DER HEIMATKALENDER BLICKT IN DIE WELT – –
Wie das Geschehen unserer Heimat von den Ereignissen der großen Welt berührt, beeinflußt und durchwirkt wird, so gehen aus unserer Heimat immer wieder Menschen und Kräfte in die Welt. Dem Heimatkalender mag es daher auch gestattet sein, einen Blick über die Heimatgrenzen hinaus zu tun. Finnland, das Land der vorjährigen olympischen Spiele ist ruhmvoll bekanni durdi seine Sportler. Aber auch das Land selbst mit seinen 30000 Seen inmitten riesiger Wälder, mit seinen nördlichen Tundren und ihrer Lappenbevölkerung, ist von eigenartigem Reiz. Von Lappen und Renntieren berichtet die folgende Erzählung.
Ho – ho – – die Renntiere kommen!
Zu Gast bei den Lappen in Nordfinnland*)
Von P. C. Ettighoffer
Drunten im Süden, in Rovaniemi, der Hauptstadt Lapplands, am Polarkreis gelegen, hing das Renntierfleisch der ersten Märzschlachtungen schwarz und gefroren in den Trockengestellen über den Dächern. Frühjahr? Nein, Frühjahr hatten wir noch nicht hier oben, etwa 150 Kilometer nördlich vom Polarkreis, aber die Sonne schien schon wieder, sie rückte in ihrem Lauf täglich weiter von Nordosten nach Nordwesten und schwebte langsam, aber sicher, dem langen Polartag entgegen. Bald würde sie nicht mehr untergehen, sondern um Mitternacht hoch oben im Norden stehen. Bis dahin hatte es noch seine Zeit; denn immer noch lag dick und mächtig der knirschende Schnee, und die Fichten des Urwaldes standen erstarrt, wie zerzauberte Wichtelmänner, unter den Schneelasten, die ihre Äste nach unten drückten. Alle Fichten, zartgliederige Jungfrauen des Polarwaldes, waren fingerdick mit Reif bedeckt. Stahlblau und ohne Makel stand die hochgewölbte Himmelskuppe. Das war der Tag, an dem ich Aslak traf, den großen Renntiermann.
Ein starkes, breitbrüstiges Ren zog den niedrigen, kufenlosen Pulkka-Schlitten, der aussieht wie eine Wiege oder wie ein Sarg. Darin saß Aslak, ein alter Lappe mit zerknittertem, faltenreichen Gesicht, die große, bunt leuchtende Vierwindenmütze mit den daunengefüllten Zipfeln schief auf dem Kopf. Er hatte die Lenkleine um seinen rechten Arm gewunden, eine notwendige Maßnahme; denn nur so würde es ihm möglich sein, beim Umkippen des Schlittens das «durchgehende Renntier zu bändigen. Wehe dem Reisenden, der mitten in der verschneiten Unendlichkeit Lapplands vom Schlitten gleitet und sein Zugtier nicht halten kann! Es wird fortrasen, bis sich der Schlitten irgendwo zwischen Felsen und Baumwurzeln festklemmt, und dann werden bald die Wölfe kommen . . . Deshalb wickelt man sich die Lenkleine fest um den Arm.
Der Lappe Aslak und sein Ren waren gar bunt gekleidet, so wie es landesüblich und für einen reichen Herdenbesitzer schicklich ist. Am breiten Fellhalsband, das mit grünen, gelben und roten Lederstücken besetzt war, trug das Tier eine faustgroße Schelle, die bei jedem Schritt munter tönte. Schönbestickt und vielfarben war auch das Zuggeschirr und hob sich vorteilhaft vom grauen Weiß und hellen Braun des Tierhalses ab.
*) Siehe am Schlüsse der Erzählung.
„ASLAK“ Herr über 10000 Rene. Er trägt einen schweren Pelz aus den Fellen selbsterlegter Wölfe.
Das Zugseil aber reichte vom Geschirr zwischen den kräftigen Hinterbeinen des Renntieres hindurch bis zum Pulkka-Schlitten, der aus lauter dünnen, leichten und hart aufeinandergepreßten Holzplatten gefertigt war. Durch Hin- und Herschwenken seines Oberkörpers hielt der Lappe das Gefährt im Gleichgewicht. Die schrägstehenden Mongolenaugen des Mannes blinzelten strichschmal in die sonnige Schneelandschaft. Die Kälte konnte ihm nichts anhaben; denn unter seinem langen, dunkelblauen Wollrock, dem Lapintakki, der ihm bis zu den Knien reichte, trug er festanliegende Hosen aus Renntierhaut und darüber noch Wollkleidung und Gamaschen aus dem kurzhaarigen Fell der Renntierbeine. Alles war an ihm
reich bestickt, der Kragen und das Rük-kenstück seines Lapintakki, sogar der breite Gürtel, den er nach Lappenart ganz tief unter den Hüften trug.
„Willkommen!“ begrüßt mich Aslak, „sei Gast unserer Sippe, so lange du magst, wärme dich an unserm Zwölfstundenfeuer, laß dir unsere einfache Kost schmecken.“ Er sprach es mit hoher Stimme, so wie es die Höflichkeit erheischt, und zeigte auf ein Gatter, das zwischen den Urwaldstämmen sichtbar wurde.
„Dort beginnt es schon, unser Gatter“, sagte er, „nur noch wenige Kilometer, und wir sind am großen Sammelplatz der Renntiere. Du wirst staunen, Gast aus dem Süden, ja, du wirst staunen über die vielen Rene, die wir zum diesjährigen Poroerotus zusammentreiben. Dein Süden ist schön, gewiß, aber es gibt dort keine Rene, weil das Ren nur bei uns im hohen Norden seine Nahrung findet, das gute, kräftige Renntiermoos. Nur bei uns wächst es unter dem sanften Nordlicht, das so schön ist wie das höchsteigene Gewand Gottes, und Poro, das Renntier, würde im Süden vergehen vor Heimweh nach unsern Urwäldern und nach der freien, großen Tundra am Rande des Eismeeres. Sieh dies Gatter, es ist viele Wegstunden lang. Hier erblicken wir nur eine Seite davon, die andere liegt viele Kilometer weit draußen. Aber ganz langsam kommen diese Gatterwände zusammen, bis sie sich fast berühren, so daß nur ein einziges Renntier hindurchschlüpfen kann. Die Rene, die wir hier eintreiben, sollen nicht mehr seitwärts ausbrechen können, sondern müssen sich auf einem Platz versammeln, immer am Zaun entlang, der ihnen den Weg weist und ihnen unmerklich die Freiheit raubt.“
„Ja, wie geht denn das zu?“ fragte ich erstaunt. „Wie ist es denn möglich, alle diese Tiere überhaupt in den Bereich des Gatters zu bekommen?“
„Nichts ist einfacher“, belehrte der Lappe. „Vor einigen Tagen schon gingen unsere Männer hinaus in den Urwald und näherten sich einem Rudel. Die Hunde gaben keinen Laut, so kamen unsere Männer bis auf Wurfweite heran, und da schwirrte das Lasso durch die Luft, und die Schlinge legte sich dem stärksten Bullen um das Geweih. Er wurde herangezerrt, mit vereinten Kräften geworfen und bekam eine Glocke umgehängt. Aber was soll ich weiter erzählen, drüben siehst du es ja selbst.“ Hinter dem Zaun sah ich zwei starke Männer, die einen Renntierbullen am Lasso hinter sich herzogen. Das Tier versuchte hin und wieder, auszubrechen, wollte auch schon mal stehenbleiben, aber die Männer in der bunten Lappentracht, auf dem Kopf die Vierwindenmütze, um den Leib, von einem breiten, tiefsitzenden Gürtel zusammengehalten, den faltenreichen, schweren Lappenrock, hielten das Lasso fest in den Fäusten. An einem breiten, buntbestickten Fellband hing dem Bullen eine Glocke um den Hals, und dichtauf folgte das ganze Rudel. Die Tiere bewegten lebhaft ihre haarigen Ohren, ihre Augen schauten schwermütig. Schweigend glitten die Männer auf ihren Schiern dahin, die Bindungen aus gewundener Rute knirschten leise, es knirschte der Schnee, es knirschte das helle Renntierleder der großen, weichen Schnabelschuhe, Saapas genannt. Sonst war Stille ringsum in der winterlichen Polarlandschaft. Wie : schwarze Schatten bahnten sich die Renntierhunde ihren Weg durch den hohen Schnee. Ihre Lefzen trieften, dunkelrot hingen ihre hechelnden Zungen zwischen den Fängen, aber sie gaben keinen Laut, sie hielten sich sogar in einigem Abstand, um die Rene nicht zu erschrek-ken. Aus Steinwurfentfernung folgten sie dem Rudel, hielten jedes Tier scharf im Auge. Plötzlich schlugen alle Hunde gleichzeitig an und jagten einem Punkt zu. Dort versuchten einige Jungbullen, nach hinten auszubrechen. Sie richteten sich auf, sie schlugen mit den harten Schalen ihrer Vorderläufe gegen die
Munde, die geschickt auswichen, um danach wieder rasch vorzuschnellen — Pulverschnee wirbelte empor, Atemfahnen wehten. Endlich drehten sich die Jungbullen wieder um und setzten sich gehorsam in die Spur.
„Jetzt hast du unsere Renntierhunde bei der Arbeit gesehen“, sagte stolz der alte Aslak. „Unsere Hunde stammen vom Wolf ab, seit Jahrtausenden sind sie bei uns Lappen, sie wissen genau, worauf es ankommt, sie sind unersetzlich.“
Die beiden Männer drüben hatten Aslak erspäht und riefen Begrüßungsworte herüber. Die Gatterwände strebten jetzt von beiden Seiten immer näher zusammen. Schon waren die Rudel der Rene gezwungen, sich in eine lange Reihe aufzulösen, dann kam ein Gang, den sie einzeln durchliefen. Sie eilten, um das Leittier da vorne nicht aus den Augen zu verlieren. Nur wenige Schritte dieser schmale Gang, in dessen Beengtheit es kein Umdrehen und keine Flucht mehr geben konnte, dann wichen die Gatterwände jäh zurück und umspannten in weitem Bogen einen großen Platz, eine kilometerlange und kilometerbreite Lichtung im Urwald. Vielleicht war es auch nur ein gefrorener See. Es war jedenfalls eine recht bedeutende Freifläche, und nur darauf bewegte es sich ohne Pause. Immer rund, immer rund, immer an den inneren Gatterwänden entlang, wie Tiere im Käfig, zogen tausende, abertausende Rene, langsam, bedächtig, ohne Hast, aber Schrecken in den großen, feuchtblickenden Augen. Kein Laut, kein Geschrei, kein Hundegebell. Nur das Knirschen des Schnees unter den breiten, harten Schalen.
Abertausende Rene zerstampften den Schnee — knirsch-knirsch-knirsch — ein unerhörtes Gewoge von hellbraunen Rücken und grauen Flanken, wie das stolze, hoheitsvolle Dahinströmen eines Urwaldflusses, und auf der Oberfläche, schwimmendem Astwerk gleich, das Dickicht der unzähligen Geweihe.
Darüber, als bläulicher Nebel, hing die Atemfahne der Unzähligen, wehte empor, gefror dann in geringer Höhe, rieselte als schütterer Schnee herab, und in der eisigen, windstillen Luft stand eine unbeschreibliche, aufreizende Witterung; es roch nach Wildnis und Tierwärme.
Drüben, am Rande des großen runden Platzes, warteten buntgekleidete Männer, jeder mit einem wurfbereiten Lasso. Scharf spähten ihre Augen über die stetig wandernde Renntiermasse hinweg. Jedes Tier trägt die Einkerbung seines Besitzers im Ohr, und für jede Herde gibt es eine gesetzlich eingetragene Ohrmarke aus Zacken und Schnitten. Dichtgedrängt zogen die Tiere vorbei auf ihrem nimmermüden Rundweg. Die Männer prüften die Biegsamkeit ihrer Wurfseile. Sie hatten die Schnüre gut mit Renntierfett eingerieben oder mit dem scharfriechenden Tran aus der Leber des Eismeerdorsches. So froren sie niemals ein und konnten niemals hartfrieren, auch nicht bei größter Kälte.
Von Zeit zu Zeit warf einer der Männer sein Lasso. Es durchzischte wie eine Schlange den kalten Nebel aus Atemfahnen und legte sich blitzschnell mit seiner Schlinge um das Geweih des erwählten Tieres. Die Männer zogen und holten das gefangene Ren aus dem ziehenden Rudel, brachten es hinter den Zaun, wo sich einige größere und kleinere Plätze öffneten, alle rundum vergattert und geschlossen. Jeder dieser Plätze war der Auftriebsort einer Sippe oder eines Herdenbesitzers.
„Komm, wir klettern hier über den Zaun, drüben sehe ich meine Söhne schon bei der Arbeit“, sagte Aslak und band sein Zugtier lose an einen Birkenstamm. Das Tier senkte sofort sein Geäse zur Schneefläche hinab, witterte einige Sekunden lang, fing dann emsig an zu scharren. Unter den Schlägen seiner Vorderläufe stäubten die Schneekristalle. Dann fraß das Ren gierig die freigelegte Fläche des hellgrünen, vielgezackten Renntiermooses, untermischt mit losem Schneegeriesel, Futter und Tränke zugleich. Wir aber, Aslak und ich, kletterten über das Gatter und traten zu den Söhnen und Knechten, die unverdrossen arbeiteten. Alle paar Minuten schwirrte das Lasso, seine geschmeidige Schleife sirrte durch eine Öse aus blankem Renntierknochen, und wieder war ein Ren gefangen. Oft waren es ältere Tiere, die solchen Auftrieb bereits mehrere Male mitgemacht hatten, sie wehrten sich kaum. Die Jungtiere aber waren besonders wild und mußten geworfen werden. Zwei, drei Männer hielten sie am Boden, der geschickteste unter ihnen zog seinen Puukko, das finnische Dolchmesser, und »schnitt dem noch Ungezeichneten mit raschen Griffen die vorgeschriebene Kerbe ins Ohr. Jeder Besitzer hat das Recht, alle Jungtiere, die seinen Muttertieren folgen, mit der eigenen Ohrmarke zu zeichnen. Im Vorsommer verlassen die Jungtiere ihre Mütter, dann wäre die Feststellung einer Zugehörigkeit ohne diese Ohrkerbung nicht mehr möglich.
Die eingefangenen Rene schritten am Gatter des kleinen Platzes entlang. Und auf allen den vielen kleinen Plätzen am Rande des großen Auftriebplatzes war es ebenso. Immer und überall schwirrten die Lassos, und nach Stunden begann sich die Herde auf dem Mittelplatz zu lichten; jeder Herdenbesitzer hatte die meisten seiner Tiere eingefangen und auf seinen eigenen kleineren Platz gezogen. Die frischgekerbten Tiere schüttelten ihre beschnittenen Ohren, an deren Rändern es rot leuchtete von geronnenem oder bereits gefrorenem Blut.
Aslak begann nun den Lagerplatz für die Nacht herzurichten. Den Pulkkaschlitten seiner Söhne entnahm er eine scharfe Axt und ein breites Beil und überkletterte weder das Gatter. Er suchte tote Fichten, die seit Jahren schon ast- und rindenlos dastanden, von Winden und Wettern völlig ausgetrocknet, mit grünlicher Patina übermalt.
Die Rudel sind aus dem Urwald zusammengetrieben und werden auf den umgatterten Auftriebsplatz gebracht.
Seine Axthiebe fraßen sich in das mürbe Holz, krachend fiel ein Stamm, dann noch einer. Der Alte schleifte sie nebeneinander, suchte dann eine armdicke grüne Fichte, fällte auch sie und hieb aus ihrem Stamm zwei ellenlange Stöcke, die er auf zwei Seiten abflachte. Mit kleinen, raschen Beilhieben rauhte er die glatte Fläche der beiden trockenen Stämme auf und rief dann seine Söhne herbei. Sie kamen und halfen ihm, die schweren Hölzer aufeinanderlegen, das grüne Paar der Fichtenknüppel als Trennung. Ein Stamm lag unten im Schnee, über ihm die grünen Scheite, darauf der zweite Stamm. Die Stämme waren so gelegt, daß der schwache Wind an den Stämmen entlang streichen mußte. Die Söhne brachten kienige Holzscheite, schnitzten sie mit dem Puukko zu kleinen Spänen, zündeten sie an und steckten sie in den handbreiten Raum zwischen die beiden Baumstämme. Zuerst lang, dann kräftiger, fraßen die Flammen an den Stämmen entlang, weißer Rauch quirlte
empor, es duftete herb und weihevoll nach Harz und Wärme. Ein solches Feuer brennt ohne Nachlegen gut und recht zwölf Stunden lang.
Inzwischen hatte sich die Lappensippe auf dem Platz des Rentierauftriebes versammelt. Die Frauen waren fast genau so gekleidet wie die Männer, nur trugen sie, statt der großen Vierwindenmütze, «kleine, enganliegende Kappen aus Stoff und Renntierfell. Ihre fettglänzenden Haare waren fest in Zöpfe geflochten. Emsig packten sie die kleinen Pulkkas und auch die großen Transportschlitten aus. Die alte Großmutter trippelte mit dem kupfernen Kaffeekessel herbei. Ihrer Meinung nach ist dieser Kaffeekessel die größte Kostbarkeit der Sippe. Wo käme das wandernde Lappenvolk hin ohne den kupfernen Kaffeekessel! Die Alte schaufelte einige Handvoll Schnee in den Kessel. Mit ihrem Puukko schnitt sie eine Astgabel aus hartem, grünem Holz, wuchtete sie jäh und tief in den Boden, daß die Spitze schräg und dicht über dem Feuer zu stehen kam. Daran hängte sie den rußgeschwärzten Kaffeekessel. Mit lauter Stimme gab sie ihre Anordnungen, und die Worte kamen schrill und rollend aus ihrem zahnlosen Mund. Sie war ja die Sippenalte, und jedermann zollte ihr Achtung. Sie ging in die Hocke und knetete Schneeballen, die sie in den Kupferkessel warf, ihre harten, krallenartigen Finger wurden ganz rot vom emsigen Tun im losen Schneegeriesel.
Die jüngeren Söhne undTöchter packten derweil das große Zelttuch aus. Einige Stangen aus grünem Holz wurden geschlagen und in den Schnee gerammt, daß sich die Spitzen oben berührten, fertig das Gerippe des Lappenzeltes. Darüber spannten die Frauen ein hartes Tuch und beschwerten es mit Ästen und Schnee gegen aufkommenden Wind. Es reichte keineswegs bis zum Gipfel der Stangen, sondern bedeckte das Zeltgerippe nur bis zur halben Höhe. Es kam ja auch gar nicht auf ein geschlossenes Zelt an. Der Lappe verlangt keineswegs ein Dach über dem Kopf, sondern nur einen Windschutz. Sein Dach ist das Firmament, sein Zelt die endlose, dunkle Himmelskuppe mit den unzählbaren, großblinkenden Sternen, die oft genug unter dem geheimnisvollen Schleierwehen des Polarlichtes verblassen.
Der Tag neigte sich dem Ende zu, und aus der stahlblauen Unendlichkeit fiel schneidend die Polarkälte der beginnenden Nacht.
„Komm nur herbei, Fremder“, krähte die zahnlose Alte, „es ist genug Platz für alle am Zwölfstundenfeuer. Den Kaffeekessel werden wir oftmals frisch füllen müssen, denn unsere Männer arbeiten schwer. Solch ein Auftrieb bringt Freude, aber auch viel Arbeit. Die Renntierscheidung ist ja unser Hauptfest im Jahr; sie schafft Verdienst, warum sollte nicht auch mal die Zunge gehen. Nachher müssen wir wieder lange Monate hindurch schweigen in der Einöde.“
„RENNTIERBESITZER“ Diese sind keine reinrassigen Lappen, sondern Misdllinge aus Fenoskandien
„Großmutter, warum behaltet ihr denn die Rene nicht immer bei euch?“ fragte ich verwundert, „dann hättet ihr ja die Tiere ständig unter Aufsicht.“
Die zahnlose Alte lachte belustigt über soviel Unkenntnis. „Man kann diese Tiere doch nicht einfach hinter Gatter sperren wie Kühe in den Ländern des Südens. Es sind nur wenige, die wir als Schlittentiere benutzen können, diese bleiben immer bei uns, wir binden sie nachts an, damit sie nicht entweichen, aber alle anderen Rene müssen nach jedem Auftrieb schnellstens wieder freigelassen werden. Woher sollten wir diese Unmasse Futter nehmen? Die Tiere suchen sich ihre Weide selbst. Das Ren ist und bleibt ein wildes oder halbwildes Tier.“ So erzählend, zog die Sippenalte ihre Stummelpfeife aus der Tasche und stopfte sie mit schwarzem, starkem Tabak. Sie zündete mit einem Kienspan und saugte den Rauch tief ein. Ihre Lippen schmatzten, ihre schrägliegenden kleinen Augen glänzten vor Freude und Genuß. Bei jedem Zug aus der Pfeife umpreßten ihre farblosen, dünnen Lippen das nikotinverfärbte Mundstück aus Renntierknochen.
„Erzählt mir doch bitte einiges aus dein Leben der Renntiere“, bat ich, „meiner Sippe drunten im Süden möchte ich es weitererzählen und niederschreiben möchte ich es, damit viele Menschen es lesen und erfahren, wie ihr Lappen im Lande der großen Kälte lebt.“
Die Alte breitete ein Renntierfell über den Schnee und hieß mich setzen, das Gesicht zum Feuer. „Ja, so ist es, bei euch im Süden weiß man zu wenig von unserem Dasein im schönen Norden. Das ganze Jahr über, bis zur Zeit der Renntierscheidung, bleiben unsere Herden draußen. Wir wissen ja, welche Strecken unsere Rudel zurücklegen, hin und wieder erblicken wir eines der Tiere irgendwo im Urwald oder in der Tundra.
Mit einsetzender Schneeschmelze beginnt die große Wanderung zum Norden, bis an die Eismeerküste, wo das gute Renntiermoos reichlich wächst. Wir Menschen setzen uns in die Spur der ziehenden Rudel, aber das Tempo bestimmt der Leitbulle. Am Ende der Wanderung, manchmal schon oben an der Baumgrenze, wo der Urwald aufhört und die Tundra beginnt, etwa im Mai oder Juni, verbergen sich die Renkühe, um zu kalben. Solch ein neugeborenes Ren ist schwach und hat viele Feinde. Hoch oben schwebt Kotka, der Adler, und späht mit scharfen Augen herunter, um bei günstiger Gelegenheit herabzustoßen und das Neugeborene zu ergreifen. Auch Ahma, der Vielfraß, sucht seine Beute in den Rudeln. Vergebens richten sich die Mütter auf, um mit den harten Schalen ihrer Vorderläufe die Jungen zu verteidigen, es gelingt ihnen selten, die listigen und mächtigen Feinde zu vertreiben. Manchmal greift Ahrna, der Vielfraß, auch die stärksten Rene an, springt ihnen ins Genick, krallt sich dort fest und saugt dem entsetzt fliehenden Tier das Blut aus, bis es zusammenbricht.
Ein Renkalb wächst aber rasch auf der Eismeertundra im Glanz der Mitternachtssonne, die nicht mehr untergeht. Sobald die ersten kalten Nächte im August wieder Eis bringen, sammeln die Bullen ihre Rudel, und langsam zieht die Herde nach Süden, dem Urwald zu, wo die Moosweide noch unberührt liegt. Dort gibt es genug Futter für den längsten und härtesten Winter. Geht der Septemberregen gleich in Schnee über, dann ist alles gut; unter der Schneedecke liegt wohlverwahrt die gute Moosweide. Schlimm ist es aber, wenn der Frost zu früh einsetzt. Das vom Regen durchweichte Moos wird mit einer harten Eisschicht überzogen, und die Renntiere müssen grausam verhungern, weil sie durch die Eisschicht nicht an ihr Futter können. Dann gilt es, rasch die Rudel zusammenzutreiben und zu schlachten, ehe sie verelenden.“
Die Alte erklärte dies und erzählte jenes, und derweil fingen Aslak und seine Söhne die Rene mit dem Lasso ein, zogen sie in den kleinen Auftriebplatz, kerbten die Ohren der Jungtiere und zeichneten die überflüssigen Jungbullen und die alten Tiere für die Schlachtung am folgenden Morgen. Die Frauen aber waren mit dem Herrichten der Mahlzeit beschäftigt. Im Kupferkessel wallte der Kaffee auf mit braunem Schaum. Die alte Lappin goß etwas von diesem heißen, dunklen Trank in eine Holztasse, die sie am Gürtel ihres schöngestickten Rockes trug, es war eine Tasse aus schöngemasertem Birkenholz. Der Trank fand nicht ihre Zustimmung, sie schüttete alles wieder in den Kessel zurück. Solch ein Kaffee muß lange kochen, stark muß er sein. Im Kirchdorf verlangen die Händler unerhörte Preise und schöne Renntierfelle für den Kaffee, deshalb galt es, das Gemahlene gut zu nutzen, zweimal, dreimal aufkochen und stark süßen, solange man Zucker hat. Ist der Zucker ausgegangen, dann wird Salz genommen. Wie mag es gewesen sein, als die Ureltern noch nichts von dieser Köstlichkeit des Kaffeegetränks wußten!
Während die Sippenalte sich um ihren Kaffeekessel und die Bereitung des braunen Trankes kümmerte, beaufsichtigte die Frau des Aslak, Mutter vieler Söhne und Töchter, den großen Kochkessel. An drei Stangen aus grünem Holz hing dieser Kessel über dem Feuer, hochauf mit Schnee igefüllt, der rasch schmolz. Die Frau tat große Stücke Renntierfleisch in den Suppenkessel, harte, trockene vorjährige Rippen, die wochenlang in den Trockengestellen über den Dächern der Siedlungen gehangen hatten und schwarz und fast steinhart geworden waren in der keimfreien, eisigen Luft der Arktis. Unter bergenden und warmhaltenden Fellen holten die Töchter eine Schürze voll Kartoffeln hervor. Und Mehl schöpfte die Mutter aus dem zugebundenen Bein einer sauberen Frauenunterhose, von dünnem Renntierfell ohne Haare gefertigt. Eine solche Unterhose voll Mehl mußte früher für den ganzen Winter reichen; Getreidefrucht ist gar kostbar im eisigen Norden, und die Händler im Kirchdorf verschenken nichts. Mehl ist und bleibt für den Lappen das köstliche Produkt südlicher Felder, den Renntierleuten eine Kostbarkeit, für deren Aufbewahrung die beste Unterhose der Sippenalten gerade gut genug ist. Während die Töchter die geschälten Kartoffeln in den großen Topf warfen und tüchtig salzten, zerschnitt die Mutter hartgefrorene Renntierlenden, zerteilte sie mit kurzen Beilhieben, tat reichlich Fett in eine flache Eisenkelle, »die als Bratpfanne diente, hielt diese Pfanne an langem Stiel über die Flamme, bis es brodelte und zischte. Sie warf die Fleischstücke in das heiße Fett. Bläulicher Fettdunst wehte über den Platz. Mit ihrem hölzernen Kaffeebecher griff die Mutter in den Mehlvorrat, streute vorsichtig und schwitzte sparsam das brodelnde Fleisch.
Die Sonne war untergegangen und hatte nur einen roten Streifen am Horizont zurückgelassen. Schneidend wie die Schärfe einer Puukko-Klinge stand die Polarkälte in der stahlblauen Dämmerung. Die Sippenalte klatschte in die Hände, und alle, Männer und Frauen, kamen herbei und setzten sich auf Renntierfelle rings um den dampfenden Kessel. Die flackernden Flammen des Zwölfstundenfeuers beleuchteten alles mit magischem Schein, diese Menschengruppe in bunten Kleidern, das Windzelt, die Kochkessel, den Schnee. Und aus einiger Entfernung schauten die großen, demütigen Augen der stummen Renntiere.
Jeder zog seinen Puukko aus der Hüftscheide und den Holzlöffel aus dem Stiefel, und mit langsamen Bewegungen, wobei die jüngeren Leute dem Alter den Vorrang ließen, fischte sich jeder zuerst einmal ein ordentliches Stück Fleisch aus der Pfanne, spießte es auf die Messerspitze, um nach Belieben davon abbeißen zu können. Die Löffel wurden in den großen Kessel getaucht, und bald war es nur ein einziges großes Schmatzen und Schlürfen, manchmal auch ein Grunzen der Zufriedenheit. Die Sippenalte blies jeden Bissen kräftig an, ehe sie ihn fast ungekaut herunterschluckte. Zum Verarbeiten der besonders harten und zähen Fleischbrocken fehlten ihr die Zähne. Manchmal ließ sie das Fleisch wieder auf ihren Lippen erscheinen, hielt es mit den dunklen Zahnstummeln fest und zerfaserte es mit den Fingern. Mit ihrem Holzbecher aus Maserbirke schöpfte sie fettigen Brei aus dem Kessel, blies noch zwei-, dreimal darauf und spülte damit die Fleischbrocken in ihre Kehle.
Langsam leerte sich der Suppenkessel. Die Knochen warf man den Hunden hin. Nun reichte die Mutter flache Brotfladen, aus Gerstenschrot gebacken. Damit aß jeder sein Fleisch auf. Das übriggebliebene heiße Fett wurde in hölzerne Becher gegossen, die reihum gingen. Jeder nahm einen großen Schluck Fett, schob einen Bissen Gerstenbrot nach, dann wurden Löffel und Puukkos abgeleckt und weggepackt. Allen hatte die Mahlzeit, die einzige des Tages, wirklich gut geschmeckt, und Aslak gab dies durch lautes Rülpsen zu erkennen.
Nun brachte die Großmutter den kupfernen Kaffeekessel. Rasch wurden die Schöpftassen mit einer Handvoll Schnee gereinigt und dann voll Kaffee gegossen. Jeder nahm ein Stück Zucker zwischen die Schneidezähne und goß den heißen Trank langsam, am Zucker vorbei, in den Schlund. Zweimal, dreimal wurden die Tassen nachgefüllt, und dann war die Zeit des Tabaks gekommen. Jeder zog seine Pfeife, die Sippenalte bekam ihre Pfeife zuerst in Brand und blies den blauen Dunst durch die Nasenlöcher an sich herab.
Junge Lappenmädchen. Der Renntier-Auftrieb ist zugleich der alljährliche Hochzeitsmarkt.
Die Schwiegertöchter des Aslak machten ihre Säuglinge für die Nacht zurecht. Sie schnallten die Kinder aus den starren, engen Wiegen, die aussehen wie kleine Särge. Während der ersten zehn Lebensmonate sind diese Wiegen der ständige Aufenthalt der Lappenkinder. Wohlverschnürt, zugedeckt bis zum Kinn, machen die Kleinkinder alle diese langen und beschwerlichen Schlittenfahrten mit. Die dachähnliche Biegung am Kopf der Wiege schützt vor dem Schnee, den jedes trabende Ren mit seinen kräftigen Hinterläufen emporwirbelt. Nur abends werden die Säuglinge aus ihren Hüllen genommen. Die Enkel Aslaks‘ streckten wohlig ihre prallen Glieder, sie strampelten und jauchzten trotz der eisigen Luft, die sie anwehte. Die Mütter rissen das feuchtgewordene Renntiermoos aus den Wiegen, holten frisches Moos aus einem Pelzsack. So, nun wurden die Kleinen wieder eingepackt und verschnürt und bekamen ihre reichliche Milchmahlzeit. Dann wurden die Wiegen aufrecht in den. Schnee gestellt. Angestrahlt von der Wärme des Feuers, schliefen die Kinder bald ein.
Die Frauen zogen aus einem Fellbeutel ihre Handarbeiten; denn es war unschicklich, müßig am Feuer zu sitzen. Sie steckten hartgefrorene Renntiersehnen der vorjährigen Schlachtung in den Mund und kauten sie weich. Ihre gesunden Zähne kneteten die Masse, dann zogen sie die dünnen Schnüre zwischen den Lippen hervor, hielten sie gegen ihre runden Wangen und fuhren mit der Handfläche rasch auf und ab, um aus diesen Sehnen harte Fäden zu drehen, Nähzeug für Kleider und für das bunte Ledergeschirr der Rene.
„Nach diesem Renntierauftrieb werden wir uns alle im Kirchdorf Sodankylä treffen“, sagte Aslak und paffte dicke Wolken aus seiner Pfeife. „Du mußt wissen, in Sodankylä allein erfahren wir alles, was sich im Laufe des Jahres zugetragen hat. Dort wird eingekauft, dort werden Hochzeiten gehalten und Kinder getauft, und der Herr Pastor hat viel zu tun– mit uns Lappen, besonders wenn mal wieder ein Kerl dabei war, der nicht ehrlich blieb.“
„Oho, gibt es das auch?“ wunderte ich mich, „und wieso kann ein Lappe unredlich werden, er kommt doch mit niemanden zusammen.“
„Und doch ist es so. Wenn zum Beispiel ein Renntiermann die Knechte seines Nachbarn mit Geld und Tabak besticht und sie veranlaßt, den Jungtieren ihres Herrn seine und nicht des Brotgebers Ohrmarke einzukerben. Im nächsten Jahr gehören diese Tiere dann demjenigen, dessen Ohrmarke sie tragen, mit anderen Worten, sie wurden dem rechtmäßigen Besitzer durch Unredlichkeit der Knechte gestohlen. Aber ich will dir ein Erlebnis aus meiner Jugend erzählen.“
Die Frauen sahen sich an und schauderten vor Angst, sie wußten sicher schon, daß jetzt eine der bei Lappen so beliebten Gespenstergeschichten kam. „Bei solch einem Poroerotus also, an meinem vierzehnten Lebensjahr“, sagte Aslak langsam und gewichtig, „da zog ich mit
meinem Vater — Gott habe ihn selig in seinem himmlischen Reich! — mit meinem Vater also zog ich gen Sodankylä, nach dem Auftrieb. Es wurde bereits dunkel, mein Vater fuhr im Pulkka voraus, ich hinterher. Plötzlich scheute das vordere Ren. Mein Vater warf dem Tier seinen Holzstab vor die Läufe, so wie es üblich ist, um es anzuhalten, und es stand sofort und wagte nicht den Stab zu überschreiten. Und da sahen wir einen langen Zug Renntiere vorbeikommen, an die zweitausend Tiere. Der Anführer hatte das eingefettete Lasso um das Geweih des Leitbullen geschlungen. Der Mann war übernatürlich groß, sein Haupt reichte bis zur Mitte der verschneiten Fichten, seine Füße waren fast so groß wie Kinderwiegen. Mit jeder seiner Hände hätte er bequem eine hundertjährige Fichte umklammert. Wir waren entsetzt, aber mein Vater blieb kaltblütig und grüßte den Fremden recht artig, so wie es bei uns Sitte ist: „Wohin geht der Papa?“
Da öffnete der Riese seinen Mund, und die Rede schallte dumpf wie Gewitterrollen aus seiner Kehle: „Ich bin nicht der Papa!“ brüllte er, und beim Donner dieser Stimme rutschten die Schneelasten von den Bäumen, „ich bin nicht der Papa, vernehmt es, ihr Lappen, ich bin der Knecht vom Großen und ziehe zum Kirchdorf, um an der Beute teilzunehmen. In Sodankylä werdet ihr näheres über diese Rene hier erfahren.“ Sprach’s und war verschwunden, und mit ihm die Herde. Unsere Rene trabten entsetzt los, sie rasten mit uns durch bis zum Kirchdorf. Dort fanden wir die Lappensippen versammelt, und alle flüsterten geheimnisvoll. „Habt ihr die große Sache vernommen?“ fragten sie. Nein, wir hatten sie nicht vernommen, und da sagten sie uns, der große Renntiermann Eino Köngäs sei vor zwei Stunden erst verstorben, der steinreiche Sippenalte. „Ja ja, so ist es nun einmal“, sagte mein Vater und stopfte sich die Pfeife, „sterben müssen wir alle einmal, und vor Gott ist der reichste Renntierbesitzer nicht mehr und nicht weniger als der lausigste Knecht.“
Renntier-Auftrieb am Fuße des höchsten Gipfels Lapplands (500 m)
So sagte mein Vater, und sie schauten ihn von der Seite an, und ihre Tabakspfeifen gurgelten und die Pelze stanken, und alle schwiegen, bis die Großmutter die Sache erklärte. Solch eine Großmutter ist alt und darf ruhig darüber reden, auch über alles, was die Verstorbenen angeht, weil sie selbst keine Angst mehr zu haben braucht vor dem Gespenst mit den eisernen Zähnen. „So und so ist es geschehen“, sagte die Großmutter, „und der Eino Köngäs hat die Knechte der anderen Renntiermänner mit Schnaps und mit Tabak, auch schon mal mit Geld, bestochen, und sie haben vielen Jungtieren die Ohrmarke des Eino Köngäs eingekerbt, und so hat sich der Alte nach und nach einen unredlichen Reichtum erworben, und jeder hat es geahnt und keiner wagte es ihm nachzuweisen. Und jetzt ist er tot und wird uns wahrscheinlich als Gespenst mit eisernen Zähnen schrecken.“ Da fingen wir an zu beben, ich und mein Vater, denn wir wußten, daß wir zur Todesstunde die gestohlenen Rene gesehen hatten, und Gott, der gerechte Richter, hatte sie dem Großen, dem Saatana, überlassen, zusammen mit der Seele des Unredlichen, und dieser »Riese war der Knecht des Saatana und hatte die Herde abgeholt.“
Der Alte stopfte sich eine neue Pfeife, und diese Pause benutzte ich, um nach den Gespenstern mit den eisernen Zähnen zu fragen.
„Ja, das ist so eine Sache“, meinte er bedächtig, „wenn ein Unredlicher stirbt, wachsen ihm eiserne Zähne. Damit frißt und kaut er sich an die Erdoberfläche zurück und wird Gespenst. Wehe, wenn du ihn unterwegs triffst und dich nicht mehr retten kannst! Seine eisernen Zähne zermalmen dich mit Haut und Knochen. Deshalb bettet man einen Mann, der unredlich im Leben war, nach seinem Tode auf den Bauch, Rücken nach oben. Sobald ihm die eisernen Zähne gewachsen sind, fängt er an zu kauen, aber er kaut sich selbst immer tiefer in den Boden hinein bis in die Hölle. Noch wochenlang hört man am Grabe das Knirschen der eisernen Zähne — krach und knirsch und Jammer, hast du so etwas erlebt und gehört — krach und knirsch und Jammer und knirsch — nach! Er frißt sich hindurch, der Bösewicht, nach Monaten ist das Knirschen nur noch ganz schwach, so tief liegt er schon, und dann ist er in der Erdmitte gelandet, in der Hölle, wo alles vor Eis und Kälte erstarrt ist und wo die Verdammten ohne Zelt, ohne Feuer und ohne Renntierfelle auf Eisblöcken sitzen müssen, von Ewigkeit , zu Ewigkeit.“
Aslak schwieg und blickte rundum, und es war ihm ein Vergnügen, zu sehen, wie die Frauen bebten und vor Angst zitterten. Einige klapperten so mit den Zähnen, daß es sich schier anhörte wie das Nahen eines Gespenstes mit eisernem Gebiß. Nur die Großmutter blieb ungerührt, .sie hatte diese Geschichten schon viel zu oft gehört. Immer wieder bemühte sie sich um den Kaffeekessel. Der Kaffeeverbrauch bei den Lappen ist gewaltig. Dabei darf es nur jener Kaffee sein, der leicht nach Karbol schmeckt und daher nirgendwo abzusetzen ist. Was andere Völker als guten Kaffee bezeichnen, das schmeckt den Lappen nicht, für sie muß der braune Trank kräftig und würzig sein.
Die Kaffeebecher wurden gefüllt und geleert, die Pfeifen wiederholt neu gestopft, und dann war die Zeit des Ruhens angebrochen. Ein letztes Mal ließ die Großmutter den braunen Trank aufwallen und schöpfte die Becher voll. Die Söhne holten große Lasten frischer Fichtenäste herbei und bedeckten damit den Boden innerhalb des Zelthalbrundes. Sie legten Ast auf Ast, bis kein Schnee mehr zu sehen war. Damit war die Lagerstatt für die Nacht fertig. Die Frauen verstauten die fertigen Fäden aus hartgedrehten Sehnen, ihre Wangen glühten vom harten Reiben der Handflächen. Die Haut war aufgerauht, aber sie hatten ein gutes Stück Arbeit geleistet.
Jetzt holten sie Renntierfelle herbei, breiteten sie auf die Äste — so, bitte sehr, fertig das Bett für die Nacht. Der Körper bleibt wohlverpackt in Kleidern und Fellen, einige Renntierfelle werden als Decken übergeworfen, so wird niemand erfrieren, es mag der Frost noch so grimmig aus der Polarnacht drohen.
Das Feuer hatte inzwischen den oberen Balken in seiner ganzen Länge erreicht und fraß gierig an diesem trockenen Stamm. Aslak ließ sich, vor Wonne grunzend und stöhnend, auf die Lagerstatt fallen, und seine Frau zog ihm die Fellstiefel von den Füßen. Auch die Söhne ließen sich ihr Schuhwerk von ihren Frauen ausziehen. Die Frauen griffen hinein, rissen die Einlagen aus Renntiermoos heraus, warfen sie über den Zaun zu den Renen hin. Dann beugten sie sich über die Stiefel, bissen hinein und walkten das Leder mit ihren Zähnen. Jetzt verstand ich, warum sich die Lappen niemals küssen; die größte und innigste Zärtlichkeit unter Liebenden zeigt sich in einem sanften Aneinanderreihen der Nasen. Der Mund ist für sie zum Essen da, zum Weichkauen der Sehnen und der Männerstiefel.
Aslak riet mir, auch meine Stiefel auszuziehen. „Am Lappenfeuer mußt du mit bloßen Füßen liegen oder in Strümpfen, die Füße bleiben ja nachts während des Schlafes dem Feuer zugekehrt. Kommst du der Flamme zu nahe, wirst du es schon merken, hast du aber deine Stiefel an, dann merkst du nichts von der Hitze, deine Sohle verbrennt, dein Pelz fängt Feuer. Der nackte Fuß ist der beste Wächter, während zu schläfst.“
Die Flamme knisterte und prasselte. Oben, in dem samtschwarzen Firmament, standen die großblinkenden Sterne. Senkrecht über dem offenen Zelt, dessen Stangen im roten Widerschein des Zwölfstundenfeuers leuchteten, funkelte einsam und eiskalt der Polarstern.
Die Renntierhunde wühlten sich weitab vom Feuer in den Schnee. Sie drehten sich im Kreise, sie gruben sich bis zur Schnauze ein, rollten sich zusammen. Ihre scharfen Sinne lauschten noch im Unterbewußtsein auf alle Geräusche aus dem Gatter. Und dann zog die Polarnacht vorüber, und wir lagen alle unter den bergenden Renntierfellen, die Füße dem Feuer zugekehrt, die Gesichter frei. Ruhig ging der Atem der Menschen. Drüben, hinter dem Gatter, stampften die Rene immer noch durch den frostknirschenden Schnee . . .
Als ich erwachte, mußte ich mich zuerst einige Sekunden lang besinnen. Im Osten brannte bereits der ganze Horizont unter der Glut eines aufgehenden Sonnenballs. Aslak war bereits erwacht, wach waren auch seine Söhne, die Sippenalte und die Frauen. Am schiefgesteckten Ast dampfte und zischte bereits wieder der große kupferne Kaffeekessel. Hinter dem Gatter hatten die Männer mit dem Schlachten der Rene begonnen. Es ging rasch und ohne Quälerei. In knapp zehn Minuten war ein Tier betäubt, ausgeblutet und aus der Decke geschlagen. Die Fleischviertel häuften sich auf großen Transportschlitten, die hartgefrorenen Viertel sollten zur Eismeerstraße gebracht oder von wartenden Lastwagen übernommen werden. Die besten Stücke waren für den Export bestimmt; in Schweden schätzt man ganz besonders die Renntierzunge als Zierde der berühmten Schwedenplatte. Das Blut wurde in vorher gesäuberten Renntiermagen gesammelt. Es gefror darin sofort zu schwärzlichen Klumpen. Dies würde für Wochen noch, bis zum Einsetzen der Sommerhitze, eine stets rasch bereitete Mahlzeit für Mensch und Tier sein. Einfach mit dem Beil abgeschlagen, solch ein Stück Blutmagen, steinhart gefroren, und in der Pfanne gebraten!
Es wurden nur die alten, achtjährigen Tiere geschlachtet, und die überzähligen
Jungbullen. „Jedes Ren hat seinen Namen“, erklärte Aslak, „jedes Jahr bekommt es eine andere Bezeichnung. So heißt ein zweijähriges Tier Vuonelo, das dreijährige Ren ist ein Vuorso, mit vier Jahren ist es ein Kunteus und so weiter. Aber ganz selten ist das Tainokki, die blütenweiße Renntierkuh, die niemals kalbte, ‚das jungfräuliche Märchentier der Urwälder und der Tundra. Der Eiskönig Pohja, Herrscher über Winter und Polarnacht, fährt in einem Schlitten aus schierem Eis durch sein Reich, und davor ist die Tainokki gespannt, das Märchentier.“
Aslak erzählte und gab zwischendurch Anweisungen an seine Söhne und Knechte, und vom Feuer her rief die Großmutter zum Kaffeetrinken. Sie selbst hatte bereits zwei, drei Holzschalen des köstlichen, braunen Getränks glühendheiß hinuntergeschlürft. Und währenddessen bereitete die Mutter, Aslaks Frau, den Zubiß. Sie brach tellergroße, ganz flache und runde Gerstenbrote in handliche Stücke. Das Brot war schon viele Wochen alt, jeder Laib hatte ein rundes Loch in der Mitte; diese Brote reiht man auf Stangen, um sie besser aufbewahren zu können. Zwischen zwei Fetzen Brot legte die Lappenmutter dunkles, hartgeräuchertes Renntierfleisch, das nach Rauch und Wacholder duftete und köstlich schmeckte.
Bis zum späten Abend wurde innerhalb des Gatters gearbeitet, geschlachtet und Fleisch verladen, Häute gespannt und aufeinandergelegt. Die Hunde leckten den blutigen Schnee, und rudelweise durften die Rene wieder entweichen. Man öffnete eine Gatterwand, die Tiere rasten hinaus in die Wildnis, froh, diesmal dem Verhängnis entronnen zu sein und der Nähe dieser Menschen, die ihnen unheimlich schienen, deren Herrschaft sie aber niemals abschütteln konnten. In einem Jahr wird man sie wieder zusammentreiben.
Noch einmal verbrachte die Sippe eine Nacht am neuangelegten Zwölfstundenfeuer, dann wurden die Schlitten gepackt, die Zugrene vorgespannt zur großen Fahrt nach Sodankylä, dem Kirchdorf. Sodankylä — das bedeutete Wiedersehen mit allen anderen Lappensippen, das war Ausruhen nach den Anstrengungen der Renntierscheidung, das war Einkauf und Umsatz, Hochzeit und Kindtaufe, ehe man wieder hinausging in die Einsamkeit des weiten und breiten Ödlandes unter dem nördlichen Polarkreis.
*) Alljährlich im beginnenden Frühjahr setzt in Lappland, nördlich vom Polarkreis, am Nordrand Europas, die große Renntierwanderung ein. Erfaßt vom mächtigen, geheimnisvollen Urtrieb, streben die Renntierrudel von der Tundra an der Eismeerküste nach Süden. Für die Herdenbesitzer beginnt damit die Zeit des „Poroerotus“, der Renntierscheidung. Unser Mitarbeiter, der Schriftsteller P. C. Ettighoffer, hat als Gast einer Lappen-Sippe an solch einer Renntierscheidung teilgenommen und erzählte hier dies einmalige Erlebnis.