Der Kuckuck und der Fratzenschneider

Der Kuckuck

und der

Fratzenschneider

VON MAX BARTHEL

Dion Schurz, der Wirt vom Lindenbaum, ist ein Original und führt heute vor seinen Gästen, den Winzern und Bauern, das große Wort. Wenn er die Augen hebt, kommt ein schräger Blick von unten her. Er hat offene und doch geschützte Augen; die Brauen liegen wie winzige Sonnendächer über ihnen.

„Ihr kennt doch alle den Victor“, fragte er eben. Sie nicken und sehen ihn leibhaftig vor sich, ein kleines Männlein, etwas über einsfünfzig groß, das Gesicht verrunzelt, am Kinn einen Ziegenbart. Das ist der Sohn einer als Hexe verschrieenen Häuslerin. Kein Junge wagte es, bei dieser Frau Kirschen zu stehlen, denn dann griff eine Hand zu, so wurde erzählt, und der Junge blieb dran hängen, bis der erste Hahnenschrei die Sonne weckte.

Victor heißt auch der Unnötig, denn das war seine Redensart: „Ist ja ganz unnötig“ sagte er immer. Nach dem Tode seiner Mutter bewirtschaftete er den kleinen Acker, die Wiese, das winzige Waldstück und den kleinen Weinberg, hatte keine Frau und lief den ganzen Tag mit einem Häckelchen herum, damit die Leute meinten, er müsse viel schaffen. Rief man ihn bei seinem Übernamen, legte er die Finger an die Nase und sagte, wie erwartet, „ist ganz unnötig“. Manchmal hüpfte er auch, um die gewöhnliche Mannsgröße zu erreichen, zwei- oder dreimal in die Höhe, sich dabei auf den Stiel seines geliebten Häckelchens stützend.

Er hatte einen Freund, der mit einem Wägelchen über die Dörfer fuhr und Papier, Lumpen, Flaschen und Metall einkaufte. Einmal fand er unter altem Gerümpel eine uralte Kuckucksuhr, die er reparierte und die verlorene Stimme wiedergab. Das freute ihn so, daß er, wenn er Geld übrig hatte, alte Kuckucksuhren kaufte und in Ordnung brachte. So holte er die Frühlingsstimme des Waldes in seine Stube; auch im Sommer, Herbst und Winter erklang der Ruf. Stunde um Stunde hallte und schallte es in seinem Häuschen: Kuckuck! Kuckuck! Natürlich wurde er von nun an auch Kuckuck genannt. Darüber lachte er.

Drei Jahre war Kuckuck verheiratet, dann starb seine Frau und ließ den Mann mit dem kleinen Jungen zurück. Der wuchs auf, wurde Winzer, bekam einen Sohn, den Karl, aber der blieb nicht zu Hause, er wollte andre Vögel kennenlernen als die in den Wäldern und Weinbergen, mehr Stimmen als die mechanischen Lockrufe der altmodischen Kuckucksuhren. Karl ging in die Welt und kam nach vielen Abenteuern bis nach Siam. Von dort schrieb er ab und zu seinem Großvater.

Und wie steht es mit Mia, dem Klatschweib, der Dorfzeitung, dem Plappermaul und Funkspruch an alle? Sie ist sehr tüchtig und versteht viel von der Arbeit im Hause und im Weinberg. Der Himmel mag wissen, woher sie die Zeit hat, noch durch die Straßen zu laufen und zu klatschen. Als sie Dion die allerneueste Dorfgeschichte erzählen wollte, winkte der ab und sagte:

„O Mia, sei still, ich weiß was, was du nicht weißt: Karl, der Enkel vom Kuckuck, hat geschrieben. Ich soll dich grüßen – er bringt demnächst eine Frau aus Siam mit.“

„Danke. Nicht schlimm, Dion“, sagte Mia, „Frau ist Frau.“

„Aber eine siamesische, Mi! Die haben zu den zwei Augen wie wir ein drittes auf der Stirn! Stelle dir das vor! Karl will uns bald ein Bild von ihr schicken, du sollst es als erste sehen, Mia“, sagte Dion.

Mia rennt, was die Beine tragen können, von Haus zu Haus und erzählt den Leuten von der siamesischen Frau mit den drei Augen. Die Leute schütteln die Köpfe, lachen und sagen, das stimme nicht, Karl habe sich einen Scherz erlaubt, das Bild sei schon da, sie hätten es gesehen. Mia wendet sich stumm ab und geht davon. Nach einer kleinen Ewigkeit von drei Tagen trifft sie Dion, faucht ihn katzenhaft an, nennt ihn einen Lügner; aber der lächelt, holt ein Foto aus der Tasche und sagt:

„Glaub doch nicht, was die Leute sagen, Mia, da, schau her, Karl, hat endlich das Bild geschickt.“

Sie schlägt ihm das Filmbild einer siamesischen Tänzerin aus der Iland, zitiert einen berühmten Satz von Goethe und rennt davon. Diese Geschichte erzählte uns Dion, dann schoß er dem Herrn Lehrer einen scharfen Pfeil mitten ins Herz und fragte, warum in seiner Schule die Kinder so wenig lernen. Der Lehrer, ein Mann mit einem Römerkopf und blauen Augen, antwortete nach einem kräftigen Schluck:

„Das ist leicht zu sagen, Dion, heute kommen die Kinder ganz klein zur Welt, die brauchen ihre Zeit, zu wachsen und zu lernen. Als du geboren wurdest, Dion, warst du voll der ersten Stunde an schon so klug wie sieben Dumme zusammen. Und was bist du geworden? Der Wirt vom Lindenbaum. Da sitzest du nun und trinkst den besten Wein wie Wasser.“

Dion trank, schüttelte sich vor Wohlbehagen und wies die Behauptung des Herrn Lehrers entrüstet zurück. „Wein soll wie Wein getrunken werden“, sagte er, „entweder mannhaft und in großen Zügen, um Feuer ins Blut zu schütten oder langsam, ganz langsam, wie die Schulmeister, die sich erst anwärmen müssen, ehe sie trinken.“ Freundlicher Spott geht hin und her, die Männer lachen und trinken; im Radio wird von der großen Liebe gesungen.

Das stört die Bauern und Winzer nicht. Sie wissen Bescheid, sie kennen sich auch in der Liebe gut aus.

„Vom Lauskerl haben wir lange nichts mehr gehört“, beginnt Dion von neuem, „ihr erinnert euch doch, wie er zu seinem Namen kam? Der Kerl kratzte sich immer am Kopfe, als habe er Läuse. Eigentlich hieß er Porz und war ein großer und starker Mann. Seine Frau war eine Schönheit, ihre vier Kinder wohlgeraten. Nein, die Frau machte sich nichts aus dem Spottnamen, sie lachte darüber; er aber ärgerte sich gewaltig. Und als es ihm endlich zu dumm war, beschloß er, auszuwandern. Die Frau klagte und jammerte, aber er blieb hart und fuhr eines Tages mit Weib und Kindern nach Kanada und blieb verschollen.

Aber nach zwanzig Jahren kam er ins Dorf zu Besuch. Das war ein Fest, alle Häuser hatten geflaggt; aber keiner wagte, ihn bei seinem Spitznamen zu rufen, denn er war drüben zu Wohlstand und Vermögen gekommen und hatte das Dorf in der Hungerzeit nach dem Kriege durch viele schöne große inhaltsreiche Lebensmittelpakete unterstützt. Nun hieß er Herr Porz` vorne oder Nüster Porz hinten. Er guckte uns dumm an, und hier im Lindenbaum war es, als er und die alten Freunde zusammensaßen, schlug er mit der Faust auf den Tisch, auf den da, um den wir heute sitzen. Der Wein schwappte aus den Gläsern und der Mann aus Kanada brüllte: ,Sagt doch endlich mal Lauskerl zu mir, ihr versoffene Bande, Lauskerl! Lauskerl! Verrückt, wie?` – Da hoben wir die Gläser und brüllten wie aus einem Halse: Lauskerl! Lauskerl! Und er lachte, bis ihm die Tränen kamen. Es wurde eine wilde, eine stürmische Nacht, er erzählte viel von drüben, von der Frau und von der Kindern und versprach, mit Frau und Kindern und Enkeln unser Dorf, sein Dorf, bald zu besuchen … Komisch, Lauskerl wollte er hören, Lauskerl . . .“ Solche und andere Geschichten wurden im Lindenbaum erzählt, auch die vom Kurzschneider. Wie wars mit dem, Dion?

„Der Jung vom Schneider wollte eigentlich Schmied werden, wie der Theo, den die Leute Hufschlag nennen. Aber – kann der einzige Sohn das Handwerk seines Vaters aufgeben, auch wenn er selber stark wie ein Ochse ist Das kann er natürlich, aber der Sohn blieb der Nadel und der Schere treu und wurde Schneider. Aber er sparte gern am Stoff und machte die Hosen und Röcke einen Spann zu kurz. Sonst war er ein guter Schneider, aber ein sehr sparsamer. Und so nannten wir ihn eben Kurzschneider, und weil er dabei das Gesicht fratzenhaft verzog, verpaßten wir ihn einen zweiten Namen: aus dem Kurzschneider wurde ein Fratzenschneider.“

Von diesen und jenen wird im Lindenbaum an der Ahr und am Rhein erzählt, von großen und von kleinen Dingen, vom Kuckuck und dessen Sohn in Siam, vom Schmied Hufschlag und vom Unnötig, von der Mia und vom Lauskerl in Kanada. An den runden Tischen ist die ganze Welt zu Gast, das Leben und die Liebe, der Wein und der Spott. Beim zweiten, dritten Schoppen beginnt es; bald wirbelt alles wild durcheinander, die alte Zeit und die neue Zeit, der Mensch mit seinen Fehlern und Vorzügen, mit seinen Taten und Träumen, einmalig und vergänglich, schwach und von Dauer: Der Mensch.