, das sah, zürnte er und sprach: „Fortan soll der Kornhalm keine Ähre mehr tragen; die Menschen sind der himmlischen Gabe nicht länger wert.“ Die Umstehenden, die das hörten, fielen auf die Knie und flehten, daß er noch etwas möchte an dem Halm stehen lassen: wenn sie selbst es auch nicht verdienten, doch der unschuldigen Hühner wegen, die sonst verhungern müßten. Der Herr, der ihr Elend voraus sah, erbarmte sich und gewährte die Bitte. Also blieb noch oben die Ähre übrig, wie sie jetzt wächst.
DER ALTE GROSSVATER UND DER ENKEL
Es war einmal ein ’steinalter Mann, dem waren die Augen trüb geworden, die Ohren taub, und die Knie zitterten ihm. Wenn er bei Tische saß und den Löffel kaum halten konnte, schüttete er Suppe auf das Tischtuch, und es floß ihm auch etwas wieder aus dem Mund. Sein Sohn und dessen Frau ekelten sich davor, und deswegen mußte sich der alte Großvater endlich hinter den Ofen in die Ecke setzen, und sie gaben ihm sein Essen in ein irdenes Schüsselchen, und noch dazu nicht einmal satt; da sah er betrübt nach dem Tisch und die Augen wurden ihm naß. Einmal auch konnten seine zitterigen Hände das Schüsselchen nicht festhalten, es fiel zur Erde und zerbrach. Die junge Frau schalt, er sagte aber nichts und seufzte nur. Da kaufte sie ihm ein hölzernes Schüsselchen für ein paar Heller, daraus mußte er nun essen. Wie sie da so sitzen, so trägt der kleine Enkel von vier Jahren auf der Erde kleine Brettlein zusammen. „Was machst du da?“ fragte der Vater. „Ich mache ein Tröglein“, antwortete das Kind, „daraus sollen Vater und Mutter essen, wenn ich groß bin.“ Da sahen sich Mann und Frau eine Weile an, fingen an zu weinen, holten alsofort den alten Großvater an den Tisch und ließen ihn von nun an