„Der König in der Klippschule“
Von Wilhelm Schäfer
UM GEDENKEN AN DEN MEISTER DER IN DICHTERISCHER PROSA GESCHRIEBENEN ANEKDOTEN, WILHELM SCHÄFER,
gibt der Heimatkalender an dieser Stelle zwei seiner bisher noch nicht veröffentlichten Anekdoten nieder. – Wilhelm Schäfer ist vor zwei Jahren gestorben. Wie sein großes Vorbild Johann Peter Hebel, der unvergeßliche Erzähler von Kalendergeschichten im „Rheinischen Hausfreund“ ist Wilhelm Schäfer in seiner Kunst über die Bindung seiner rheinischen Heimat hinausgewachsen.
Während Joachim Quenzol, der vordem Feldwebel beim alten Dessauer gewesen und danach bei Leuthen zu seinem Holzbein .gekommen war, den Abc-Schützen gerade ein Y an die Tafel malte, verdrießlich genug an dem überflüssigen Buchstaben, der weder im Frieden des Alphabetes noch im Krieg seines Gebrauchs eine andere Berechtigung als die einer gelehrten Pedanterie hatte, trat unvermutet der König in die kleine Schulstube ein.
Ihm waren so viel Klagen über die Klippschule zu Ohren gekommen, daß er selber nach dem Rechten sehen und, wenn die Klagen zuträfen, dem alten Soldaten das Schulehalten verbieten wollte. Der gewesene Feldwebel wußte Bescheid: wo der König selber nachsehen kam, stand es lausig; aber er wußte auch, daß nur Unerschrockenheit ihn retten konnte. Also hob er die Kreide nicht auf, die ihm aus den Händen gefallen war, als der König sich durch die niedere Tür hereinbückte: „Joachim Quenzel!“ meldete er. „Acht Klippschüler vom vergangenen Jahr und dreizehn neue!“
„Will sehen, was Er mit ihnen treibt“, sagte der alte Fritz. „Laß er die Tafel und fange an zu dozieren:“
„Federn in Ruh!“, kommandierte der alte Feldwebel und fragte, was der König befehle.
„Was Er will“, verwies der, schon ungeduldig über den Umstand, „das Nächste ist immer das beste!“
Der Joachim Quenzel faßte in seinen Graubart, als ob er das Nächste bedächte, um auch schon seine Frage wie aus der Pistole auf den ersten Klippschüler abzuschießen:
„Wo sind wir?“
„In der Schule.“
„Und wer ist gekommen?“
„Der König!“, sauste der zweite rotbäckige Bengel empor; und auf einen Wink stand die ganze Klippschule mit strahlenden Augen da, als hätten sie das Examen mit dieser Antwort gewonnen.
Laß Er mich aus dem Spiel“, verwies ihm der König barsch den billigen Ein-, fall und stieß mit beiden Händen den Stock auf den Boden, offenbar kaum noch erwartend, daß sich hier etwas Vernünftiges begeben könnte.
Aber dem alten Feldwebel war die zweite Frage nur aus der Reihe gesprungen; ihm stand ein anderes Ziel im Gefühl, auf das er nun, sich vom König abwenden, mit Soldatenmut losging.
„Wo ist die Schule?“ traf seine Frage den dritten Klippschüler. Und als die Antwort kam: „In Berlin!“, stapfte sein Holzbein, Schüler für Schüler aufrufend, an der Bank vorbei:
„Wo liegt Berlin?“
„Im Königreich Preußen.“
„Wo liegt das Königreich Preußen?“
„In Deutschland.“.
„Wo liegt Deutschland?“
„In Europa.“
„Wo liegt Europa?“
„Auf der Erde.“
„Wo liegt die Erde?“
„In der Welt.“
„Gut exerziert“, sagte der König belustigt, als die Fragen und Antworten den raschen Kugelwechsel beendigt hatten; und es mochte ihm scheinen, daß kein Treffer dabei herausgekommen wäre; denn er fragte, auf seinen Krückstock gestützt:
„Was also weiter?“
Eben das aber führte zur letzten Frage des alten Feldwebels, der sich mit einem scheuen Blick dem König zuwandte: „Wo liegt die Welt?“, fragte er, und die Frage schien an den König selber gerichtet, weil die Bankreihe zu Ende war. Der Alte Fritz indessen hatte keine Lust, sich von einem Klippschullehrer auf metaphysische Grenzwege verlocken zu lassen, die ihm verhaßt waren. Er hatte gelernt, nach den Ursachen der menschlichen Handlungen, nicht aber nach dem Grund der Dinge zu fragen, mit dem sich die Mystiker abmühten, und an den dieser alte Soldat so täppisch rührte. Also schüttelte er unwillig den Kopf und sein großes Auge sah den Frager fast feindselig an.
Dem aber kam Hilfe; und die Hilfe brachte das einzige Mädchen, das in der Klippschule unter den dreizehn Neuen saß, weil es ein Waisenkind aus der Verwandtschaft des Schulmeisters war. Schüchtern hob es die Hand, und aus der dunklen Stille, darin die Frage „Wo liegt die Welt?“ verklungen war, kam die Antwort der Kinderstimme zurück:
„In Gottes Hand!“
Da konnte der König nicht mehr „Gut exerziert“ sagen! Als ob nicht erst auf die letzte, sondern schon auf die erste Frage „Wo sind wir?“ die eine Antwort gegeben worden wäre, in der alle ändern Fragen und Antworten hingen, so blieben die Worte in der Stille der kleinen Schulstube stehen. Nach dem Rechten zu sehen, war der König hereingetreten; und nun hatte das Rechte ihn gleichsam selber überkommen.
Um wieviel schöner muß doch dem kindlichen Glauben die grausame Welt sein als unserm Zweifel? Und was für eine Sicherung der Menschheit liegt darin, daß dem Verstand die Einfalt gesetzt ist, dachte der Alte Fritz, als er den Krückstock in die Linke nahm, an die Bank vorzutreten und dem Kind, das ihn mit dunklen Augen ansah, dankbar über den schlichthaarigen Kopf zu streicheln.
„Bleibe Er da, wo Er ist“, sagte der König doppelsinnig zu dem Joachim Quenzel, ehe er, den Sperberkopf nach seiner Art spähend vorgehoben , die Klippschule des alten Soldaten verließ.