Der Traum des Pfarrers von Sinzig
Theodor Seidenfaden
Der siebenundzwanzigste Juli des Jahres eintausendneunhundertundsiebenundzwanzig sei wettergemäß selbst für das sagenhafte Sinzig, die damals sechshundertundsechzigjährige Stadt geschichtlichen Ranges, geradezu märchenhaftes Vollziehen im Ewigen gewesen: so, als ob dieses den sechzigsten Geburtstag des Pfarrers seines staufischen Petersdomes hätte mitfeiern wollen!
Das behauptet eine Tagebuch-Aufzeichnung, die sich im Nachlaß eines lange verstorbenen Freundes von Johannes Mumbauer, wie der Feiernde hieß, fand und den Stoff zu der Legende gab, die heuer, ein halbes Jahrhundert später beginnt, in dem zum Dichten neigenden Ahr-Geiste umzugehen. Erwähnt sei nur noch, es handle sich um den Nachlaß des geistlichen Rates Bernhard Michael Steinmetz, der, als Herausgeber der Zeitschrift „Das Heilige Feuer“ und als Obersetzer Calderons de la Barca, des spanischen Dramatikers, von dessen Spiel „Der standhafte Prinz“ Goethe, nachdem er es Johanna Schopenhauer, der verwitweten Mutter des Philosophen, die zu Weimar lebte, vorgelesen hatte, an Schiller schrieb: wenn die Poesie ganz von der Welt verloren ginge, so könnte man sie aus diesem Stück wiederherstellen: der geistliche Rat
Steinmetz also, der in Calderons Sprache die Stimmen der Sphären verehrte, habe zu den erlesenen Gästen des Tages gehört. Mumbauer, der zwischen den Jahren ein-tausendneunhundertundelf und eintausend-neunhundertfünfundzwanzig in dem phä-akenhaften Piesport, dem Weindorfe der Mosel, vorher aber vier Jahre, von den Kirchendiensten beurlaubt, Berichterstatter einer führenden deutschen Tageszeitung in Rom, dort auch Präsident des deutschen Lesevereins gewesen war und manches um das Schöngeistige kämpfende Buch veröffentlicht hatte, hieß bei den Eingeweihten der Literaturpapst und war als solcher, ob dem Unbestechlichen seines Urteilens, gefürchtet, von den Wesentlichen, auch anderer Bekenntnisse, aber verehrt und geliebt, und er, der Herausgeber der „Hausen-Bücherei“, hatte zu seinem Sechzigsten eine so große Zahl von Gästen in das Sinziger Pfarrhaus gebeten, daß es sie kaum zu fassen wußte.
Er wolle, so hatte er seiner Haushälterin, der treuen Moselanerin, gesagt, den Tag so begehen, wie es sich für ihn, den Nachkommen eines alten Kreuznacher Dachdecker-Geschlechtes und den Vorkämpfer für ein neureligiöses Schrifttum echten Ranges gebühre!
Dreißig der ihm Vertrautesten blieben über Nacht und waren Schlafgäste bei dreißig führenden Familien, und ihnen — den Erlesenen, wie er sie nannte — gab Johannes Mumbauer, ein glänzender Erzähler, bevor sie sich um Mitternacht verabschiedeten, getragen vom ständig schaffenden Geiste und der beseelten Kraft des Weines, den — so betonte er —, bedeutendsten Traum seines Lebens mit: er habe ihn in der ersten Schlafnacht des Sinziger Pfarrhauses überrascht.
„Ja“, sagte er, „es war für mich schon ein Ruf, daß der Trierer Bischof mich von Piesport aus nach Sinzig schickte, dessen Petersdom mir in seiner äußeren Gestalt als das Sinnbild lebte, das nicht errechnete Bauschablone sondern Heiligtum einer Zeitseele, ist, die allmählich aus kosmischer Ruhe und hieratischer Gebundenheit, dem Anbeten im Objektiven zur Inbrunst des Subjektiven tastet — die aus dem „Romanischen“ zum „Gotischen“ erwacht. Im Traum der gezeichneten Nacht aber erlebte ich, unvorstellbar eindringlich, wie mich der Innenraum, den das neunzehnte Jahrhundert mit dem Blendwerke seines unreligiösen Gebahrens verkitschte, geradezu quälte. Augen und Ohren brannten mir vor Scham — mir, dem unser Mittelalter als eine Hoch-Zeit des Geistigen lebte.
Der Traum glich dämonischem Grauen.
In meiner Not aber saß plötzlich Nikolaus von Kues, aus dem Ewigen tauchend, neben mir auf der Bank der Mitte, in die ich mich zurückgezogen hatte. Ich sah ihn, wie er auf dem Altarbilde eines rheinischen Alt-Meisters in der Hospitalkapelle von Kues lebt. Wer mich kennt, der weiß, wie ich ihm, nicht nur von meinen Moseljahren her, seelisch-geistig als einem Genius des Unbedingten verbunden bin, und da ich ihn erkannte, fiel mir das Gedicht ein, das ich — Gabe eines jungen Lyrikers, der mich in Piesport besuchte und den ich nach Kues schickte, in den Geburtsort des Großen, dort sich umzuschauen — und mein Erschüttertes sprach es, das ich tief in mir trug, so in die Stille, daß der Erschienene lächehnd lauschte.
In der Bücherei des Nikolaus Cuasnus Was ist Zeit, und was ist Raum? Ewige Frage, die den Geist durchkreist und ihn wirrnistrübe Wege weist: Hier tratst du vor, wie Gold aus dunklem Traum,
als zwischen Meßgerät und Bücherbänden, die weisheitschwer, an allen Wänden zu dem lebendigen Gewölbe steigen, der Blick auf Instrumente fiel, womit du in der Stille Fülle der Sterne Gang gemessen und dir gelöst Ihr Schweigen Was in mir, bang, wie Leid gesessen, stieg hoch und reckte sich aus grauer Hülle gewaltsam auf zu neuem Spiel.
Du selbst begannst zu sprechen, daß meine Seele in die Tief und Weite wuchs. Wie Wogengänge, die an Felsen brechen, sich übertürmend auferbaun und Wunderdinge schaun im Sturme ihres Flugs, belebte sich bei deiner Worte Klang, der aus Fernen klar in deine Klause drang, der Geist und sah, in Ahnung fromm ergriffen:
Zeit und Raum sind klein. Nur Gott ist groß, ist die Unendlichkeit, die schafft in allern Sein. Da ward wie du, trotz deinen Schriften, ich wieder Kind, das liebeselig steht in Welt und Wind.
Und: Freude voll, durchströmt von dir, von Gott, Raum und Zeit, in mir Gefühl der Ewigkeit, ging ich zurück zu lichtem Tag, wo zwischen Bergen, Wein und grünen Triften der Mosel Wellenschlag uraltes Lied seit Jahrhunderten zu Meeren zieht.
,Ja‘, sagte der Cusaner nach meiner letzten Zeile, jch weiß um dieses Gedicht des Jungen, das mich in meinem Unendlichen erreichte. Warum aber bist du nun ob dem, was Dich hier umgibt, zorntraurig, wie ich Dich nie erfuhr?‘
Mich widere es an, antwortete ich ihm, dem Sterbenden eines Zeltens gegenübersitzen zu müssen, in dessen Zerbröckeln ich nun als Priester das Gott-Besinnen eines Ewigen zu feiern hätte!
Da sprach der Cusaner: ,Du weißt, wie mich im Weltbild-Wandel meines Irdischen jenes Verhandeln peinigte, das, im Auftrage des römischen Papstes, zu Konstantinopel vergeblich versuchte, die griechische Kirche wieder der römischen zu einen; wie es mich wurmte, daß mein Jahrhundert den Albertus Magnus nicht mehr kannte, es mir unmöglich blieb, diesem Zeiten, das glaubte, es müsse in Gott das Irrationale aus dem Gegenwärtigen lösen und ihn in ein Jenseits versetzen, nachzugeben: einem Grübeln, dem die Sphäre des Unendlichen und ihre All-Mitte verschlossen blieb. Du weißt um das Große: daß es der Stunde gegeben bleibe, ihn ins Tägliche zu holen — unbekümmert um das, was zusammenbricht, wenn das Ewige blitzt! Du weißt, wie ich, als Bischof, als Cardinal Auswüchse der Scholastik bekämpfte, die Achsendrehung der Erde erkannte, die erste Landkarte von Mitteleuropa entwarf und die Echtheit jenes Dekretes anstritt, aus dem der Papst sein weltliches Machten als Konstantinische Schenkung beansprucht, daß ich als Astronom, Philosoph, auch als Theologe zahlreiche Bücher verfaßte, in die ich mein Erkennen zu prägen versuchte. Du weißt aber auch, daß Du und ich In dem Glauben, es sei dem Menschen unmöglich, die Dinge voll zu erkennen, einig sind!
Nur wenig gelang von dem, was ich wollte; aber — ich blieb, der ich war und sein mußte!
,Der große Metaphysiker‘, sprach ich, als der Erschienene schwieg. ,Du bist in der Kette, die ich so nenne — Parmenides und Heraklit, Plato und Augustinus, asiatische Denker und Spinoza, den Dein Irdisches nicht mehr erlebte, wie Kant und Schelling. Das Selbstbewußtsein des Menschen ist dir das Gesetz! Als Abbild des Schöpfers ist er — der Mensch — wenn er wahrhaft lebt — des eigenen Schöpfertumes glücklich. Mir bist Du der Wille zum Einen: Wahrheit, die nichts vergißt, Frömmigkeit vor diesem Einen, dem Umgreifenden, Aufschwingen aus dem Endlichen zum Unendlichen: in Deinem Tun Gleichnis des Göttlichen!‘
,Was Du sagst‘, versetzte Cusanus, ,ist für mich Offenbaren dessen, daß mein menschliches Ringen sich lohnte, und darum darfst Du Deines Jahrhunderts Schwächen nicht so nehmen, als gäbe es kein Retten mehr. Dein Jahrhundert wird als das der Technik die Wonnen der Erfinder, das Machtgefühl der Wirtschaft-Kapitäne dergestalt stärken, daß seine Massen glauben, das Schlaraffenland wachse ihnen zu. Es kümmert sich nicht um das Kitschen in Domen, obwohl sie immer noch mahnen. Doch die Maschinen, die es erfindet, werden, wenn die Höhe des Könnens erreicht Ist, den Menschen ins Arbeitlose werfen, und statt dem erhofften paradiesischen Zustande werden sich Hunger, Elend und Not verbreiten, die unvorstellbar wirken und Maschinen als Dämonen sehen!‘
‚Entsetzlich ist, was Du verkündest‘, sprach ich — Mumbauer, der Kleine Pfarrer von Sinzig — und davor fürchte Ich mich für mein Volk und für Europa. Was aber rät deine Einsicht dem fragenden Zürner?‘
‚Bleibe Dir treu‘, fuhr der Cusaner fort, ,dann dienst Du dem Welt-Wende-Geist, der zur Zeit jenes Raubtier hegt, das sich Klassenkampf nennt. Dem Klassenkampf der Besitzenden antwortet morgen der Klassen-Kampf der Besitzlosen, der ihnen das Anliegen des Sozialismus ist, wie sie ihn auffassen. Beider Ringen wird sich wahrscheinlich in Riesenmaßen vollziehen, auch mit dem Fortsetzen des Krieges, der seit neun-zehnhundertundachtzehn scheinbar schweigt. Kapitalismus und Sozialismus sind seelische Probleme. Schon Goethe — so erfuhren wir im Ewigen —, vergleicht die Zeit, da die Beharrung-Kräfte den Trieb-Kräften der fortschreitenden Bewegung den Vorrang abtreten müssen, die Wechselwirkung der Systole und der Diastole — Sicheinziehen und Sichausdehnen des Lebens — das Ein- und Ausatmen, das er auch im Kosmos als Lebensgesetz erkannte. Es gilt, das Ungeheure zu schauen, daß Du und die Dir folgen, zu betreuen haben. Werden, diese Dir dann lauschen — es geht um das Gemeinsame eines Künftigen —, das Ringen im Ehemals verstehen, das zwischen Papst-und Kaisertum, zwischen Rittertum und Städten toben mußte? Werden sie nachfühlen können, daß die abendländische Kulturgemeinschaft sich nicht willkürlich in Nationen spaltete, daß Renaissance und Absolutismus Im Plane Gölte beschlossen waren, der Sozialismus, der heute umgeht, in seinem Wesen das noch nicht verstandene Sehnen nach neuen Bindungen im Gewissen ist — nach solchen der Ehrfurcht, der Treue, des Glaubens an ein erneuertes Wir? Es kommt darauf an, in allen Übergängen immer wieder erleben zu lassen, wie das Gewissen zu dem wird, was mehr wiegt als Wissen!‘
Jen verstehe Dich gut‘, erwiderte ich. ,Die Natur ist die wahre Aristokratin und die Volkheit, wie Goethe sie meinte, ist das Gott-Unmittelbare, das ihr Schöpfer hervortreibt. Sieh in Blumen Blütenbecher der vergessenen Seelen: das All ist Gedicht!‘
,ln jeder Volksschicht‘, sprach Cusanus, gibt es Erkenner, und sie müssen sich, wenn Europa wieder Mitte werden will, wie es das war, als der Sinziger Petersdom erstand, versöhnen und einen In einem Geist-Bekenntnisse. Der Prozeß währt lange. Vielleicht gelingt es, daß wir werden, was wir noch nicht waren: nicht etwa Kirchler sondern Christen. Wenn es gelingt, beginnt das zweite Mittelalter und in ihm der friedliche Kampf um den universellen Sinn: der friedliche Kampf um das heute verschollene geistige Heldentum! Höre die Engel und gehe ans Werk: dann kommt die Stunde, die nicht mehr Dome der Alten verkitscht, die Neu-Dome aus dem UrStrome baut und in Bildern, Plastiken, Dichtungen das Leben der Gegenwart, geistig formend, dem Ewigen vermählen wird: dann werden Dome neuen Gesichtes!‘
Während der Cusaner neben mir langsam verschwand, klang ein Engelchor auf, und er sang:
,Gesetz der Form: du weißt des Adels Wege?
daß Werden sich als Harmonie entfalte. Wer glaubt, er schaffe Sein der Abgrundstege
auch ohne ein Sakrales, stürzt In Spalte des Klaffens, wird zum Bettler ohne Hege, weil ihm im Worte fehlt das Herkunftalte, wie es sich hütet als der Meister, Pflege, die in sein Klingen bannen Saat-Gehalte!‘
Mit dem letzten Vers des Chores wachte ich auf, und das Frührot des Sommermorgens fiel groß in meine Stube.
Es war mein schönstes Erwachen und wirkte als Wunder!“
Als Mumbauer so gesprochen hatte, nahmen die Dreißig ihr Glas und tranken ihm zu: stumm und ergriffen. Er aber reichte jedem die Rechte, und die Getreuen gingen wie Geweihte durch die Mondstille Sinzigs zu ihren Quartieren.
Niemand von ihnen hätte es für möglich gehalten, schon wenig Jahre später hinter dem Sarge des Erzählers hergehen zu müssen — nicht in Sinzig, sondern In seiner Vaterstadt Kreuznach, wohin er sich bei einer plötzlichen Erkrankung zurückgezogen hatte. Doch Jedem von ihnen blieb auch bei diesem letzten Gange der Sinziger Traum des Freundes ein Vermächtnis.