Der falsche Hase
Eine Grafschafter Anekdote
von Leo Stausberg
Daß Wald und Wild Gemeingut seien, ist eine tiefeingewurzelte Überzeugung des Dörflers. Den Eigentumsbegriff, der ihm bei Feld und Vieh selbstverständlich ist, will er hie und da nicht gelten lassen, wenn er aus „Großvaters Busch“ ein Klafter Holz heimfährt oder in mondheller Nacht einen Bock niederknallt. Der Wilderer ist so alt wie der Feudalherr mit seinem angemaßten Wildbannrecht.
Vor etwas mehr als hundert Jahren hauste in einem Grafschafter Dorfe ein Freischütz dieser Art namens „Salü“. Den seltsamen Spitznamen hatte ihm das französische Grußwort eingebracht, das er neben einigen anderen welschen Brocken oft anzubringen beliebte. Diese Gewohnheit hatte er außer einem Hang zu kleinen Gesetzwidrigkeiten auf langer Kriegsfahrt angenommen, die er unter Napoleon Bonapartes Fahnen im schicksalsvollen Jahr 1812 zum fernen Rußland begonnen. An der Beresina war er mit genauer Not den Fluten und den Lanzen der Kosaken entkommen. Als einzige Beute aus dem unseligen Feldzug hatte er aus einem polnischen Edelsitz eine Jagdflinte mitgehen heißen, die ihm nun zu seinen heimlichen Pirschgängen in Feld und Busch dienen mußte. Hier und da war er zwar wegen Jagdfrevels in Strafe genommen worden; bei der Verschwiegenheit der Dorfbewohner und dem heimlichen Wohlwollen, das sie dem Wilderer zollten, verhallten jedoch die meisten Schüsse des Salü ohne Echo. Ja, er konnte es sogar wagen, seine Jagderlebnisse im Freundeskreis zum Besten zu geben, wobei die Zuhörer es oft nicht leicht hatten, zwischen Wahrheit und Dichtung zu unterscheiden.
Als er im Dorfwirtshaus wieder einmal etwas gar zu dick aufgetragen hatte, beschlossen einige Uzvögel, deren Haupt Anton, der Dorfschmied, war, dem Salü einen Streich zu spielen. Mit Hilfe von Stroh und Draht wurde ein Hasenbalg so zurechtgemacht, daß er im Dämmerlicht ohne weiteres für einen richtigen Meister Lampe gehalten werden mußte. Die Atrappe stellte man in Salüs Garten nahe beim Zaun zwischen den Kohlköpfen so auf, daß die Löffel keck darüber hinausragten .
Der Nenn, ein Pfiffikus, der aber meisterhaft ein treuherzig-dämliches Gesicht aufzusetzen verstand, wurde vom Schmied dazu ausersehen, dem Salü, der nach Feierabend in seiner Stube Fidibusse aufspliß, mit gespielter Aufregung und scheinbar atemlos folgende Mitteilung zu überbringen: „Salü! Sihr! Nemm deng Flent! En dengem Jaade setz ene Has zweschen dem Schawur! Su ne Kabänes!“
Diese Nachricht zündet. Jäh erwacht das Jagdfieber des Wildschützen. Er nimmt die stets schußfertige Donnerbüchse aus heimlichem Verschlag und begibt sich durch Scheune und Schuppen zum Pflanzgarten hinter seinem Gehöft. Der Bote hat sich inzwischen leise verdrückt. Das geübte Jägerauge des Salü erspäht auch bald den Hasen, dessen lange Ohren über einem dicken Kohlkopf emporlugen. „Beim helligen Hubäätes! Dat jitt ene leckere Sonndagsbroode!“ denkt der Schütze und bringt klopfenden Herzens, aber doch mit Bedacht, Kimme und Korn auf das lockende Ziel überein. Der Schuß kracht. Bravo! Meister Lampe überpurzelt sich und schlägt hin. Froh über seinen Meisterschuß springt Salü hinzu und — hält in der hastig zugreifenden Hand den leeren Hasenbalg. Mit einem saftigen Fluch schleudert er den Popanz gleich darauf weit von sich in die Richtung der Hecke, hinter der ein mehrstimmiges, dröhnendes Gelächter erschallt. Salü hört dann noch das Trappeln eilig sich entfernender Schritte. Da ergreift ihn eine ohnmächtige Wut. Er packt den Schießprügel und zerschlägt ihn an einem Prellstein des Scheunentores.
Seither hat Salü nie mehr einen Schuß getan, und mit seinem Jägerlatein war es auch ein- für allemal zu Ende, denn „Lächerlichkeit tötet“! Und wenn nun in der Schenke der Schmied die Frage an ihn richtete: „Salü! Wie wor dat domols met dem Has?“, dann knallte er sein Glas auf den Tisch und verließ gekränkt das Lokal, indem er zwischen den Zähnen hervorstieß: „Salü! Ihr Lompe!“