Der Herbst in flammenden Farben

VON DR. HERMANN JOSEF BAUER

Alljährlich erleben wir das Schauspiel des bunten Herbstes. Gerade hier bei uns an der Ahr ist dieses Farbenspiel besonders prächtig, wenn die wilden Kirschen in den Bergen aufflammen oder der Wein nach der Ernte sein dunkelrotes Laub erstrahlen läßt. Ist all diese Pracht das letzte Aufflammen vor dem Dunkel des Todes in der Natur oder die sieghafte Krönung eines sich vollendenden Jahres? Wir sollten einmal nachsinnen über die Ursachen dieser Verwandlung, über Verfall und scheinbaren Tod. Wir sprechen im menschlichen Leben vom Altern und Sterben und vergleichen damit den alljährlichen Kreislauf in der Natur. Aber wie andersartig ist doch der Wandel der Natur. Im Rhythmus der Jahreszeiten haben die Bäume geblüht und gefruchtet. Ihre Blätter sind seit dem Frühjahr angereichert mit kostbaren, lebenswichtigen Stoffen. Nun aber naht der Winter. Das Lebensende der Pflanzen, vor allem der Bäume scheint gekommen. Warum das Lebensende? Die Pflanzen drohen zu verdursten. Dies klingt recht unwahrscheinlich: Im Winter vertrocknen?! Im Laufe des Sommers verdunsten die Blätter eines Baumes ungeheure Mengen an Wasser. Ist aber im Winter der Boden unterkühlt oder gefroren, läßt die Wasserzufuhr nach; denn die Wurzelhärchen können dem kalten Boden oder dem Eis kein Wasser entnehmen. Der Baum erfrieret also nicht, er vertrocknet. Die Nadelbäume kennen diese Gefahr nicht, da ihre harten „Blätter“ im Winter kein Wasser verdunsten. Es gibt natürlich noch eine Reihe weiterer Ursachen des herblichen Laubfalls. Das Absinken der Temperaturen, die immer kürzer werdenden Tage, das allmähliche natürliche Altern der Blätter und viele andere Gründe führen dazu. Für die Laubbäume heißt es, sich für den Winter einzurichten. Das einzige Mittel ist: Hinweg mit den Blättern! Jedoch sind diese angereichert mit wichtigen Nährstoffen, wie zum Beispiel Stickstoff und Phosphor, die das Eiweiß der Pflanzenzellen aufbauen. Diese Stoffe gilt es zu retten. In einem großartigen chemischen Abbauprozeß werden diese Stoffe zerlegt und den Blättern entzogen. Man ahnt kaum, welche chemischen Reaktionen sich in den Blättern abspielen. Die Eiweiße, die ja die eigentliche lebende Substanz aufbauen, müssen für das kommende Jahr gerettet werden. Sie werden aus ihren hochkomplizierten Verbindungen in einfachere zerlegt und abtransportiert.

Auch das Blattgrün, das zwar selbst kein Eiweiß ist, aber ebenso aus stickstoffhaltigen Bausteinen besteht, nimmt an diesem Abbauprozeß teil. Die Folge davon ist, daß die Blätter vergilben; denn nun werden die gelben und roten Farbstoffe sichtbar, die sonst von dem grünen Farbstoff Chlorophyll überdeckt sind. Die wertvollen Aufbaustoffe werden inzwischen im Stamm, in Zweigen und Wurzeln gespeichert, bis im nächsten Frühling die Säfte wieder emportreiben. Nun ist also in den Blattzellen Raum für die gelben und roten Farbstoffe. Sie entfalten sich mit großer Schnelligkeit in der kurzen Zeit bis zum Laubfall. Der ganze Feuerzauber erklärt sich so in scheinbar einfacher Weise und ist doch ein Wunderwerk der Natur. Die Bäume wetteifern miteinander in lodernden Farben, Hainbuchen, Birken und Ahorn erstrahlen in hellem Gelb. Espen bevorzugen Orange. Die Buchen lodern in Rot, übertroffen noch von den Flammen des wilden Kirschbaumes. Goldbraun leuchten die Eichen.

Was aber steckt hinter diesem zauberhaften herbstlichen Farbenspiel? Es sind eine ganze Reihe verschiedener Farben, die daran beteiligt sind. Da ist zunächst das Chlorophyll, das in verschiedenen Arten vorkommt und bei jeder Pflanzenart in seinen einzelnen Anteilen wechselt. Für ein und dieselbe Art aber bleibt die Zusammensetzung jeweils gleich. Dieses Blattgrün ist wohl neben dem Protoplasma — der eigentlichen Lebenssubstanz — der lebenswichtigste Stoff; denn mit ihm und der Sonnenenergie vermag die Pflanze alle wichtigen organischen Stoffe aufzubauen und erst dadurch zu leben.

Bald sind die letzten Blätter gefallen . . .

 Mit diesem grünen Farbstoff zusammen treten das gelbe Xanthophyll und das orangerote Karotin auf, das wir von den Mohren (Karotten) her kennen. Diese Farbstoffe sind aber in den Laubblättern normalerweise schwach vertreten und deshalb nicht sichtbar. Daher kommen sie erst zur Geltung, wenn das Grün abgebaut ist. Das flammende Rot der Roteiche jedoch stammt wiederum von einem anderen Farbstoff, dem Anthocyan. Es kommt erst beim Absterben des Blattes richtig zur Entwicklung, begünstigt durch das Vorhandensein von Zuckerbausteinen, die beim Abbau anfallen; denn Anthocyane sind zuckerhaltige Verbindungen. Es gibt noch weitere Farbstoffe, die jedoch weniger in Erscheinung treten und deshalb nicht alle aufgezählt werden sollen. Aber schon dieser kleine Einblick genügt, um uns in der „Zauberwerkstätte“ der Natur neue Rätsel vor Augen zu führen.

Nur wenige Wochen hält dieser Zauber an. Dann endet die prunkvolle Vollendung. Der Verfall setzt ein. Bisher hielten sich noch zwei Wuchsstoffe, die das ganze Jahr über das Leben des Baumes regeln, im Gleichgewicht. Der Kreislauf erlahmt. Eines der beiden Hormone unterliegt. Die Zeit des Blattfalls ist da.

Wenn der erste Frost einsetzt und wir in einer halben Stunde viele Tausend Blätter von einem einzigen Baume hinabsegeln sehen, glauben wir, der Baum müßte „verbluten“.

Aber dagegen kann er sich schützen. Während der Laubfärbung hatte sich am Grunde eines jeden Blattstieles eine Ablösungs- und Trennungsschicht gebildet. Es sind zarte Korkgewebe, die an einer bestimmten Stelle abreißen, wenn der Alterungsprozeß abgeschlossen ist. Ist dann ihre Zeit gekommen, so kann der kleinste Windhauch oder auch die Kälte die Gewebe voneinander lösen. Verkorkte Zellen überwuchern als Wundpflaster die Wunde. Nun ist der Baum zur Winterruhe gerüstet.

Gewiß, die Natur scheint im Herbst zu sterben. Wer aber genauer zusieht, der entdeckt zwischen den leuchtenden Blättern schon die neuen Knospen. Es herrschen weder Tod noch Ruhe. Denn während der farbenfrohe Herbst im Grau der Nebel versinkt, während das Weiß des Winters die scheinbare Ruhe bedeckt, pulst im Innern der Knospen bereits das neue Leben.