Der Kyffhäuserkreis – Ein neuer Kulturkreis
Der Kyffhäuserkreis Ein neuer Kulturkreis
Manfred Burghardt
Aus dem ehemaligen Landkreis Artern, der sich schon immer gern Kyffhäuserkreis nannte, und dem Landkreis Sondershausen erwuchs im Zuge der thüringischen Gebietsreform 1994 eine neue größere Verwaltungseinheit. Während das uralte Schollengebirge, das jäh aus der weiträumigen Senke von Unstrut und Helme aufragt, auch für den Großkreis (der die Form einer langen Thüringer Bratwurst hat) als Namensgeber füngiert, wurde .mit Sondershausen eine ehemalige Residenzstadt zur würdigen Kreisstadt und damit zum Zentrum des wohl bedeutendsten „Kulturkreises“ im Thüringer Norden. Unbestritten ist die landschaftliche Schönheit des nunmehrigen Kreisgebietes mit seinen sanften Berg- und Hügelregionen, den prachtvollen Durchbrüchen der Unstrut und der Wipper sowie den Niederungen der Flüsse Helme und Unstrut. Aber nicht nur natürliche Schönheiten prägen das landschaftliche Bild in Nordthüringen. Auf Schritt und Tritt stößt der Kultur- und Kunstliebhaber auf Bauzeugen der Vergangenheit, die das wohl einmalige kulturelle Profil des Landkreises ausmachen und ihn als eine Kulturlandschaft par excellence ausweisen.
Dieser Überfülle an Kulturleistungen und historischen Ereignissen ist es wohl zu verdanken, daß kein Aufschrei durch die Bevölkerung ging, als durch die Gebietsreform die einzigartige geologische Grabungsstelle von Bilzingsleben an den Nachbarkreis Sömmerda fiel. Die Funde von Bilzingsleben beweisen: vor über 300.000 Jahren lagerte hier eine Urmenschengruppe. Ihre Lebensspuren sind dank günstiger geologischer Bedingungen bis heute unversehrt erhalten geblieben.
Eine altgermanische Wehrsiedlung bei West-greußen, die sogenannte Funkenburg, ist dafür ungleich jünger. Die Ausgrabungen machen aber gleichwohl deutlich, wie sich das Leben unserer Altvorderen gestaltete. Die sehenswerten musealen Einrichtungen in Bad Frankenhausen, Sondershausen und Greußen weisen unter anderem an Siedlungsspuren und Sachzeugen die Bedeutung der Region um Hainleite, Windleite, Kyffhäuser, Diamantene Aue und Unstruttal in ur- und frühgeschichtlicher Zeit nach.
Aber man muß im Kyffhäuserkreis nicht erst in der Erde graben, um auf Geschichte oder Geschichten zu stoßen. Überall gibt es Wegzeichen, die direkt auf die heutigen Bewohner hinführen. Damit ist keinesfalls nur der sagenumwobene Kyffhäuser gemeint mit seiner Burg Kyffhausen und dem Barbarossadenkmal. Gerade auch die Wasserburg Heldrungen – hier fand 1994 der offizielle Festakt des Freistaates Thüringen zum Tag des offenen Denkmals statt – ist solch ein Zeichen. In dieser Festung hielt man Thomas Müntzer nach der Schlacht bei Frankenhausen gefangen. Die Anlage ist heute ein bedeutendes Denkmal der Festungsbaukunst Mitteleuropas.
Gleichsam nach Südeuropa, nach Sizilien und Spanien, fühlt sich der Kunstfreund versetzt, wenn er vor dem achteckigen Kirchturm der spätromanischen Klosterkirche in Göllingen steht. Nicht anders als ein kunstgeschichtliches Kleinod ist die 8 x 8 Meter große Krypta im Inneren zu bezeichnen, die im byzantinisch -maurischen Stil erbaut wurde.
Aus der reichen Zahl von Kirchen, Burgen, Schlössern, Herrschaftssitzen und anderen Profanbauten – allein im Westteil des Kreises gibt es 750 Objekte unter Denkmalsschutz – ragt der Göllinger Klosterturm durch seine Einmaligkeit im wahrsten Sinne des Wortes heraus.
„Sondershausen um 1650“, Stadtansicht von Matthäus Merian
Daß Gestaltetes aber nur gelebt werden kann, wenn auch Zerfallenes eingesammelt und mitgenommen wird, ist am Schloß zu Sondershausen augenscheinlich. Errichtet an der Stelle einer hochmittelalterlichen Burg – am Südhang erinnern noch Mauerzüge an ehemalige Wehranlagen -, mehrfach im Laufe der Jahrhunderte baulich verändert, wurde es schließlich zum Residenzschloß Johann Günther l., dem Reichen. Gräfliche Nachfolger bauten das Renaissanceschloß zur zeitgemäßen Barockresidenz um. Auch der Klassizismus ging später nicht spurlos an dem Gemäuer vorbei. Immerhin setzten die Schwarzburg-Sondershäuser und die Schwarzburg – Rudolstädter auch da noch bauliche Akzente. Erst der jüngsten Gegenwart blieb es vorbehalten, historische Disproportionen am Gebäudekörper zuzulassen. Heutige Bemühungen zielen darauf ab, das Schloß stärker als bisher der Öffentlichkeit zu erschließen. Gewinne allerdings wird man mit den vielen Kulturdenkmalen wohl nicht erwirtschaften können. Selbst da, wo die „Massen strömen“, zum Kyffhäuser und zum Panoramarundbild Professor Werner Tübkes – einer Weltsensation -, denkt man (noch) nicht an Massenunterhaltung und Kommerzialisierung.
Die Kultur- und Touristikattraktionen in Nord-thuringen laden zum Verweilen ein. So trägt die Kreisstadt Sondershausen den Beinamen Musikstadt. „Wo man singt…“, das wußte auch Max Bruch, der wohl der bedeutendste Dirigent des mittlerweile international renommierten Loh-Or-chesters war. Max Reger war Schüler des 1883 eröffneten Konservatoriums, und Franz Liszt besuchte häufig die Stadt, in der es immer noch singt und klingt. Dafür sorgen auch heute die Musikschule, Sommerkonzerte und internationale Musikseminare.
Alle Schönheit der Welt und der Kunst haben wohl ihren Ursprung in der Kraft, eine -Liebe, auch die Heimatliebe verständlich zu machen. Und so hat Heimat hier nicht nur mit Land und Wirtschaft zu tun (für das Gedeihen letzterer sprechen ohnehin erst einige Vorboten!), Heimat, das sind auch die Dichter und Denker. Das Leben und literarische Schaffen Friedrich von Hardenbergs (Novalis) wurde nachhaltig geprägt durch seine Liebe zur jungen Sophie von Kühn, der er auf dem Schloß Grüningen bei Greußen begegnete. Hier und in der Landschaft um Artern suchte er seine „Blaue Blume der Romantik“. In Artern war es auch, wo die Vorfahren von Goethe einst Pferde beschlugen. Mit dem geflügelten Pferd wußte Johann Wolfgang dann ganz anders umzugehen. Nicht eben auf die feine, aber eben auf die Goethesche Art, ging der Dichterfürst mit seinem Zeitgenossen Johann Karl Wezel (1747 – 1819) um, dem Sondershäuser Dichter und Philosophen, von dem eine unmittelbare Entwicklungslinie zu Jean Paul und den Romantikern führt. Es ist das Verdienst der 1990 gegründeten Johann-Karl-Wezel-Gesellschaft, den aufgeklärten Dichter mit seinem naturhaften Lebensgefühl und einem humanen Bildungsideal dem Vergessen zu entreißen. Nicht unerwähnt bleiben soll, daß Christa Wolf „Auf dem Weg nach Tabou“ in Frankenhausen die Schule besuchte. Hier schließt sich der Kreis, zu dem von der touristischen Hauptstraße (Klassikerstraße) hoffentlich bald bessere Wege abgehen werden.