DER ZEITLOSE
Ein Brief an Johannes Mumbauer in die Ewigkeit von Theodor Seiden faden
Jeden Morgen spreche ich mit Ihnen, Verehrter, dem dankbar zu sein meine Pflicht, den Freund nennen zu dürfen mir genugtuende Freude war und sein wird, so lange ich lebe, trotz den mancherlei Wandlungen, die ich seit Ihrem Heimgang ins Ewige, dem 22. Dezember 1930, zu meistern hatte.
Ja: ich spreche mit Ihnen; denn der Linolschnitt des Trierers Hans Adamy, der das Vielgebilde Ihres inneren Reichtumes, den Ihnen, dem Sohne der jahrhundertalten Kreuznacher Dachdeckersippe, gemäßen Humor, dazu die Wehmut des geistig Schauenden über das, „verrückte saeculum“ als Einsheit der Person äußerst empfindsam festhält, hängt in meiner Arbeitstube so, daß der Morgenblick ihm begegnen muß: ob der späte Mond, die frühe Sonne oder das stille Leuchten der Kerze ihn trifft, und Jedesmal erhellt der Lichtschein eine andere Seite Ihres Wesens. Es ist Nacht, die Kerzen spielen hinüber. Sie schenkten mir den Schnitt im Sommer 1927, mir die Vers=Dichtung „Gekrönte Tage“ zu bedanken, die ich Ihnen zum 27. Juli, Ihrem sechzigsten Geburtstage, gewidmet und absichtlich im „Gral“, der Monatsschrift Ihres Gegners Friedrich Muckermann, hatte erscheinen lassen. Heute, dreiunddreißig Jahre nachher, ist jedes Wort Ihres Widmens auf dem wohlgerahmten Blatt „frisch wie am ersten Tage“, sagend: „Th. S. zum Dank für die ,Gekrönten Tage aus ungekrönten lieben Erinnerungen heraus in treuer Freundschaft gewidmet von Johannes Mumbauer.“ Die erwähnte kleine Dichtung hält jene beiden Maitage des Jahres 1922 fest, an dem ich zum erstenmal Gast Ihres sagenumwobenen Piesporter Pfarrhauses sein, den Salon, den Sie in Rom von der Witwe des russischen Klaviervirtuosen und Komponisten Rubinstein erstanden, Ihre Bücherei bewundern und vor Ihnen zu trächtigem Gespräche in dem gefürchteten Sessel, nicht weit von dem kleinen, echten Memling sitzen durfte, derweil Sie an Ihrem Schreibtische saßen und Ihre lebhaften Augen hinter Brillengläsern mich anblitzten, aus dem Wort des Gastes und der Wendigkeit des Geistes seiner Seele nachzuspüren.
Vier Jahre zuvor hatten Sie mich, den damals Schwerverwundeten, aufgefordert, an dem von Ihnen herausgegebenen Almanach „Die goldene Brücke“ mitzuarbeiten, einem jährlich erscheinenden Buche, dessen Name Sinnbild ist für einen Ihrer stärksten Schaffensantriebe: über dem Chaotischen der Zeit jungen und lebensgläubigen Lichtträgern der Mittler in das ersehnte Reich einer neuen Kultur sein zu dürfen! „Das war mein Traum, daß Jugend sich mir zugesellte!“
1915 hatte mir bei einem Nachtmarsche nach Langemarck ein Trierer Kamerad von Ihnen, dem Moselpfarrer, den ich natürlich „literarisch“ kannte, erzählt: von Ihnen, dem „Literaturpapste“! So nannten wir „Jungen“ Sie, Ihre scharfe, rücksichtlos kritische Feder fürchtend, die bemüht war, dem geistig „rückständigen“ katholischen Volksteile, zu dem ich mich zu zählen hatte, schriftstellerische und dichterische Kräfte deutschen Ranges zu wecken. Ich höre den Trierer, der nächsten Morgen fiel, noch verehrend Ihren Namen nennen, mich jedoch antworten: ich würde den Tag segnen, der mir das Glück schenke, Sie persönlich kennenzulernen! Der Brief, der mich dann, drei Jahre später, zur „Goldenen Brücke“ rief, mich, den Unbekannten, den Beginner, der hier und da Gedichte, auch kleine Prosa=Arbeiten vom Felde aus veröffentlicht hatte, war, weil ich, einer angeborenen Scheu zufolge, mich nicht um den Weg zu Ihnen bemüht hatte, ein doppeltes Geschenk.
Was folgte ihm?
Sie brachten in Ihrer „Hausen=Bücherei“ meine ersten Bücher, zwei Prosabändchen und eines mit Gedichten, heraus, nachdem Sie die erste Handschrift zunächst gelobt, dann erbarmunglos verrissen und ich sie, den Beginn meines erzählerischen Sprechens findend, umgearbeitet hatte. Sie sprachen, veranlaßt durch mich, bei einem Bonner Volk-Bildung-Lehrgänge der Landwirtschaftkammer, für die ich, ein Jahr vom Lehramte beurlaubt, tätig war, über die deutsche Bauerndichtung. Ich setzte durch, daß der heute noch lebende Intendant des Bonner Schauspielhauses, der „alte Fischer“, das problematische, von Ihnen ins Deutsche übertragene Schauspiel der Ungarin Renee Erdos, die in Rom, durch Sie beeinflußt, zum Katholizismus übergetreten war, aufführte( („Johannes der Jünger“)1)
Daß ich nach diesem Vorangegangenen die achtundvierzfg Stunden in Ihrem Piesporter Heim an Ihrem „Sechzigsten“ „Gekrönte Tage“ nannte: wer wollte mir verargen, mich ob solchen Tuns und dieses Gedichtes heute noch zu freuen!
Mit ihm aber, dem „Sechzigsten“, bin ich bei Ihnen in dem weiträumigen Pfarrhause Sinzigs, wohin Sie 1925 zogen, nahe der Ahrmündung und dem Rhein, ein Erbe „gebildeter Zeit“ zu hüten: ein Heiligtum2), das nicht errechnete Bauschablone, sondern Dom einer ins Abendländische gewachsenen Volkheit=Seele ist, welche die Polarität von Schöpfer= und Erlösergott in die Einsheit eines Bau=Wunders zwingt. Es erwacht zwar aus der kosmischen Ruhe und Gebundenheit, dem Anbeten eines Objektiven, Absoluten zur Inbrunst eines Subjektiven, aus dem „Romanischen“ zum „Gotischen“, ist jedoch baulich noch völlig steinernes Gebet letzter Größe, dessen Inneres allerdings das neunzehnte Jahrhundert mit Talmi-Blendwerk dergestalt vershandelte. daß Ihr Gewissen fortgesetzt zürnte.
Sie hätten sich, erklärten Sie mir, ob der Sentimentalität Ihres Volkes geschämt, als Sie bei der Einführung=Feier gezwungen gewesen wären, zwischen dem „Kitsch“ zum erstenmal vor der Gemeinde zu predigen: in einer Kirche, deren Äußeres „Dom“ sei! Um so stärker bewegte es Sie, daß ein glücklicher Zufall Sie unter dem Anstrich der Sakristeiwände jenen wohlerhaltenen Zyklus von Wandgemälden aus spätromanisch=frühgotischer Zeit entdecken ließ, die, freigelegt, einen Meister der für das Rheinland typischen Monumentalmalerei offenbarte.
Der Mittag, an dem Sie mich ihn erleben, durch ihn die Erlösung=Geschichte als Künden deutscher Bildekraft einer „Schwellenzeit“ schauen ließen, der Mittag meines ersten Besuches im neuen Pfarrort blieb mir unvergessen. Gemeinsam gingen wir den breiten, romanischen und frühgotischen Friesen, ihren aufgemalten Säulen, dem Rankenwerke, den Blumen, dem hohen Sockel des Raumes mit seinen geometrischen, auf Übereck gestellten Quadraten und Rosetten nach, sahen die Gestalten, die im unruhigen „gebrochenen“ Stile der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts standen und erkannten bei anderen in der Gewandbehandlung bereits vollendet das „Neue“, den gotischen Fluß und das Ausbiegen des Körpers. „Sehen Sie“ — ich höre Ihre zündende Sprache, wie wenn Sie leibhaft neben mir stünden — „der Meister war ein echtes Kind seiner Tage: der wildbewegten Hohenstaufen=Periode, die auf allen Gebieten der Politik und Kultur des Mittelalters die aktivste war. Die Fresken spiegeln die globalen Eindrücke der Zeit, welche die Beziehungen zum Orient, zu Sizilien, zu Byzanz vermittelt hatten. So ruhig und weltabgeschieden der Raum uns anmuten mag: die Stunde, die ihn malerisch schmückte, war leidenschaftlich, hastig, der unseren ähnlich voller Gegensätze und ungelöster Probleme, neben der klassischen Ruhe der Antike, die im Hintergrunde der staufischen Kunst atmet, das Nervöse, Bewegte eines sich auf politischem, wirtschaftlichem und kulturellem Gebiete überstürzenden Geschehens. Das weltbürgerlich Ausgeglichene und die herbe Strenge der Gotik paaren sich der religiösen Innigkeit rheinisch=mittelalterlicher Mystik, die hier vielleicht — so habe Graf Wolff Metternich, der rheinische Konservator, gesagt — zum erstenmal, wenn auch noch dunkel, anklingt.“
Unvergessen wie der Mittag bleibt mir jene ihm folgende Nacht in Ihrem Sinziger Arbeitzimmer, da wir, ergriffen von den Zeichen unserer Zeit, zu einem Glase Ihres geliebten Piesporter Pfarrgutes, von dem Sie sich einen guten Vorrat gesichert hatten, bevor Sie zur Ahr gezogen waren, bei zwei brennenden Kerzen einem ersehnten Maler im Wort „Jüngstes Gericht“ der Gegenwart erstehen ließen. Er habe vor der Gewissensgewalt seines Blickes das Grauen einer Ewigkeit-Stunde festzuhalten, die c’ch, während die Gräber des schrecklichen Krieges noch Blut dampften, in den Taumel des Vergnügens werfe, Tanzsäle und Amüsierstätten schaffe, darin die feisten Fleisch« und Geldmenschen, Schlemmer, Wollüstige, Schieber, Glücksjäger, Profithascher, Diebe, Betrüger aller Schichten sich austobten; er, der Maler, habe sich zu vergegenwärtigen, daß der leidende Handarbeiter, sobald die Revolution ihn nach oben treibe, das sozialistische System nur für die Zeit durchsetze, die notwendig sei, die bisherigen Herren zu stürzen, daß er dann jedoch sich selber zum Klein=Herrn herauf kuriere: in Rußland zum Klein=Bauer, in Deutschland zum Klein=Bürger, daß sich, völlig im Gegensatz zum sozialistischen Willen, ein individualistischer Wille melde; er, der Maler, müsse schauen, daß mehr als die Beziehung „von Mensch zu Mensch“, die von „Mensch und Ding“ krank, sie aber entscheidend sei; die Klage der Völker über die Dinge, mit denen je eines das andere unterzuzwingen suche, schrien grell gegeneinander; die Verdinglichung des Krieges — der Weltkrieg, sei, leider, nicht der letzte Krieg des Abendlandes gewesen — zu fabrikmäßigem Töten, das Herabwürdigen des Menschen zu einem Ding, müsse dieser ersehnte Maler spüren und dazu schauen, daß Wissenschaft immer stärker Fachwissenschaft werde, Naturwissenschaft, Staats=, Rechts-, Gesellschaft=Lehre sich ständig stärker „entphilosophierten“, die Philosophie zu „Erkenntnislehre und Seelenäußerungpsychologie“ schrumpfe, die „Schulweisheit“ den Dichter abwürge, weil sein Seelenflug die Verdinglichung des Menschen hindern wolle; daß die „Verohnmächtigung“ folgen müsse, weil der Seele, dem Göttlichen, das Leiten der Weltdinge entglitte; der Maler müsse fühlen, in welchem Maße Dichtung zur Literatur herabgesunken sei, Dingarbeit das Gleichnis nicht mehr kenne, das vollkommenste Bildemittel aus den heiligen Schriften der Völker; jeder seiner Pinselstriche habe zu glühen von dem Erkennen, daß dieses Weltstreben zu einer völligen Verzweckung der Seele unvorstellbares Verwüsten nach sich ziehen müsse; seine Aufgabe sei gewiß nicht leicht in einer Zeit, welche die Schranken der Ehrfurcht vor der Natur breche und sie zugleich vergöttlichen wolle; doch die Giotto, Michel Angelo, Lochner, Memling und Rubens hätten ihr „Jüngstes Gericht“ aus ähnlichen Schwellenzeiten gestaltet!
Ich weiß nicht mehr, wann wir die Kerzen löschten, ich ins „Fremdenzimmer“, Sie in Ihre Schlafstube stiegen: wohl aber weiß ich, daß ich diese Nacht den Stern=Nächten meines Lebens zuzuzählen habe, ich ohne sie vielleicht meinen „Lebensroman eines Malers“ nicht geschrieben hätte: den „Hans Memling“, der zwölf Jahre nach Ihrem Fortgehen erschien. Soll ich, mit Ihnen sprechend, jenes stillen Nachmittages gedenken, an dem wir von Piesport aus nach Neumagen gingen und dort im Kreise Ihrer Vertrauten eine Musikstunde seltener Versponnenheit um das Werk des längst vergessenen Wiener Komponisten Dittersdorf erlebten? Soll ich berichten, was Sie mir beim abendlichen Heimgange an der Mosel vorbei zum Nachtigallenschlage der Maifreude von Ihrem vierjährigen römischen Aufenthalte erzählten?
Soll ich jene Piesporter Abendstunde festhalten, in der ich auf der Orgel der Piesporter Kirche eine Bachsche Fuge spielte, derweil Sie in der untersten Bank des alten Gotteshauses lauschten und mir, als ich von der Empore kam, ergriffen die Hand gaben?
Soll ich von der Betreuerin Ihres Hauses sprechen, die Ihnen über dreißig Jahre vorbildlich diente, auch noch, nachdem Sie sich von Sinzig aus in Ihrer Vaterstadt zur Ruhe gesetzt hatten, das von Dominikus Böhrn gebaute Eigenheim einrichten konnte, oder soll ich von der Waisen erzählen, die Sie als dreizehnjähriges Mädchen in Ihr Haus nahmen?
Soll ich Ihrer Tätigkeit als Industriekaplan an der Saar gedenken, die Sie mit Franz Hitze und August Pieper, den Volksvereinsmännern, zusammenführte? Soll ich festhalten, was Sie mir von der Koblenzer Versammlung vor der Jahrhundertwende erzählten, bei welcher Franz Hitze zu den Arbeitern sagte, ein neues Jahrtausend breche an und es sei nicht nur Gnade, sondern Pflicht eines jeden Volksgenossen, gläubig an ihm mitzuschaffen?
Soll ich versuchen, jenen Sonntagmorgen aus dem Kloster Heisterbach festzuhalten, an dem ich vor Ihnen und einem kleinen Kreise Erlesener — Anton Keinen war unter Ihnen, der von Ihnen und mir so verehrte Volk=Bilder — die Beziehungen zwischen Dichtung und Volk=Bildung zu erörtern und Gedanken auszusprechen hatte, die bisher unerfüllt blieben und doch Wurzeln eines Künftigen sind, wenn uns als einem Volke ein solches noch beschieden ist? Soll ich betonen, daß der Kreis, ob er auch aus „Widerstrebenden“ bestand, von denen jeder Einzelne ein scharf umrissenes Gesicht hatte, zuletzt, ohne „Diskussion, ergriffene Einheit war? Soll ich jenen Abend „erinnern“, an dem ich, nahe dem Rhein, im gefüllten Saale der von Ihnen geleiteten Sinziger literarischen Vereinigung über den Unterschied von „Volks* und Volk-Bildung“ sprechen, jene als eine kaum fruchtbare Wissensvermittlung, diese aber als ein notwendiges „Bilden“ aller Schichten zum Volke, zur „Volkheit“, zur „seelisch-geistigen Vision Deutschland“ hin darstellen durfte? Soll ich betonen, wie ich mich damals „geadelt fühlte“, weil ich diese heikle Frage vor Ihrem „souveränen“ Denken in übrigens atemlos lauschender Gemeinde zu erörtern hatte?
Soll ich erzählen, wie ganz Sinzig den „Sechzigsten“ seines berühmten Pastors feierte, im Pfarrhause aber die, von ihm geladenen Gäste, zahlreiche und bedeutende Männer, sich davon überzeugen konnten, in welchem Maße Sie, der Humanist, „volksverbunden“ waren? Soll ich schildern, wie wir an einem Sommernachmittage von Sinzig aus nach Bad Neuenahr fuhren und Johannes Kirschweng besuchten, der dort als Kaplan wirkte, daß wir, indes die Stadt „kürte“, ein ernstestes Gespräch über das Künftige führten: damals, als Kirschwengs Gedichte und mein „Dietrich von Bern“ erschienen waren und Sie, gleich einem geistigen Vater, zwischen zwei so gegensätzlichen „Söhnen“ saßen? Soll ich von Ihrem Wirken als Schriftleiter, Ihrem zwölfjährigen Mühen um das „Belletristische Jahresreferat des Literarisehen Ratgebers für die deutschen Katholiken“, von Ihren Neu-Ausgaben der Schriften Sailers, Kettelerg, des Jeremias Gotthelf, soll ich von Ihren Übersetzungen aus dem Lateinischen, dem Italienischen, dem schon erwähnten Ungarischen, ihrer Mitarbeit an führenden nichtkatholischen Blättern, von der Monographie Ihres Landsmannes sprechen, die unter dem Titel „Maler Müller in Rom“ Aufsehen erregte, soll ich erinnern an Ihre Schriften über „Macchiavellistische Politik“, „Vaterland“, „Allerhand Literaturschmerzen“, hinweisen auf das Gedenkbuch, das Ihnen Dichter, Schriftsteller, Erzieher und Bildende Künstler im Hausen-Verlag des umdrängten Saarlandes erscheinen ließen. Ihren „Sechzigsten“ auch äußerlich zu bekunden! Soll ich Ihrer glänzenden Aufsätze über die Thule=Sammlung gedenken, die bei Eugen Diederichs herauskam und Ihnen den Auftrag zuspielten, die griechischen Kirchenväter der Frühe als andere Groß=Sammlung des vor und nach dem ersten Weltkriege bedeutendsten deutschen Verlages herauszugeben? Soll ich sagen, wie Sie, als Priester Ihrer Kirche, welche diese ,,Väter“ seit dem 10. Jahrhundert indiziert, den Auftrag nicht annehmen konnten, weil Sie „vor einer Tat des Ungehorsames gegen die Kirche“ zurückschreckten? Soll ich sagen, daß Ferdinand Avenarius, der Kunstwart-Herausgeber, der noch für meine Generation eine Fundgrube war, Sie, den katholischen Pfarrer, bat, den Fest-Aufsatz zu einem Luther=Jubiläum zu schreiben und Sie die Aufgabe im volkbildenden Sinne meisterhaft lösten?
Soll ich berichten, daß Ihnen Ihr Klassengefährte und Konabiturient, der evangelische Pfarrer H. Stumpf, in den Kreuznacher Heimatblättern, nachdem Ihr Sterbliches uns verlassen hatte, den edelsten Nachruf schrieb?3)
Sollen wir noch einmal miteinander schmunzeln über die Art, in der Sie mich baten, „am Ahrweiler Heimatkalender“ mitzuarbeiten, in dessen Schriftleitung Sie von 1927 an tätig waren? Muß ich Ihnen wieder gestehen, daß gerade Ihr Humor mich seelisch-geistig der lieben und krausen Ahr verpflichtete und ich fast eine Hymne geschrieben hätte, als für meinen ersten Beitrag, das Märchen „Die Schätze der Johannisnacht“4), die Ahr mir eine Kiste ihres besten Rotweines, veranlaßt natürlich durch Sie, ins Zuckerrübenland schickte, wo ich zu der Zeit wirkte?
Nein — mein Brief sprengte die ihm gesetzten Grenzen, und die Kerzen der Nacht, in der ich ihn schreibe, brennen dem Ende zu.
Lassen Sie mich nur noch Ihrer großangelegten Literaturgeschichte gedenken, von der Sie mir Jahre hindurch erzählten, deren ersten Band Sie noch eben vollenden konnten; ihm danke ich den Titel meines Briefes.
Unter den Worten „Die Zeitlosen“ faßten Sie, der für mich „Zeitlose“, Ihren unbestechlichen Instinkt beweisend, die volkhaften Dichter zusammen, die sich nicht um die Mode, sondern um die notwendige Aussagekraft ihres verwurzelten Seins und Werdens mühen: jene, die sich nie dem Strome zeitbedingter Entwicklungen hingeben, weil die Art ihrer Eigenwilligkeit stark und unbeugsam sein darf und muß und sich jedem, wie auch immer gearteten Herdeninstinkt, der durchaus edel und ehrend sein kann, widersetzt — oder jene, die, getragen von einer immer noch einheitlich=organischen Weltanschauung, einem in sich geschlossenen geistigen Kosmos „keine das Wesen berührende Weiterentwicklung, sondern nur Vertiefung geben können“5). In diesem Kapitel erscheinen M. Herbert, Handel=Mazzetti, Wilhelm Schäfer, Stefan George, Richard Schaukai, Erwin Guido Kolbenheyer, Hermann Stehr, Wilhelm von Scholz, Börries Freiherr von Münchhausen, Lulu von Strauß und Torney, Agnes Miegel.
Sie drucken von der Miegel das weniger bekannte Gedicht „Die Domina“6) ab und bemerken hinter seiner letzten Zeile: „Das sind Verse einer Protestantin. Haben wir von Katholiken katholischere Balladen? Ist nicht edelste, veredelte Menschlichkeit auch das Katholische?“
Dies Wort, Verehrter, ist bezeichnend für Sie, den Bauherrn der „goldenen Brücke“, der bei allem Streitbaren seines Wesens das Einigende in großen volkhaften und menschheitlichen Werten suchte und seine „Jünger“ anhielt, es ihm gleichzutun. Was Schöpfung dort sei, wo kein Gott, vielmehr nur ein Selbst als Schöpfer sich betätige, was eine Erlösung dort sei, wo kein Gott, sondern allein ein Selbst Erlöserwerke übe: so lautete während unserer Sinziger Nacht vom „Jüngsten Gericht“ die letzte, mich heute noch erschütternde Frage. Sie stellten sie, nachdem Sie gemeint hatten, die Gänge durch den Garten des Geistes zu den schönen stillen Dingen seien z. Zt. verschüttet, Ihnen scheine auf dem Lande Luthers, dem Werke Bismarcks, auf der deutschen Geistigkeit der Fluch Gottes zu liegen.
Dieses Wort und die ihm folgende Frage bewiesen mir, mit welcher geistigen Askese Sie, der Sie gern guten Wein tranken, Ihr „Verhängtes.“, die Wirklichkeit eines katholischen Pfarrer=Lebens der aufgewühlten Zeit, zu gestalten versuchten: Sie, den man einen Kulturphilosophen, einen Soziologen, einen Renaissance=Menschen nannte, Sie, der Sie bescheiden behaupteten, kein originaler Denker, sondern nur Vermittler zu sein: Sie, der Sie zutiefst ein großer aufbauender Kritiker waren — im Auseinanderbrechenden Bauherr der „goldenen Brücke“.
Der zweite Weihnachtstag des Jahres 1930, an dem wir Sie in Ihrer Vaterstadt zu Grabe trugen, ich mit Johannes Kirschweng hinter Ihrem Sarge ging, hatte das alte Kreuznach in ein Winternachmittagsmärchen verwandelt. Bei schwacher Sonne fielen helle Schneeflocken, und die Glocken klangen nicht traurig. Ob sie wußten, daß Sie zwei Tage vor Ihrem Tode mit einem Freunde noch Michel=Angelo=Verse aus dem Italienischen übertragen hatten?
Ob die Glocken wußten, daß Ihre letzten Wünsche sich erfüllt hatten: Ansehen, eigenes Heim und Grab in der Vaterstadt?
Ich dachte bei dem stummen Schreiten an jenes Wort Ihres Leitaufsatzes „Warum die Heimatbewegung zur Volksgemeinschaft und zum Staatsvolk führen muß“ aus dem Ahrweiler Kalender des Jahres 1928, mit dem ich diesen Brief dankbaren Erinnerns schließen will.
Sie hatten den Aufsatz zu Karlsbad in Deutsch=Böhmen geschrieben, wo Sie für einige Wochen kürten gegen das Leiden, das Sie so früh, dreiundsechzigjährig, aus gesegnetem Wirken rief. Das Wort aber lautet: „. . . ihnen (den Deutschböhmen) lebt die heimatliche Sehnsucht nach Deutschland . . . Begreiflicherweise spricht man nicht viel davon … und woher stammt diese Sehnsucht, und woher nährt sie sich? Es ist genau derselbe Trieb, der auch uns über die Rhein= und Ahrheimat hinaus zum deutschen Gesamtvolke und zu einer staatlichen Formung und Führung im Deutschen Reiche treibt; das Bewußtsein, daß jedem Stamm und Gau beim Verharren im rein Heimatlichen eine notwendige Ergänzung fehlt, daß Stamm und Gau in der Vereinzelung verkümmern müssen — wie der Zweig abstirbt, wenn er vom Baum getrennt ist, wie die Quelle im Sande verrinnt, wenn sie nicht mündet in großen Strome.“
Glocken der Vaterstadt läuteten, die rnieeflocken fielen, an Ihrem Grabe aber weinte niemand so bitter wie die Waise, die nach dem Tode Ihrer Betreuerin das Hauswesen führte, wohl ob der Güte, die ihr durch Sie die Möglichkeit gegeben hatte, sich in einem Leben treuen Dienens das Wunder wahren Gehaltes zu erarbeiten.
- Matthias Grünewald-Verlag. Mainz 1920.
- Siehe Titelbild der Umschlagseite.
- u. Jahrgang. 8. l. 1931.
- Heimatkalender für den Kreis Ahrweiler 1928.
- Johannes Mumbauer: Die deutsche Dichtung der neuesten Zeit in zwei Bänden. Erster Band, S. 335 ff. Herder Verlag. Freiburg 1931.
- Siehe 5), Seite 460-462.