DER TOD DES MEISTERS JOHANNES
Fast achtzig Jahr, davon fünfzig im Tal —
da hört er ganz plötzlich des Todes Signal:
„Halt, Meister Johannes! Halt ein dein Leben!
Ich will dir ein anderes dafür geben!“
Sind’s Worte, sind’s Töne? Er weiß es nicht.
Er geht seine Wege wie sonst und bricht
wie zufällig selbigen Tag’s sich ein Bein.
Ein wenig Geduld nur, heil wird’s dann sein! —
Da hört er wieder das dröhnende Zeichen:
„Willst du als Krüppel den Rest durchschleichen?
Nicht mehr im Wingert mit Hacke und Schere
pflegen und pflücken die rotblaue Beere?“
Und es wirft ihn noch tiefer in Kissen und Decken,
er fühlt: bald heißt es zum Ende sich strecken!
Der Priester wird kommen, die Freunde, Verwandten,
aus Nähe und Ferne die vielen Bekannten.
Doch denkt er es kaum, es quält ihn auch nicht,
für ihn ist auch das Sterben nur Pflicht.
Bald brennt des saturnische Feuer ihn sehr,
in Bildern flackert es vor ihm her.
Sie kehren wieder, verlebte Zeiten:
er sieht sich selber zur Domstadt schreiten.
Da kommen die kölnischen Meister und Herrn — — —
hier lernte er gut, und er lernte so gern!
Von Quinte und Quarte und Dominant,
das faßte er gleich mit dem hellen Verstand,
den ihm die Bauernahnen gegeben,
wie manches ansonst noch zu wackerem Leben:
die hag’re Gestalt, blaublitzende Blicke und Kräfte,
gemacht für die schwersten Geschicke. —
Dann sitzt er im Dom zu Köln am Rheine.
Er weiß: dort ruhen im güldenen Schreine
der heiligen Könige heil’ge Gebeine.
Ihn aber zog es zur Musika,
ihn rief die heil’ge Cäcilia. — — —
Chorprobe jetzt. Ja, er hört singen!
Wie sich die Stimmen kunstvoll verschlingen,
sich meiden, sich finden, wie Ranken umwinden!
Er atmet schneller. O heiliges Ahnen:
melodisch Geranke um Sternenbahnen! — — —
*) Johannes Müller, katholischer Kirchenkomponist. Geb. 1864 auf Kochshof bei Altenberg, gest. 1942 In Ahrweiler. Lebte von 1891 bis 1942 in Ahrweiler als Küster, Organist und Chordirigent der Sankt Laurentiuspfarrkirche. War zugleich Winzer. Vertreter einer gemäßigten kirchenmusikalischen Romantik auf der Grundlage Palestrinas mit unverkennbarer persönlicher Eigenart. Die meisten seiner Werke erschienen im Verlag Schwann, Düsseldorf. Aufführungen von Wien bis in die Vereinigten Staaten von Nordamerika nachweisbar.
Zu Aachen nun, bei Karl dem Kaiser.
Hier lehrt Meister Neekes, ein Edier, ein Weiser.
Er lehrt die tönende Mathematik,
er lehrt das Himmelsgesetz der Musik:
„Punkt contra punktum! Wie Stern zu Stern,
so fügt sich die compositio, ihr Herrn!
Erhabenes Abbild, nicht Zufalls Spiel,
das heiß ich „Musik“. Ein erhabenes Ziel,
nur besonnen erreicht. Seht Pierluigi,
Palestrina genannt, wer ist, der ihm gleicht!“ — — –
Jetzt sieht er sich Tage und Nächte studieren,
das Geheimnis der Form zu erfassen, probieren.
Bald liebt Meister Neekes den Bauernjungen.;
Musa Cäcilia hat den ersungen!
Und der schaut das Gesetz in Pierluigis Walten,
seine Werke sind tönende Engelgestalten. — — —
Das alte Städtlein nimmt ihn auf.
Vier Tore im uralten Mauergelauf,
vor dem höchsten der launische Eifelfluß,
auf dem Markt das Haus Sankt Laurentius‘,
das kleine Küsterhaus dicht daneben. — —
Er lächelt ein wenig. Sein reiches Leben
begann erst so recht in dem traulichen Nest.
Er sieht sich selber bei Alltag und Fest,
er steigt die steilen Stufen empor,
steht wieder im Turm beim Glockenchor,
hört sie hallen und schallen beim Feiergeläute
und find’t keinen Tag, der schmerzlich ihn reute.
Er sieht sich die Gassen und Gäßlein gehn,
als Winzer in seinen Wingerten stehn.
Es fruchtet im Garten, im Feld und daheim, —
sechs Kindlein kommen! — Er legt den Keim
zu neuem Singen und Musizieren,
er sieht sich selbst seinen Chor dirigieren.
Und dann — dann kommen die eigenen Werke!
Sie künden Gott Lob und des Meisters Stärke.
Sie sind wie ein tönendes Heiligtum,
gewinnen die Herzen und bringen den Ruhm. — — —
Ja, ja! Der einst um Pierluigi rang,
fand seinen eigenen Lebensgesang,
der Schüler fand „den eigenen Ton“
und dazu den leuchtenden Künstlerlohn. —
Und nun ist alles zu Ende gekommen.
Was wird ihm denn anderes jetzt noch frommen,
cls zum ganzen erbaulichen Lebenssang
den Schlußsatz zu finden aus heiligem Klang?
Das letzte Finale! — Flüstert er leis.
Sein größtes „Amen!“ und schwerstes, — er weiß es.
Da fühlt er sich plötzlich wie zärtlich erhoben,
die Schmerzensgeister sind wie zerstoben.
Und er sieht und hört: in tönendem Schein
wächst seine Orgel ins Zimmer herein!
Es blitzen die Pfeifen, die Bälge gehen,
und über ihm ist ein tönendes Wehen,
ein seltsames Rauschen im Krankenzimmer;
im Herzen wogt ihm ein goldener Schimmer
und trägt ihn tief innen zur frömmsten Entzückung, –
es rieselt die Träne der letzten Beglückung.
Ein nie gehört‘ Klingen erblüht jetzt zum Chor,
es steigen sieben Gestalten hervor
aus der Pfeifen süß atmendem Silberkreise,
in sieben Farben. Sie singen leise
Ur-Schwesternweise. Umwehen, umstehen
das bittere Lager. Verwehen . . . Erstehen
zu neuem farbigen Schweben
und sind wie der Sterne allgütiges Leben.
Nun ist der Kreis rund um ihn gezogen:
ein wesenhaft funkelnder Regenbogen.
Da hebt es ihn auf so leicht und licht,
er weiß nicht einmal, daß das Herze ihm bricht,
er fühlt sich auf einem Wagen stehen,
sieht Schlünde und Klüfte tief unten vergehen.
Die musica sacra leiht ihm Flügel.
Er hält auf rötlichem Wagen die Zügel,
die goldenen Zügel der Melodien,
und weiße Pferde, die ziehen ihn!
Da wird jeder Hufschlag ein tönend Gebraus —:
So fährt Herr Johannes ins Weltall hinaus! — — —
Die Glocken läuten vom alten Turm.
Es schlummert der Winternacht grimmiger Sturm,
die Sonntagssonne leuchtet durchs Fenster,
den Fluß und das Tal bannen Schneegespenster.
Vorm Sterbezimmer geht ein Geflüster,
so viele liebten den alten Küster.
Da sagt es der Sohn, der bei ihm gewacht:
„Er starb ganz ruhig nach ruhiger Nacht!“ — — —
Das war der Tod uns’res Meisters Johannes.
Gedenket im Herzen des seltenen Mannes!
(Aus E. K. Plachner: „Gesammelte Gedichte“ 1. Band, Abschnitt „Balladen“