Der Schleier über dem Vorhang – Der Thora-Vorhang in der Ahrweiler Synagoge
Der Schleier über dem Vorhang
Der Thora-Vorhang in der Ahrweiler Synagoge
Hans Warnecke
Zum kulturellen Leben in der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler gehört inzwischen wie selbstverständlich für Ausstellungen, Konzerte und Vorträge die ehemalige Synagoge in der Altenbaustraße. Mit der festlich gestalteten Feier zum Abschluß der Renovierungsarbeiten am 27. Mai 1990 übernahm der Bürgerverein Synagoge e.V. als derzeitiger Eigentümer von der Stadtverwaltung eine Dauerleihgabe, die an exponierter Stelle in der Ostwand des Gebäudes gegenüber vom Eingang in einer Glasvitrine aufgestellt ist. Es handelt sich dabei um den Original Thora-Vorhang der Ahrweiler Synagoge. Der heutige Besucher fragt sich erstaunt, wie es möglich ist, daß nach der Zerstörung der Synagoge in der sogenannten »Reichskristallnacht« im Jahre 1938, in der das Innere des Gebäudes verwüstet und verbrannt, außerdem auch alle Kultgegenstände vernichtet wurden, ausgerechnet dieser rotsamtene Vorhang heute noch in derThoranische zu sehen ist, wo er auch damals hing. Die Antwort auf diese Frage kann nur bruchstückhaft gegeben werden. Die Geschichte dieses Vorhangs weist nämlich so viele Lücken auf, daß sie eher den Stoff für einen spannenden Roman abgeben würde, als daß sie hier in allen Einzelheiten chronologisch erzählt werden könnte. Dennoch soll versucht werden, das Schicksal dieses Vorhangs, soweit es möglich ist, zu erhellen.
Am Dienstag, dem 28. November 1989, gab die Post ein größeres Paket bei der Stadtverwaltung in Bad Neuenahr ab, das an Herrn Bürgermeister Rudolf Weltken adressiert war. Als Absender wurde ein Antiquariat in Frankfurt am Main ermittelt. Das Paket wurde im Büro des Bürgermeisters geöffnet. Zunächst dachten alle beim Auspacken, es handele sich um einen roten Teppich. Doch der beiliegenden kurzen Bemerkung konnte entnommen werden, daß hier ein Frankfurter Antiquitätenhändler den Vorhang des Thoraschreins der Ahrweiler Synagoge an das Stadtoberhaupt der Kreisstadt schickte.
Der Thora-Vorhang in der Ahrweiler Synagoge
Wie kam dieser Vorhang nach Frankfurt? Warum wurde er erst jetzt nach Bad Neuenahr-Ahrweiler gesandt? Was bedeutete der mit goldenen Fäden aufgestickte Text? Können die erkennbaren beschädigten Stellen restauriert werden? Wo war dieser Vorhang während dieser 51 Jahre seit der Zerstörung der Synagoge? Was soll mit diesem Vorhang geschehen? Nacheinander gingen der Bürgermeister, Mitarbeiter der Stadtverwaltung und des Bürgervereins Synagoge daran, Antworten auf diese Fragen zu finden. Zunächst wurde der hebräische Text übersetzt. Er lautet:
„Dieser Vorhang wurde von den heiligen Spenden angefertigt, die für den Ewigen großzügig entgegengebracht wurden, von denjenigen, die hierher nach Ahrweiler kamen, um Genesung von ihren Leiden zu erfahren. Im Jahre 5642.« Damit waren zwei wichtige Punkte geklärt. Dieser Vorhang hing früher in der Ahrweiler Synagoge, und mit der nach dem jüdischen Kalender genannten Jahreszahl war das Jahr 1882 nach Christus gemeint.
Darüber hinaus konnte aus dieser Datierung geschlossen werden, daß jüdische Kurgäste diesen Vorhang der Ahrweiler jüdischen Gemeinde bereits gestiftet hatten, als sie noch in einem Privathaus in der Plätzerstraße samstags zum Gottesdienst zusammenkam. Als dann 1894 die Synagoge in der Altenbaustraße gebaut und eingeweiht werden konnte, sorgte der Architekt bei der Gestaltung des Thoraschreins dafür, daß er genau die Maße für den bereits vorhandenen Vorhang erhielt. Die Gemeinde konnte sich glücklich schätzen, einen so kunstvoll gestalteten Schmuck für ihr Gotteshaus zu besitzen. Zwei Löwen tragen über der eingestickten Inschrift eine goldene Krone und darunter sind übergroß die hebräischen Buchstaben »K« und »T«, d. h. die jedem jüdischen Gläubigen bekannte Abkürzung für »KeterTorah« zu erkennen, was auf deutsch heißt: Thorakrone. Bei jedem Gottesdienst blickte die Gemeinde auf diesen Vorhang, die Männer von ihren unten gelegenen Plätzen, und die Frauen und Kinder von der für sie vorgesehenen Empore.
Mit der Zerstörung der Synagoge endete auch der Gottesdienst in diesem Gebäude. Augenzeugen haben berichtet, wie am Morgen des 10. November 1938 SA-Männer in die Synagoge stürmten, die Bodenteppiche, die Thorarolle, die Gebetsumhänge sowie Bücher und Schriftstücke nach draußen brachten und dort anzündeten, nachdem sie in der Synagoge die Fenster eingeschlagen und alle Bänke umgeworfen hatten.
Was ist an diesem Morgen mit dem Thora-Vorhang geschehen? Hat ihn jemand unbemerkt an sich genommen? Blieb er in der Synagoge hängen und wurde erst später abgenommen und versteckt?
Wir wissen auf diese Fragen keineAntwort. Fest steht nur, daß der Vorhang 1989 in Frankfurt auf dem Antiquitätenmarkt auftauchte. Auf Anfrage teilte der Antiquar folgendes mit:
»Vor ungefähr zwei Jahren lag ich auf der Kardiologie eines hiesigen Krankenhauses. Mit mir auf dem Zimmer war ein Mann aus Amerika, der sich hier von einem Herzspezialisten behandeln lassen wollte. Im Laufe unserer Unterhaltungen sagte ich, daß ich ein Antiquitätengeschäft habe und unter anderem auch Judaika führe, die ich vornehmlich aus Israel bezöge. Mein Zimmernachbar bot mir daraufhin einen alten Gebetsteppich an, den er mir bei seinem nächsten Aufenthalt in Deutschland brachte. Ich ließ mir den auf dem angeblichen Teppich aufgestickten Text von einem Mitglied der Frankfurter jüdischen Gemeinde übersetzen. Da erst erkannte ich, daß es sich um einen Thora-Vorhang aus Ahrweiler handelte. ImLaufe eines Gespräches mit Bekannten erfuhr ich von dem Wiederaufbau der Synagoge in Ahrweiler. Da stand für mich fest: Dieser Thora-Vorhang muß dahin zurück.«
Die Stadtverwaltung hat großzügigerweise dafür gesorgt, daß dieser Wunsch des Frankfurter Antiquars erfülltwurde. Sie ließ von einem Fachmann eine Vitrine anfertigen, in der der Vorhang faltenfrei aufgehängt wurde. Diese Vitrine ist dann in der Thoranische der Ahrweiler Synagoge, am angestammten Ort, aufgestellt worden. Aber unüberhörbar stellen sich neue Fragen:
Wie kam der Thora-Vorhang nach Amerika? Geschah das vor oder nach dem 2. Weltkrieg? Von wem erhielt der in Deutschland Heilung suchende Amerikaner den Ahrweiler Vorhang? Es bleibt zu vermuten, daß die Antworten auf diese Fragen nie gefunden werden. Die chaotischen Verhältnisse der Kriegs- und Nachkriegszeit lassen der Phantasie jede Freiheit. Alles war damals möglich.
So können wir heute geradezu poetisch sagen, daß über dem Vorhang ein Schleier liegt, den wir nicht lüften können. Der Vorhang selbst aber erinnert uns daran, daß dort in der Ahrweiler Synagoge Menschen glaubend bekannten: In der Thora gibt uns Gott den Weg zum Leben.