Der Grenzsteinrücker
Zeichnung von Theo Deisel
Nachts, wenn alle Menschen schlafen,
die ein gut Gewissen haben,
wachet auf, sich selbst zu strafen,
einer, den man längst begraben.
Er verläßt des Kirchhofs Pforte,
geht auf grasbewachsenen
Wegen langen Schrittes zu dem Orte,
wo er sich verscherzt den Segen
ungestörter Grabesruhe,
wo er, wucherischen Sinnes,
Grenzstein rückte um zehn Schuhe
elend irdischen Gewinnes.
Geht zum Acker. Dorten halten
schon zwei rabenschwarze Pferde
mit dem Pfluge. Auf den Alten
wartend stampfen sie die Erde.
Ihre Mähnen flattern. Ihre
heißen Nüstern zittern, schäumen.
Und der Alte peitscht die Tiere,
die sich im Geschirre bäumen,
peitscht sie, bis sich dicke Schwielen,
die wie Feuerstreifen glühen,
von dem Schweif bis zu den Sielen
über ihre Flanken ziehen.
Dann, mit lästerlichem Fluche,
packt er Hörn und Zügel.
Schnaubend gehn die Rosse vor dem Pfluge,
Furch um Furch dem Acker raubend.
Gehen auf und ab, es schreitet
hinterher der Bauer wacker.
Und die blanke Pflugschar schneidet
Schollen vom gestohl’nen Acker.
Furche zu und Furche offen!
Hin und her geht es behende,
und schon darf der Pflüger hoffen,
daß er heut sein Werk vollende.
Einmal noch die Ackerlänge
auf und ab, dann ist’s geschehen —:
ein Uhr schlägt’s vom Turm, die Stränge
reißen und der Pflug bleibt stehen.
Beide Rosse wirft es nieder,
und der Alte legt sich schlafen,
bis um Mitternacht er wieder
wachet auf, sich selbst zu strafen.
HEINRICH DIEFENBACH