Der rote Mattes
– Matthias Josef Schäfer aus Heppingen —
Wilhelm Knippler
Ich versuche, einen Mann in die Erinnerung zu rufen, der zu seiner Zeit sein Dorf verkörperte, den man aber auch an der ganzen Ahr und am Rhein kannte. Wenn von ihm die Rede war, nannte keiner ihn beim ehrenwerten Familiennamen, der „Schäfer“ gab es ja so viele. Für alle war er nur „der rote Mattes“. Dieser Titel hatte übrigens mit politischer Einstellung nichts, wohl aber mit dem goldenen Schimmer seiner Kopfhaare zu tun!
Hier seine Lebensdaten: Jahrgang 1887, ab 1901 Bäckerlehre in Ahrweiler, dann Gesell in Neuenahr, von 1908 bis 1910 Militärdienst in Trier, 1911 mit 24 Jahren Meisterprüfung, im gleichen Jahr baut er sein Haus in Heppingen und macht sich selbständig, er heiratet 1912, wird 1914 zum Kriegsdienst eingezogen und 1917 verwundet in die Heimat entlassen ist auf Mitarbeit von Gesellen angewiesen, wird Innungsobermeister. Er stirbt, 63 Jahre alt, im Jahre 1950.
Alles in allem überschauen“ wir ein normales Menschenleben, aber solche gibt es unendlich viele. So ein normaler Mensch tut, was er kann, und das erinnert mich an einen Wachtmeister meiner Rekrutenzeit. Der hielt uns vor, die Soldaten sagten zu ihm, sie täten, was sie könnten. Das aber sei Mist! Ein Soldat müsse mehr tun, als er kann!
Diese Wachtmeisterphilosophie hat der rote Mattes wirklich sein Leben lang gelebt. Er hat sich nicht mit den normalen Maßstäben, mit denen man gewöhnlich ein Menschenleben mißt, begnügt.
Eigentlich hatte er genug erreicht, war aus dem Krieg zurückgekehrt, er hatte seine Familie, hatte sein eigenes Geschäft, dazu ein Ehrenamt in der Innung. Alles andere tat er zusätzlich, und dieses Zusätzliche ist der Stoff dieser Studie.
Matthias Josef Schäfer
Foto: Kreisbildstelle
M. J. Schäfer als Turnvater
Viel Kraft, viel Liebe und Opferbereitschaft widmete Schäfer dem Geräteturnen, der Körperertüchtigung und der Jugendförderung als Vorsitzender des Turnvereins Heppingen. Die Festschrift hebt 1958 würdigend hervor, daß unter seiner Führung bei Bezirks- und Gaufesten beachtliche Erfolge erzielt worden seien, daß er der Initiator des Turnhallenbaues und des Schwimmbades gewesen sei und im Jahre 1949 noch den Versuch unternommen habe, den Turnverein zu reaktivieren. Hinter dieser nüchternen Aufzählung verbirgt sich eine Mammutarbeit,
Man muß sich vorstellen, was es bedeutete, daß eine kleine Turnerschar sich an den Turnhallenbau wagte. Bauen war damals noch harte Handarbeit, und so traf man bis zwanzig Turnerkameraden beim Heranschaffen der Materialien, beim mühseligen Ausschachten, beim Mauern der Fundamente, dem Errichten der großen Stützmauer und der Gebäude oder der Gestaltung der Umgebung. Gleichzeitig erbaut und der Turnhalle angegliedert wurde eine Jugendherberge, die mit 30 Betten, einem Gruppenschlafraum und einer Küche ausgestattet war. Im Jahre 1930 war das Werk vollendet, und von da ab hütete Schäfer selbst die Bauten als Herbergsvater.
Turnhalle Heppingen
Foto: Kreisbildstelle
Turner aus Dutzenden Vereinen besuchten die Jugendherberge, viele Schulklassen kamen, Turn- und Gymnasiallehrgänge wurden dort abgehalten. Stets war der Herbergsvater dabei, meistens inmitten einer Jugend, die ihn schätzte und verehrte.
Auch den Bau des Schwimmbades, das in den Jahren 1932/33 an der Heppinger Ahrbrücke erstellt wurde, war sein Werk. Befriedigt konnte M. J. Schäfer die Vollendung von drei großen Aufgaben feststellen, die er sich vorgenommen und in wenigen Jahren verwirklicht hatte.
M. J. Schäfer im Dienste der Allgemeinheit
„Mehr tun, als man kann“, hieß es oben. Das tat der Mattes, denn er war auch kommunalpolitisch tätig, und das machte ihn zum Vater seines Dorfes. Als Mitglied des Gemeinderats von Heimersheim war er geachteter und beachteter Vertreter von Heppingen. Nur mit dem Kopfe zu nicken, war nicht seine Art.
Bei ihm zu Hause ging es zu wie in einem Taubenschlag. Oft saßen dort die Ratsuchenden wie die Kranken beim Arzt im Wartezimmer. Der rote Mattes kannte viele Menschen, darunter diejenigen, die etwas zu sagen hatten, und die Einflußreichen wußten, daß man auf das Wort des roten Mattes und auf sein Urteil sich verlassen konnte. Wer mit seiner-Situation nicht fertig wurde, kam zu ihm, weil er die Wege kannte, die man gehen muß, um etwas zu erreichen. Um der Allgemeinheit zu helfen, gründete er 1923 in Heppingen die Freiwillige Feuerwehr. Er führte den Bund der Kriegsopfer in Heppingen und Heimersheim, weil sich in diesem Bereich besonders viel Not verbarg und Rat und Unterstützung notwendig waren. Der Fahrweg zur Landskron entstand durch seine Initiative, und für den weiten letzten Weg zum Friedhof, der für die Heppinger in Heimersheim lag, erstellte er den Leichenwagen. Er war, in des Wortes voller Bedeutung, für alle Heppinger und für viele Menschen der Umgebung Helfer in allen Nöten.
Strandbad des T. V. „Landskron“ bei Heppingen, 1933
Foto: Kreisbildstelle
M. 4. Schäfer Im Dienste der Kirche
Hier war ein Feld, so recht für den roten Mattes geschaffen, denn die Heppinger Kirche war selbst für Trier ein Spezialfall. Heppingen gehörte zur Pfarrei Heimersheim und war bestrebt, selbständig zu werden als Pfarrei. Seit 1898 gab es den Heppinger Kirchen-bauverein und seit 1905 die Heppinger Kirche, seit 1906 regelmäßigen Sonntagsgottesdienst, seit 1934 ertönte eine Orgel und 1939 läuteten neue Glocken. Doch an Selbständigkeit war nicht zu denken. Zum anderen konnte der Erzbischof Bornewasser feststellen, daß alle Kirchen des Bistums ihm unterstanden mit •einer Ausnahme, der Kirche in Heppingen, „denn die gehört dem dortigen Kirchenbauverein“. Das waren die Worte des Oberhirten. Der Kirchenbauverein aber war wieder einmal in der Hauptsache der rote Mattes!
Oft war dieser mit seinen Mitarbeitern vom Vorstand, Schneider und Schmickler, beim Generalvikariat. wo sie freundliches Gehör fanden. Aber jenseits der Ahr wurde die kirchliche Loslösungsbestrebung Heppingens nicht gerade gerne gesehen. Dort, in Heimersheim, gab es aber auch Verständnis, Toleranz und sogar Unterstützung. Der langjährige Bürgermeiser von Heimersheim, Johann Josef Schäfer, war nicht nur Altersgenosse des roten Mattes, sondern in vielen Belangen sein Förderer. Manche heikle Situation haben beide gemeinsam beraten.
Ohne die warmherzige Sympathie des Pfarrers Sabelsberg aber hätte Heppingen und der rote Mattes sicher noch manches Jahr auf die kirchliche Selbständigkeit warten müssen. Während seiner Amtszeit wurde Heppingen Expositur. Entscheidend war schließlich, daß der Expositus Dreikausen mit seiner Familie 1947 in Heppingen Wohnung nahm. Der Arbeitseifer dieses jungen Priesters, sein Doppeldienst in Heimersheim und Heppingen und seine Freundschaft mit Schäfer ließen die Dinge reifen. Es war aber auch höchste Zeit, denn die Kräfte des roten Mattes schwanden zusehends dahin.
Feierlicher Einzug in die wiederaufgebaute Kirche, 1949
Foto: Kreisbildstelle
Die Heppinger Kirche war Weihnachten 1944 durch Bomben stark beschädigt, der Chor der Kirche zerstört worden. Schäfer betrachtete es als eine hervorragende Aufgabe, den Wiederaufbau und gleichzeitig einen Erweiterungsbau zu verwirklichen. Schon ,1946 begann er die Vorbereitungen. Mit dem damaligen Geld konnte man nicht viel anfangen. Die Heppinger aber hatten Wein und der Mattes einen unbändigen Willen. Er war ein Meister im Aufspüren wichtiger Baustoffe. Die Zusammenarbeit Schäfer-Dreikausen, die Opferbereitschaft und große Mitarbeit der Heppinger Bürger führte 1948 zu guten Baufortschritten. Schon 1946 hatte der Kirchenbauverein Heppingen beschlossen, sein Eigentum auf die von der bischöflichen Behörde zu errichtende Kapellengemeinde zu übertragen. Darauf beantragte 1947 der Kirchenvorstand von Heimersheim die Erhebung der Filiale Heppingen zur Kirchengemeinde, und am 1. 12. 1948 stellte Erzbischof Bornewasser die Errichtungsurkunde der katholischen Kirchengemeinde aus. Am 1.1. 1949 wurde Heppingen Vikarie. Der rote Mattes erlebte die Krönung seines Werkes am 11. 11. 1949 beim ersten feierlichen Gottesdienst in der wiederaufgebauten und erweiterten Kirche. Es war Matthias Josef Schäfers letzter Kirchenbesuch!
M. J. Schäfer, reich an Enttäuschungen
Für den roten Mattes „reiften nicht alle Blütenträume“, und sein oft gebrauchter Leitsatz, daß Hindernisse dazu da seien, um überwunden zu werden, war bitter notwendig. Es war ein Glück für ihn und die Seinen, daß er hart war im Nehmen! Während des Krieges waren Turnhalle und Jugendherberge unbenutzt, die finanziellen Verpflichtungen aber konnten nicht mehr erfüllt werden. Man mußte beide Objekte veräußern. Das Schwimmbad verschlammte und wurde Müllhalde. Schließlich wurde ausgerechnet die Kirche das einzige Bombenopfer des Dorfes.
Ihr Wiederaufbau kostete viel Kraft und Nerven. Die Aufstellung der Orgel, für die Schäfer neue Register von Walcker hinzubesorgt hatte, wurde erst 1951 vollzogen, als er gestorben war. Das Hauptziel, die Erhebung zur Pfarrei, erreichte Heppingen gar erst 1961. Als M. J. Schäfer den ersten Gottesdienst der erneuerten Kirche erleben durfte und durch die Erhebung zur Vikarie den ersten Schritt zur Selbständigkeit, da sah er zwar — wie Moses — das Ziel von ferne, er aber war bereits vom Tode gezeichnet.
Nach schwerer Operation wegen seines angegriffenen Äußeren angesprochen, meinte er sarkastisch, das seien nur Rückzugsgefechte. Leider war es mehr, ein letzter bitterer Kampf! Den Rest seiner Energie opferte Schäfer dem dorfeigenen Friedhof, aber der Instanzenweg war langwierig. Schäfer wartete voll Ungeduld, doch vergebens. Den makabren Wettlauf gewann der Tod, und der rote Mattes hätte in Heimersheim bestattet werden müssen. Vikar Dreikausen kämpfte mit beharrlicher Ausdauer, und der rote Mattes mag selbst über den Tod hinaus Einfluß ausgeübt haben. Das schier Unmögliche wurde erreicht, eine Ausnahmegenehmigung wurde erteilt. Matthias Josef Schäfer durfte in der von ihm erwünschten Heimaterde, nahe bei den Reben vom Heppinger Berg und unweit der gräflichen Ruhestätte beigesetzt werden. Es mutet an wie der Höhepunkt einer Tragödie: Er war der erste Bürger Heppingens, auch auf der Stätte des Friedens! Bei aller Trauer überwog bei den Heppingern der Stolz auf ihren roten Mattes, und man
hörte die Meinung: „Wenn der Mattes den großen Trauerzug gesehen hätte, dann wäre wahrscheinlich sein Wunsch gewesen, am nächsten Tage hoch einmal begraben zu werden!“
M. J. Schäfer als Persönlichkeit
Der rote Mattes war von kleiner Statur, aber kräftig, untersetzt, mit breitem Rücken, kurz: ein Mann, den ein Nackenschlag nicht niederwarf, ein Energiebündel. Er sah das Erreichbare, das er mit Zähigkeit erstrebte. Dabei half ihm eine gute Portion Humor. Sein Leben war nicht eingebettet in die leichtlebige Wohlstandsgesellschaft unserer Zeit. Es vollzog sich noch im Altväterrhythmus: „Tages Arbeit, abends Gäste, saure Wochen, frohe Feste!“ Sein Sparsamkeitsprinzip kannte jeder, und so kümmerte er sich um das Kleinste. Werktags durften beim Gottesdienst nur zwei Kerzen brennen, und die guten Röckel der Meßdiener blieben dem Sonntag vorbehalten. Das Fortbewegungsmittel des roten Mattes war meistens das Fahrrad!
Für sich selbst konnte er keine Reichtümer sammeln. Seine wackere Frau Petronella war sein tapferer Lebenskamerad, anspruchslos und jederzeit einsatzbereit, wenn es hieß die hungrigen Besucher der Jugendherberge mit Eintopf sattzukriegen. Ohne ihr verständnisvolles Mittun hätte der rote Mattes niemals die Vielzahl seiner Aufgaben bewältigen können.
Mit Recht bescheinigt der Totenzettel dem Entschlafenen, daß sein Leben erfüllt war von einem unermüdlichen Eifer, der ihn tatkräftig wirken ließ für Gott, seine Familie und für das Wohl seiner Mitmenschen, mit anderen Worten; er war eine Persönlichkeit.
Wenn der rote Mattes aber selbst hätte die Bilanz seines Lebens ziehen sollen, dann wäre er vielleicht traurig darüber gewesen, daß manches Ziel nicht erreicht und manches Vollendete wieder zerstört worden war, und er könnte gedacht haben: „Schade! Dabei habe ich doch das Beste gewollt!“ Lieber roter Mattes! Das war ja überhaupt das Wichtigste: unermüdlich das Beste gewollt zu haben! Und dafür sei herzlich bedankt!
Ich aber wünsche jeder Gemeinde unserer Heimat für schwere Zeiten einen eigenen roten Mattes.