Der Spuk des Murmichsweibchens
VON JOHANN SCHMITTEN
Wen die Wanderung von der Gemeinde Insul über den schmalen Bergrücken, an der „Martinsnück“ vorbei, nach dem kleinen Ort Lückenbach führt, entdeckt ein ruhiges und einsames Wiesental, eingeschlossen in Berge, deren Hänge linksseitig steil abfallend und bewaldet, rechts aber wechselhaft hängiges Ackerland, vereinzelt Wiesen oder Waldstücke aufweisen. Eine wohltuende Ruhe breitet sich aus, wenig gestört von selten auf dem schmalen Ortsverbindungsweg fahrenden Kraftfahrzeugen, deren Fahrtempo ohnehin infolge des kurvenreichen Sträßchens nicht sehr hoch sein kann. Da windet sich durch die Wiesenflächen der Lückenbach zwischen einer Talseite zur anderen hin und her, so, als wolle er jede Bergseite des Tales grüßend berühren und im steten Geplauder mit Bäumen und Busch die Zeit sich vertreiben. Wandelt man weiter, so erreicht man ein sehr kleines Nebental, das sich rasch verengt und zu einem Seifen gestaltet, in die Berge hineinführt. Das Bild rundet sich ab durch ein kleines Bächlein, das im munteren Sprunge dem Tale zustrebt. Hier entlassen die Berge ihr feuchtes Element, und seit vielen Jahrtausenden purzeln die Tropfen die Hänge hinunter, sich mühsam den Weg durch die Steine bahnend. Hier hat die Technik noch nicht störend gewirkt und Eingriffe in die Stille und Schönheit der Landschaft vornehmen können. Störend würde in dieser Ruhe ein Haus, eine Brücke oder selbst ein Leitungsmast wirken.
Hier aber, so sagt der Volksmund, geistert es, und bei Mondschein tritt das „Murmichsweibchen“ hervor, umherirrend und den nächtlichen Wanderer erschreckend. Es mögen Irrlichter der etwas sumpfigen Wiese, es mögen phosphoreszierende alte Baumstämme einst den Grund dazu gegeben haben, das Geistlein mehrmals gesehen zu haben. Doch die Sage geht um, und vorerst unzusammenhängende Einzelheiten bilden, als Ganzes gestaltet, ein festes Gefüge. Der Flurname „Seelenfeld“ ganz in der Nähe, das „Murmichstälchen“ mit dem irrenden Licht und dem „Hüllenstein“, der auf der Kuppe des Berges liegt, sind im Zusammenhang zu betrachten. Es mag uns darum die Überlieferung der Sage wie folgt berichten:
Am Hüllenstein machten vor Jahrhunderten schon die Fuhrleute mit ihren keuchenden Zugtieren Rast, wenn bergauf die schweren Wagen zur Feldflur gezogen werden mußten. Die Erntewagen zogen beladen vorbei, abwärts zu Tale, und die Kinder von Generationen bestaunten den Stein und erwarteten, daß er sich drehe, wenn das Ave der Glocken erklinge. Doch wann wird das Wunder des Steines geschehen?
Wald und Wiesen waren schon unter die wenigen Bewohner der Umgebung verteilt, die Grenzsteine gesetzt, und die Menschen erwarben sich aus der Scholle in harter Arbeit, wenn auch karg, ihren Lebensunterhalt. Der eine hatte mehr Land, der andere weniger, und es gab Zufriedene und Unzufriedene, aber es gab wenig Zeit, darüber nachzudenken, darüber zu grollen; denn die Tagesarbeit war hart, und die Lehnsherren ließen nicht viel Zeit zum Nachdenken.
Foto: Job. Schmitten
Der Hüllenstein, der sich dreimal beim Mittagläuten drehen soll. Ein mächtiger Quarzitbrocken
Foto J. Schmitten
Das Murmichstälchen
dort, wo es in die Berge einschneidet,
wo die Wiese endet und der Wald beginnt.
Hier gab es eine unzufriedene Frau, die ihren erlangten Besitz gern vergrößert hätte, obwohl gerade sie als reich galt, denn eine Magd und ein Knecht, die nur für das tägliche Brot die Schwere der Arbeit trugen, erleichterten ihr die Tageslast und dienten der Reicheren, die ständig murrte, da Habgier sie plagte.
Geiz und Habgier waren vom Erwachen im Morgengrauen bis zur späten Nacht ihre Begleiter, raubten ihr die Ruhe und umschatteten ihre Träume. Nachbarlicher Friede galt ihr wenig, und die Mehrung ihres Eigentums auf unredliche Art in Feld und Garten, soweit es unbemerkt geschehen konnte, gab ihr teuflische Besitzfreude.
Wenn der Knecht ihren Acker pflügte, zog sie selbst die letzten Furchen, um jährlich ein Stückchen Land vom Nachbarfeld ihrem Besitz einzuverleiben. So vermehrte sie ihre Ernte und überließ die Lehnslasten dem Geschädigten. In einer Flur jedoch achtete ein ärmerer Feldnachbar, der kaum genügend zum Leben hatte, weil sein Besitz so gering war, jährlich genau auf die Grenzfurche und hielt den Grenzstein frei von Gestrüpp und Hindernis. Dies war der Habgierigen längst schon zuviel und mit Ingrimm sann sie hin und her und ließ nur mit boshaften Augen den richtigen Grenzsaum gelten. Da fand ihr Brüten endlich ihre Befriedigung, als sie in mondheller Nacht loszog mit Hacke und Schaufel, die Grenzsteine anging und sie um einige Eggenbreiten in des Nachbarn Acker versetzte. Früh am anderen Morgen zog ihr Pflug die vermehrten Furchen genau bis au die versetzten Grenzsteine. Es merkte der geschädigte Bauer an der geringeren Feldbreite bald die angetane Bosheit. Er fand jedoch nicht sein Recht, wohin er sich auch wandte, denn die Grenzsteine waren entscheidend, und ihm blieb kein anderer Beweis mehr gegeben. Daß es sich um eine Teufelei der Nachbarin handelte, glaubte ihm niemand.
Da schwor der Geschädigte Rache, Rache noch zu Lebzeiten an dem Weib nehmen, das ihn betrogen hatte. Es rollte ein Fluch über seine Lippen, der über jene kommen sollte, die ihm sein Gut geraubt hatte und wobei er noch schmählich der Nachbarn Spott ausgesetzt war: „Sie solle in der Nähe ihrer Schandtat auf unnatürliche Weise sterben müssen. Ihr Tod solle ihr nicht den Frieden bringen; nein, ewig müsse sie wandern, dort, wo sie unrechtes Gut genommen hat.“
Als man der Habgierigen den Fluch zugetragen hatte, erschrak sie zunächst, lachte dann aber schallend und hämisch über den Ohnmächtigen. Sie spannte selbst den Ochsen an die Karre und fuhr zur Ernte auf das unrechtmäßig erworbene Ackerland. Der geschädigte Nachbar war just zu diesem Zeitpunkt auf seinem noch verbliebenen kleinen Feld voll Bitternis bei der Arbeit. Der Bosheit Wonne genießend, lud sie ihren Wagen voll der Ernte und setzte sich auf das beladene Fuhrwerk, um heimzufahren.
Jedoch war der tiefe Murmichsseifen zu passieren. Es mag das Zugtier hier vor dieser Gefahrenstelle gescheut haben . . . das Fahrzeug wankte, stürzte ab und begrub Weib und Vieh unter seiner schweren Ladung. Der Nachbar eilte herbei und erkannte das Unglück und seine Folgen.
Da mahnte die Reue über den ausgesprochenen Fluch, dessen Erfüllung nun schon begonnen hatte. Er bat um Milderung, wobei er verzweifelnd die I lande faltete: „Falle ein schwerer Stein und drehe er sich alle hundert Jahre beim Ave-Läuten der Glocken mittags dreimal, so möge der Fluch dann nimmer bestehen; aber ein Kind müsse den Gruß der Glocken aus dem Tal hören und staunenden Auges das Wunder des purzelnden Steines erblicken. Dann bleibe der Strafe, die im bitteren Zorne verlangt wurde, die Hoffnung auf Ruhe und auch auf Erlösung nicht ganz verwehrt.“
Da löste sich einst auf der Bergeshöhe ein mächtiger Stein, polterte abwärts, um aber bald an der Bergscheide, wo das Tal der Ahr sich zeigt und flach abfallend zur Südseite das Murmichstal dem Beschauer sich bietet, einen Halt zu finden. Seit undenklichen Zeiten liegt er hier fest, so, als wolle er horchend das Glockengeläute erwarten, das liier noch leise hörbar vom Tal erklingt. Doch wann wird es den Zufall geben, daß ein Kind dort beim je hundertsten Male des Jahresumlaufs die Glocke hört und das Wunder dann sieht? — Erst dann könnte die Seele erlöst werden, die bislang umherirrt dort unten in mondhellen Nächten.