Der Zehnthof in Sinzig

Ein Beispiel der Denkmalpflege in unseren Tagen

Dieter Schewe

Wer vom Rheintal aus die Ahr aufwärts schaut, dem fällt vor den Ahrbergen, auf einer in die Rheinebene vorspringenden Höhe gelegen, die St. Petrikirche in Sinzig auf. Wenige Schritte von deren Chor entfernt steht, an den Kirchberg angelehnt, also ein volles Stockwerk tiefer, eine quadratische Hofanlage, aus sieben Teilen bestehend. Vom Kirchplatz aus sieht man die Zehnthofstraße hinab auf die ehemaligen Stall- und Wirtschaftsgebäude, das Torhaus und das Wohnhaus (Barockbau) des Zehnthofs. Der Innenhof überrascht durch sein malerisches Gepräge; er wird auf den anderen Seiten durch eine neugotische Villa, einen Saal und eine Orangerie begrenzt, die ihre Schauseiten zum Hang und heutigen Stadtpark zeigen.

I. Zur Geschichte des Zehnthofs

Selten gibt es Gelegenheiten, die deutsche Geschichte beim Wiederaufbau eines Baudenkmals so durchgehend zu verfolgen, wie es am Beispiel des Zehnthofs in Sinzig nach-vollzogen werden kann:

  • Vor dem Torhaus des Zehnthofs in der heutigen Zehnthofstraße lag im 3. Jahrhundert n. Chr. eine römische Villa (entdeckt 1890/1925), von der einige Ziegel beim späteren Bau wiederverwendet worden sind.
  • Als Kaiser Lothar l., der Enkel Karls des Großen, in seinem Todesjahr 855 die Kapelle auf dem Kirchberg in Sinzig mit Land und Leuten dem Reichsstift in Aachen schenkte, wird unter den damals aufgeführten Gebäuden eines wohl auf dem Gelände des Zehnthofs gestanden haben. Das kurze Stück der alten Mauer im Gewölbekeller des Barockbaus könnte aus jener Zeit stammen; es hat jedenfalls die Streitigkeiten zwischen Stift und Adeligen um den Zehnten im 11./12. Jahrhundert miterlebt.
  • Als 1220/40 die heutige Peterskirche gebaut wurde, müssen die Grundmauern des Barockgebäudes und die jetzt wieder aufgedeckten Befestigungsmauern des Kirchhügels, an den sich der Zehnthof anlehnt, schon gestanden haben; einige Kleinfunde am Fuße der Grundmauern lassen darauf schließen.

Allerdings haben sich, wie nicht anders zu erwarten, keine Anhaltspunkte für die vielfach geäußerte Meinung ergeben, daß der Zehnthof auf der königlichen Pfalz erbaut worden sei; vielmehr wird diese eher unter der Peterskirche zu suchen sein. So werden zwar nicht die Hohenstaufen-Kaiser selbst bei ihren gelegentlichen Reisen vom Rhein nach Aachen (vor dem Bau der heutigen Kirche), wohl aber ihr Troß im Zehnthof gerastet haben.

  • In Urkunden wird der Zehnthof erstmalig 1340 erwähnt. Die Folgezeit ist noch zu wenig erforscht.

Pfarrkirche St. Peter und der Zehnthof zu Sinzig um 1920 
Repro: Kreisbildstelle

  • Nachdem 1689 die Franzosen in den Eroberungskriegen Ludwigs XIV. das Schloß gesprengt hatten, wurde der Zehnthof 1697 auf alten Grundmauern aufgebaut, allerdings wohl um ein Stockwerk niedriger als heute und unter Wiederverwendung alter Bauteile.
  • 1740 schließlich wird der Barockbau des Zehnthofs auf den Bau von 1697 bis zum Doppelmansarddach aufgestockt, in einem Jahr also, in dem MariaTheresia in Österreich und Friedrich II. in Preußen ihre Throne bestiegen. Bauherr war vermutlich einer der Söhne des Vogts von Bachoven, nach dem die eine Hauptstraße von Sinzig benannt ist.
  • 1803/08 — in der Franzosenzeit — wurde der Zehnthof vom Gerichtsschreiber Broicher erworben, anschließend von dessen Sohn, dem zweiten Präsidenten des Rheinischen Appellationsgerichts in Köln, ausgebaut. 1872, also nach dem deutsch-französischen Krieg, ließ der Enkel die Villa und anschließend den Festsaal errichten. Die Pläne entwarf der Kölner Dombaumeister Vincenz Statz, der der Neugotik in zahlreichen Kirchen zum Durchbruch verholten hat (z. B. in Oberwinter, Rheinbrohl, Godesberg, Asbach). Er hat auch das heutige Schloß in Sinzig erbaut.
  • In beiden Weltkriegen wurde der Zehnthof zweckentfremdet — Lazarett, 1919 amerikanische Besatzung mit General Mac Arthur, der noch im Koreakrieg 1951 befehligte: französische Besatzung — und zwischendurch als Verkehrsamt, Lehrerbildungsanstalt und fast 20 Jahre lang als Landwirtschaftsschule benutzt, bis der Barockteil durch eine Straßenverbreiterung seiner Stütze beraubt und im September 1978 bis auf das Erdgeschoß abgerissen wurde.

II. Zur Baugeschichte

Zehnthöfe finden sich in vielen Dörfern und Städten, oft in Verbindung mit Kirchen oder Stiften. Die dem Zehnthof zugehörigen Bauern mußten ihre Abgaben (= Steuern in Naturalien) — den zehnten Teil des Ertrags des Landes — dort abliefern, oder er wurde dort vom Verwalter des Zehnthofes zusammengetragen. In Sinzig waren es in großem Umfang die Weintrauben, die im Zehnthof zusammengetragen und dort gekeltert wurden, zu denen die eigene Weinernte aus dem Weinberg um den Kirchberg herum (dem heutigen Stadtpark) hinzukam. Dieser Einzug des Zehnten wurde ursprünglich vom Marienstift in Aachen selbst wahrgenommen, in den letzten Jahrhunderten aber einem Zehntpächter übertragen, der außer der Ablieferung, meist der Hälfte des Ertrages, den Bau und die Reparatur des Hofes übernehmen mußte.

Der Zehnthof in Sinzig ragt allerdings wegen seiner Größe und seiner Ausgestaltung hervor. Seine Hofanlage mit dem fast quadratischen Innenhof von 20 x 20 m gleicht denen altfränkischer Höfe, auch wegen des herausgerückten Wohnhauses. Der Zweck des Zehnthofs, Wein und Felderträge für das Marienstift in Aachen zu sammeln und bis zur Beförderung nach Aachen aufzubewahren, läßt sich an einigen Stellen wiedererkennen. So ist der heutige Saal und auch ein Teil der neugotischen Villa offensichtlich aus der mächtigen Zehntscheune entstanden, die noch auf Fotos aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts zu erkennen ist. Daß ein besonderes Kelterhaus bestand, ergibt sich aus einer Klausel in alten Pachtverträgen, in denen die Wand desselben besonders erwähnt wird. Damit kann nur die Wand zum Kirchhügel gemeint sein, an den einer der zwei Gewölbekeller des Zehnthofs angebaut ist. Dessen Fußboden liegt heute fast 7 Meter unter dem Niveau des Kirchhofs. Dagegen war noch nicht zu klären, wo sich genau „der Kaisers Saal“ befand, in den man noch im 17. Jahrhundert nach einem Hochgeding (Gerichtssitzung) zum Festessen zog.

Schon die Nachfolger des Marienstifts, die Familie Broicher. haben im vorigen Jahrhundert durchgreifende Maßnahmen zur Sicherung des Zehnthofs ergriffen, nicht nur den Neubau der neugotischen Villa, auch z. B. eine Umfassung fast des ganzen Komplexes mit Backsteinmauern und eine Kanalisation. Allerdings stellten sich jetzt bei dem Wiederaufbau unverhoffte Aufgaben; z. B. mußte das Barockgebäude rundherum mit Beton unterfangen werden, weil sämtliche Bauteile aus dieser Zeit keine Fundamente hatten. Auf Überraschungen dieser Art muß der Restaurator täglich gefaßt sein.

Die Familie Broicher hat auch (seit etwa 1830) — und darauf beruht die Schönheit noch der heutigen Bauteile — offensichtlich das Bestreben gehabt, aus dem ursprünglichen Bauernhof mit Abgabensammelstelle einen Herrensitz zu machen, bei dem der Stallgeruch in eine Ecke vor dem Hof verdrängt wurde. Dem kam die Gestaltung des Barockbaus mit vier zu fünf Fensterachsen entgegen, die im Obergeschoß mit 13 Fenstern von zwei Meter Höhe zu einem lichtdurchfluteten „Solchen“ führte. Heute, nach dem Wiederaufbau, sind drei Stockwerke freitragend aufgebaut, zur beliebigen Aufteilung.

Vor dem Barockbau lag der Barockgarten mit drei Achsen, begrenzt durch Pergolen, unterhalb der ebenfalls streng gegliederte Gemüsegarten. Der später von Lenne angelegte Park, auf den die Stadt Sinzig mit Recht stolz ist, wurde möglicherweise von diesem Garten mit der dahinter liegenden Orangerie übertroffen. Diese Gartenanlage ist in den letzten vier Jahrzehnten untergegangen und nicht voll wieder herstellbar. Dagegen konnten die vielfachen Schäden des romantischen Innenhofs mit seiner Galerie aus geschnitzten Balken schon weitgehend ausgebessert werden. Auch die überaus reich verzierten eisernen Gitter, Geländer und Lampen sind in Kürze wiederhergestellt. Die vielfältigen Mühen und die sich im Mauerwerk verbergenden konstruktiven Verbesserungen sind dann allerdings nicht mehr zu erkennen (ausgenommen in den Renovierungskosten!).

Wegen Einsturzgefahr schien das Schicksal des barocken Zehnthofgebäudes besiegelt: Dachstuhl und Obergeschoß sind abgetragen 
Foto: Gringmuth

Richtfest am wiederaufgebauten Zehnthof 
Foto: Schewe

Auch bei der neugotischen Villa des Dombaumeisters Statz war die Liebe zum Detail unübertroffen. Der Erbauer, ein Londoner Kaufmann, hat seine englische Ausprägung hinzugefügt, z. B. in den Türen im Tudor-Stil.

Was hier allerdings vor allem in den ersten Monaten 1979 (vor der Übernahme des Zehnthofs) sinnlos zerstört und gestohlen worden ist — es fehlen z. B. 76 Türen und auch geschnitzte Treppengeländer —, ist unwiederbringlich verloren, auch wenn einige Diebe inzwischen abgeurteilt worden sind. Was noch vorhanden, wird wieder ins rechte Licht gesetzt werden! Nach wie vor besticht aber die Großzügigkeit der Räume und geben diese eine Vorstellung vom Lebensstil reichen Bürgertums vor 100 Jahren.

Gestalterische Schwierigkeiten macht es, die barocken Teile mit den neugotischen Schmuckstücken in Einklang zu bringen, vor allem farblich, waren doch dem Barock kräftige Farbtöne zu eigen, während die neugotischen Bauteile vornehme Blässe zeigten. Nicht nur hier hat der Rat des Landesdenkmalpflegers inzwischen die volle Zustimmung aller Betrachter gefunden.

III. Der Zehnthof in der Gegenwart

Selten auch zeigt sich an einem Bauwerk, wie Strömungen abrupt umschlagen, wie schnell aus der Absicht, ein Appartementhaus um den Kirchberg in Sinzig zu bauen, geschichtsbewußte Gegenbewegung werden kann. Sie führte im Falle des Zehnthofs 1978/79 zum Denkmalschutz, zur allgemeinen Besinnung auf die gerade in Sinzig noch vielfältig erhaltenen Zeugnisse der Vergangenheit, zur Hilfe von Stadt. Kreis und Land und infolge eines Zusammentreffens günstiger Verhältnisse 1979/80 zu einem Wiederaufbau innerhalb von 18 Monaten (durch den Verfasser). Schon jetzt zeigt sich der Zehnthof von der Straßenseite und der Hofseite wieder in seinem alten Aussehen, eigentlich sogar noch etwas klassischer („barocker“), als er es jemals war, weil von Zutaten befreit: die neugotische Villa ist auch schon in ihrem Bestand gesichert.

Der Zehnthof, fast wieder im alten Glanz. Sommer 1980 
Foto: Kreisbildstelle

Fast ein Jahrtausend war der Zehnthof in Sinzig das wirtschaftliche Zentrum: das kann er nicht mehr sein. Heute eignet er sich wie kein zweiter Bau für die Repräsentation von Antiquitäten, Kunst. Musik oder kulturelle Beziehungen. Als Zeichen für das lebhafte Interesse der Sinziger kann man den Orden der Sinziger Karnevalsgesellschaft 1980 nehmen, auf dem der Zehnthof mit einem Baukran abgebildet war.

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