Der Schreckliche
Der SchrecklicheVON LEO STAUSBERG | Es war im Kriegsgefangenenlager an der Ahrmündung |
Es wir im Kriegsgefangenenlager an der Ahrmündung in den bösen Sommertagen des Jahres 1945. Unter einem Stoß alter Bücher und Kalender, die ein wohlmeinender Zivilist eines Abends über den Stacheldrahtzaun warf, um uns wenigstens mit geistiger Kost zu erquicken, lag ein vergilbter Lederband. Ein Mitgefangener, mit dem ich zusammen eine Kochgemeinschaft bildete, fand das Buch bei der Suche nach dem so raren Brennstoff und gab es mir. Mit einem Blick hatte ich erkannt, daß es sich um eine Antiquität handelte und bewahrte den Band vor dem Feuertode. — Ich besitze ihn noch heute. — F.r gehört zu der vierzigbändigen Goethe-Ausgabe des Cotta’schen Verlages aus dem Jahre 1840.
Die unfreiwillige Muße des trostlosen Lager-Lebens auszufüllen und den nagenden Hunger zu betäuben, las ich darin und vergaß bald in der Tat die Misere meiner Lage. Unvermutet stieß ich dabei auf eine Anekdote, deren dichterische Gestalt ich unter dem Titel „Der Schreckliche“ längst kannte und als ein Kabinettstück der Balladenkunst Conrad Ferdinand Meyers hoch schätzte. Der große Schweizer hat in dieser Ballade eine zarte Liebesgeschichte der italienischen Renaissance in meisterhafter Form eingefangen. Beim Lesen wurde mir klar, daß ich auf die Quelle gestoßen war, aus der C. F. Meyer geschöpft hatte. Der Band enthält die von Goethe übersetzte Selbstbiographie des berühmten Florentiner Goldschmiedes und Bildhauers Benvenuto Cellini, der von 1500 bis 1571 gelebt hat. Das Cellinische Manuskript war ursprünglich in lateinischer Sprache verfaßt, aus der ein Unbekannter es ins Italienische übertrug. Diese Übersetzung wiederum war Goethe zugänglich für seine Übertragung ins Deutsche. Goethe vermerkt in seinen Tages- und Jahresheften aus dem Jahre 1796: „Als ich mich in die Kunstgeschichte von Florenz einarbeitete, ward mir Cellini wichtig, und ich faßte, um mich dort recht einzubürgern, gern den Entschluß, seine Selbstbiographie zu übersetzen, besonders weil sie Schiller zu den ,Hören‘ (lit. Zeitschrift) brauchbar schien.“
Das 10. Kapitel des 1. Buches dieser in drei Büchern vorliegenden Goetheschen Übersetzung beginnt mit jener Anekdote, wovon ich eingangs sprach. Um dem Leser einen Vergleich zu ermöglichen und ihn meine Entdeckung miterleben zu lassen, bringe ich zuerst den Goetheschen Text aus „Cellini“ und dann die Ballade von C. F. Meyer.
„Noch arbeitete ich in der Werkstatt des Raphael del Moro, dessen ich oben erwähnte. Dieser brave Mann hatte ein gar artiges Töchterchen, auf die ich ein Auge warf und sie zu heirathen gedachte; ich ließ mir aber nichts merken und war vielmehr so heiter und froh, daß sie sich über mich wunderten.
Dem armen Kinde begegnete an der rechten Hand das Unglück, daß ihm zwei Knöchelchen am kleinen Finger und eines am nächsten angegriffen waren. Der Vater war unaufmerksam und ließ sie von einem unwissenden Medicaster curieren, der versicherte, der ganze rechte Arm würde dem Kinde steif werden, wenn nichts Schlimmeres daraus entstünde. Als ich den armen Vater in der größten Verlegenheit sah, sagte ich ihm, er solle nur nicht glauben, was der unwissende Mensch behauptete; darauf bat er mich, weil er weder Arzt noch Chirurgus kenne, ich möchte ihm einen verschaffen. Ich ließ sogleich den Meister Jacob von Perugia kommen, einen trefflichen Chirurgus. Er sah das arme Mädchen, das durch die Worte des unwissenden Menschen in die größte Angst versetzt war, sprach ihr Muth ein und versicherte, daß sie den Gebrauch ihrer ganzen Hand behalten solle, wenn auch die zwei letzten Finger etwas schwächer als die übrigen blieben.
Da er nun zur Hülfe schritt und etwas von den kranken Knochen wegnehmen wollte, rief mich der Vater, ich möchte doch bei der Operation gegenwärtig seyn! Ich sah bald, daß die Eisen des Meisters Jacob zu stark waren, er richtete wenig aus und machte dem Kinde große Schmerzen. Ich bat, er möchte nur eine Achtelstunde warten und inne halten. Ich lief darauf in die Werkstatt und machte vom feinsten Stahl ein Eis’chen, womit er hernach mit solcher Leichtigkeit arbeitete, daß sie kaum einigen Schmerz fühlte, und er in kurzer Zeit fertig war, Deßwegen, und um anderer Ursachen willen liebte er mich mehr als seine beiden Söhne, und gab sich viele Mühe, das gute Mädchen zu heilen…“ Soweit Cellini/Goethe.
Und nun vergleiche man den Text der Ballade, die C. F. Meyer danach gestaltete:
Der Schreckliche
Benvenuto, sprich, was schmiedest
du wie rasend in der Werkstatt?
Welches ungeheure Kunstwerk?
„Messer! Scharfe, feine Messer!“
Benvenuto, sprich, was prahlst du?
Welche ungeheure Lüge
tischest auf du den Gesellen?
„Ich bin stummer als ein Fischchen.“
Benvenuto, sprich, was drohst du?
Welche ungeheure Mordtat,
die vor Abend du begehn wirst?
„Ich bin frömmer als ein Lämmlein.“
Benvenuto bringt die Eisen
Meister Jakob von Perugia,
der den kranken Finger schneidet
dem geduld’gen Kind des Goldschmieds.
Benvenutos glüh’nde Blicke
folgen jedem Schnitt des Stahles.
„Raffaella, schmerzt mein Messer?“ –
„Nein, es schmerzt nicht, Benvenuto!“
Der aufmerksame Leser wird beim Vergleich zwischen Quelle und Gedicht wohl ähnliche Freude empfinden wie ich, als mir das Goethe sche Übersetzungswerk damals an der Ahrmündung hinter Stacheldraht in die Hände kam. Die seltsamen Umstände erhöhten mir noch den Reiz der Entdeckung. Damals kam mir so recht zum Bewußtsein, welche Gnade dem Dichter gegeben ist, der da fast spielerisch aus dem scheinbar belanglosen Rohstoff einer Kurzgeschichte das Kunstwerk aus Wort und Sinn, „Gedicht“ genannt, hervorzaubert.