Der „Uhm“
Erinnerungen an einen alten Rheinfischer
Rosemarie Bormart
Ein jeder in der Verwandtschaft wußte gleich. wer gemeint war. fiel der Name „Ühm“ beim Gespräch. Um die sieben Ecken herum war er mit unserer Mutter verwandt. Sie. die in stetigem Kontakt mit denen von „unserem Blut“ stand, bezog also auch den „Ühm“ mit ein, der gut in den „Siebzigern“, voller Vitalität und Interesse für das Tagesgeschehen, oft Gast in unserem Haus war.
Er war von kleiner Statur, trug einen rotmelierten Bart. Interessant für uns war. daß sein Ohrläppchen ein kleiner goldener Ring zierte. womit wir uns vor unseren Spielgefährten wichtig taten. Das war schon bemerkenswert für die späten 30er Jahre, denn welch gestandene Mannsperson hätte sich zu dieser Zeit mit einem Ohrring geschmückt?
Der „Ühm“ war Ende des vergangenen bis in die zwanziger Jahre dieses Jahrhunderts Rheinfischer gewesen. Immer noch trug er seine Schifferkleidung aus blauem Tuch. eine Seemannsmütze mit einem goldenen Anker und. für die damalige Zeit ungewöhnlich, leichtes Schuhwerk.
Nach seinen Erzählungen hatte er die echte Rheinromantik erlebt. Die Beschwernisse zu dieser Zeit klangen hin und wieder an. überwogen aber nicht die Freude, mit der er seinem Beruf nachgegangen war. Von gut gefüllten Netzen wußte er zu berichten, wenn er in der Fangzeit mit seinem Boot auch in dunklen Nächten auf dem Rhein gewesen war. Abnehmer für seine Ware fand er bei den zahlreichen Besitzern der Hotels, die beiderseits des Rheinufers i n der näheren Umgebung für ihre Fischspezialitäten bekannt waren.
Aufmerksam hörten wir ihm zu. bei seinen weitausholenden Schilderungen, die er uns anschaulich zu vermitteln wußte. Oft blitzte der Schalk in seinen Augen auf und er ließ offen, ob es Nixen im Rhein gab oder auch nicht.
Besonders häufig waren seine Besuche zur Zeit des Spanischen Bürgerkrieges, dessen Fortgang er bei uns am Radio sehr lebhaft verfolgte. Aufmerksam saß der „Ühm“ in der Wohnstube und horchte, den Kopf nahe am Lautsprecher, den Meldungen zu.
Zu seinem und unserem Leidwesen litt der „Ühm“ an einer fortschreitenden Taubheit und nur der Umstand, daß Vater die Lautstärke erhöhte, ließ ihn teilhaben am Weltgeschehen. Nach Durchsage der Berichte rief er ein über das andere Mal aus „Dat Madrid hann se baal“. Uns fiel dabei auf, daß er das „a“ bei Madrid ziemlich kurz aussprach.
Es ging schon recht laut zu, bei seinen Besuchen, und unsere Mutter befürchtete, daß Uneingeweihte annehmen müßten, hier hinge wohl der „Haussegen“ schief.
Gern frönte der „Ühm“ dem Genuß des Kautabaks, und aus einer kleinen Blechdose, deren Vorderseite ein Herr mit Zylinder schmückte, spießte er mit einem kleinen Gäbelchen einen Priem auf und ließ ihn genüßlich in der Wangentasche verschwinden. Stolz ließ er uns wissen, daß er noch sämtliche Zähne besitze, die uns hingegen recht gelblich aussehend erschienen, und wir vermuteten, daß ihn wegen der Unsitte des „Prümmens“ keine Frau genommen hatte.
Unserer Mutter hatte er auf die Frage seiner Ehelosigkeit folgenden Bescheid gegeben: „Wat esch woll, dorf esch net, wat esch soll, wollt esch net.“ Dabei gab er zu verstehen, daß zur damaligen Zeit die Brautwahl auch von den Eltern abgesegnet werden mußte. Bei ihm schien es wohl nicht der Fall gewesen zu sein, so daß er lieber ledig blieb.
Der „Ühm“ führte selbst den Haushalt und wohnte in einem kleinen Häuschen, das über eine enge Gasse, die nahe am Fluß lag, zu erreichen war. Besuchten wir ihn mit unserer Mutter, so war ihm die Freude anzusehen. Über eine kleine Stiege ging es in das Obergeschoß, wo die Küche, eingerichtet mit schönen alten Möbeln, in fortschreitendem Alter doch etwas die ordnende Hand der Hausfrau vermissen ließ.
Nachdem wir Kinder eine Weile der Unterhaltung zugehört hatten, eilten wir nach unten, wobei unsere Mutter immer in der Sorge war, daß wir einmal mitsamt des Treppchens zu Schaden kommen könnten. Uns hatte es das kleine Hintergehöft angetan, hier lagen noch alte Taue, ein Anker, ein Gewirr von Netzen, – alles hatte einmal zu seinem Broterwerb beigetragen – und das Herrlichste für uns, ein alter Nachen, indem sich Abenteuer erträumen ließen.
An all den Dingen haftete noch der Geruch von Tang, Teer und brackigem Wasser. Es schien wie ein Wunder, daß wir nach dem Spiel ohne jegliche Blessuren dem Wirrwarr entkamen.
Mag es Sparsamkeit gewesen sein, der „Ühm“ besaß nur je ein Stück von Geschirr und Besteck. Mutter bat ihn, nach einem vorsichtigen Blick in die einzige vorhandene Tasse, sich nur keine Umstände zu machen wegen der Bewirtung. Wir dagegen ließen uns die von ihm geschmierten Brote schmecken.
Zornig haben wir ihn gesehen, als er folgendes erzählte: Auf einem Passagierdampfer hatte er ein Spruchband entdeckt, auf dem zu lesen war: „Macht euch das Leben jung und schön, kein Jenseits gibt’s, kein Wiedersehen“. „Dat nit e büs End“, meinte er und sollte dabei Recht behalten.
Später sind wir verzogen. Der „Ühm“ war mittlerweile auf andere Hilfe angewiesen und siedelte in ein Altersheim über. Nun gehörten die täglichen Spaziergänge am Rhein der Vergangenheit an. Der Ühm litt, er sah nicht mehr die Schleppdampfer, aus deren hohen Schornsteinen dunkler Qualm rauchte und deren mächtige Schaufelräder das Wasser pflügten, und nicht die vollbeladenen Lastkähne, die bis zum Kiel im Wasser lagen. Er konnte nicht mehr den Personen-Fährverkehr verfolgen und hier mit so manchem Bekannten plaudern. Es fehlten ihm die Anlegemanöver der Fahrgastschiffe, nach deren Ausführen er kritisch die jeweiligen Kapitäne beurteilte. Ervermißteden Rhein, auf dem er fast ein Leben lang in seinem Element gewesen war.
Mutter besuchte ihn noch hin und wieder. Es schien, als welke der „Ühm“ sichtlich dahin in seinem Kummer. Es dauerte auch nicht lange, bis er seinen Lebensweg beendet hatte. „Et wohr en einsam Beerdijung“, meinte unsere Mutter, nachdem sie ihm die letzte Ehre erwiesen hatte.