Der erste „Idomeneo“ war ein Gelsdorfer.

Eine kulturgeschichtliche Überraschung: das schillernde Leben des Anton Raaff

STUDIE VON HARRY LERCH

Wer wollte es anders behaupten: diese Landschaft hat Überraschungen bereit, und aus vermeintlich alltäglichem Ereignis wächst oft eine Bedeutung, für die Welt. Wer wollte vermuten, daß dies einer der berühmten Männer des 18. Jahrhunderts werden soll, als im Gelsdorfer Kirchenbuch Anno Domini 1714 der Knabe Anton Raaff eingetragen wird mit vielen Adelsnamen im Patenpatronat? Er wird einen ungewöhnlichen Ruhm gewinnen in Europa. Er singt die Krönungsfeste gesalbter Könige, Kurfürsten und Herzöge, er bleibt am Königshof zu Portugal als Stern der Musik, und sein Schwanenlied soll, so ist es bestimmt, der „Idomeneo“ in der Uraufführung der Mozartoper zu München Anno Domini 1780 sein. Weit strahlt sein Ruhm . . . Wir sind diesem Leben nachgegangen und verdanken Hinweise einer Dissertation von Heinz Freiberger, der „Leipziger Allgemeinen Musik-Zeitung“ und Ergänzungen des Studienrats Dr. Hans Kölsch, in dessen Besitz sich das einzige Bildnis von Anton Raaff befindet.

Wer ist Anton Raaff, der in seinem Jahrhundert Ruhm gewinnt und das glitzernde Gewirk von Legenden wie Paganini? Beider Leben ist auf der Rampe ausgebreitet und dennoch verschlossen in einer Dämonie, in einer Extroversion, in einer Preisgabe, die das Geheimnis verhüllt . . . Wer ist dieser berühmte Tenor, der höchst angesehen ist, obgleich im achtzehnten Jahrhundert kaum ein Ausländer aufkommt gegen die italienischen Meister des belcanto?

Merkwürdig und wieder so seltsam nicht, daß seine Geburt schon ein Mysterium zu umgeben scheint, doch ist die Lösung offenbar. In Gelsdorf, „einem Dorf im Jülicher Ländchen“, wird er 1714 geboren. Nun ist es seltsam, daß die frühen Musiclexica nicht Gelsdorf, sondern Hölzern bei Bonn angeben — die Nähe der Residenz. Das gehört in diese zeitweise verschleierte, spurenverwischende Lebenslinie, doch offenbart die Duplizität der Geburtsorte sich einfacher, als anzunehmen — wenngleich es ungelöst bleibt, ob es corriger la fortune des Signore Raaffs gewesen ist oder einfach ein simpler Irrtum des ersten Biographen: bald nach seiner Geburt geht die Familie von Gelsdorf nach Holzem. Hier war der Vater „Schäffler“ gewesen, Gutsvorsteher in Diensten des Herrn von Gudenau, so daß Anton Raaff offenbar in der Burg geboren ist.

Adelsnamen sind auf der vergilbten Urkunde, und der Adel fördert diesen Knaben, als er, unterrichtet mit den Kindern der Gutsfamilie, auch deren Weg zur Jesuitenschule nimmt. Da wachsen seine Erziehung, sein Horizont, sein Bild von dieser Welt, die er im Glänze sieht. Und ist er nicht ebenbürtig, so will er es werden: über die schmale Brücke der Kunst, im Glanz der Bühne, der strahlenden höfischen Festlichkeiten. Das Leben nimmt ihn auf diese Woge, doch Geduld . . . des Wartens ist viel in diesem Leben. Sein jüngerer Bruder studiert wie er bei den Jesuiten, und als „Narziß und Goldmund“, um mit Hermann Hesse zu reden, führt ihr Weg in die Welt: der eine als Monsignore und Träger geistlicher Ehren, der andere als Goldmund, als Weltkind und Edelmann des Gesangs.

Ihm, dem Weltkind, sind die ersten Rollen zur Hand bei den „Jesuitenkomödien“, den geistlich-weltlichen Singspielen. Im Hause seines Gutsherrn ist er bald Haushofmeister wie einst Hölderlin im Hause Gontard, er hat teil an den Kammermusikfesten italienischer Kompositionen. Er gibt seiner Geige Gesang beim Schimmer der Kerzen, aber bald soll seine Stimme die festlichen Räume füllen — das ist sein Traum. Übers Jahr ist er Cammermusicus der Hofkapelle, wie später Beethoven, in Bonn mit einem Jahressalär von 2oo Gulden. 1736 nimmt Kurfürst Clemens August den jungen Cammermusicus auf Reisen nach München zu seinem Bruder, dem Kurfürsten Albrecht. Anton Raaff verfällt endgültig dieser Welt des höfischen Barock, spürt die witternde Luft des Theaters, auch die Öde der Kulissen und die Tragödien der Eitelkeit, doch soll dies nun endgültig seine Welt sein.

Mit kurfürstlichem Siegel empfohlen, singt er die Titelpartie der Oper „Demofonte“ von Ferandini, doch sein Ziel ist die berühmte Gesangschule des Maestro Bernacchi in Bologna.

Nun ist zu erinnern, daß im achtzehnten Jahrhundert auch die Frauenrollen vom Tenor gesungen werden — eine Manier und Manie der italienischen Oper. In diese Domäne und Dämonie einer künstlerischen Welt und Halbwelt tritt Anton Raaff ein. Welche Welt! Die Sänger gebärden sich allürenhaft wichtiger als die Komponisten. Sie nehmen den künftigen Primadonnen alles an Launenhaftigkeit voraus. Eifersucht, Intrige, Neid, Verrat, Eitelkeit füllen diese Welt von Macht und Schein.

Der Bravourstil des Balcanto führt das Wort und übt den sanften Terror, dem sich Intendanz, Orchester und Publikum beugen. Die Pikanterie des schönen Scheins nimmt das Publikum zumal willig hin — das füllt den Salon und den Abend der Oper. In diese Welt tritt Anton Raaff ein . . . Kaum begütert und mit wenig Reisegeld versehen, schlägt er sich 1737 nach Bologna durch. Als er an die Pforte des kleinen Palazzo klopft, jagt sein Herz. Es soll gelingen! Da erkennt der Maestro, als er den jungen Sänger hört, daß es ihm ernsthaft um die Kunst ist, vorerst nicht der Reiz der Rampe und der Arie. Wird er der Kunst verschworen bleiben oder abtrünnig im Rausch des Abends und der Verführung des Belcanto, des Wohllauts ohne Seele? Weiß er es, der Maestro, weiß es der junge Deutsche, der über die Alpen kommt und kein anderes Ziel kennt als den Maestro Bernacchi in Bologna?

Nun, es sei vorausgesagt: er erliegt für Jahrzehnte dieser Faszination, daß ein Mensch alles in seine Stimme gibt und nur noch Gesang ist, flügelnde und beflügelte Stimme. Was dahinter ist, bleibt unsichtbar. Der Maestro gestattet das Auftreten nicht während des Studiums. Der einsame Deutsche geht durch die Gassen — doch bald schon spricht die Welt von ihm. Er gibt „Gastspiele“, singt in Livorno wie in Venedig, in Frankfurt die Krönung Carl Alberts zum römischen Kaiser „und überhaupt an den umherliegenden deutschen Höfen, wo er allüberall sehr beliebt ist.“

Das Gestirn dieser Stimme beginnt zu leuchten. Er singt bei der Vermählung der Kaiserin Maria Theresia mit Leopold. Im Zeitbericht lesen wir: „Der Deutsche kam, er sang, accentuierte, declamierte — die Italiener vergaßen ihre Vorurtheile, und sein Credit war schon das erste mal hergestellt.“ Und der Komponist Metastasio schreibt in einem billet: „In meiner Oper Didone sang ein Deutscher, namens Maestro Raaff, ein ausgezeich= neter Sänger.“ Und, welches Wunder: die italienischen Sänger, die Meister des Wohlklangs, ziehen tief den Hut vor ihm; sie sind bezwungen.

Das Gestirn dieser Stimme leuchtet auf und strahlt nach Portugal. Welche Wege: von der Grafschaft ins „Fenster Europas“. 1752 folgt er dem Ruf des Königs von Portugal. Vormittags trifft er in Lissabon ein, und abends muß er vor der königlichen Familie singen. Sie ist entzückt. Der deutsche Maestro ist in Gespräch und Rede — wie er’s will. Er lebt bei Hofe, hat Zutritt zu allen Adelshäusern, lebt das Leben eines Kavaliers mit Jagd und Festen — doch, wie das Schicksal es will: er bricht zusammen, als sein Freund aus dem Leben scheidet. Das Gestirn verdunkelt im Dämmer des Kosmos. Anton Raaff ist Monate lang im Karmeliterkloster verschollen.

Das Glück lenkt dieses Leben: vor dem Erdbeben von Lissabon verläßt er die Stadt, tritt aus dem westlichen Fenster Europas, singt in Aranjuez und Madrid, kehrt nach Italien zurück, dann ruft ihn das Theater Mannheim. Er ist nun, nach Fahrten durch die romanischen Länder, Sänger von 1 500 Gulden Salär im Monat — im Alter von 56 Jahren, einem Alter, in dem der Stern eines Sängers verblaßt.

Er hat die Familie Mozart kennen gelernt, Vater Leopold zuerst, dann Wolfgang Amadeus. Vater Leopold schreibt an den Sohn:

„Wenn du nach Mannheim kommst, muß die Hauptperson, der du dich gänzlich vertrauen kannst, nur Signore Raaff seyn, der ein Gottsfürchtiger, ehrlicher Mann ist und dir vieles rathen kann . . .“

Es ist nicht dazu gekommen, daß Signore Raaff dem jungen Mozart die Dienste eines „Komponisten für die deutsche opera“ verschaffen kann, wie er es gewünscht, doch Anton Raaff singt für die Erstaufführung der Oper „Idomeneo“ die Titelrolle in München 1870, als Kurfürst Carl Theodor von der Pfalz mit seinem Hof von Mannheim nach München übersiedelt. Signore Raaff ist nicht nur der Sänger des „Idomeneo“, sondern lenkt und leitet die dramaturgische Dynamik der Oper und wandelt mit zielgewandtem Blick für den Effekt manches Szenarium.

Mozart sucht für seinen „Idomeneo“ nicht den italienischen Primadonnaklang, sondern den naturhaften, klaren, ungezwungen männlichen Ton.

Anton Raaff singt die Titelpartie, mit Erfolg, aber es ist sein Schwanenlied. Er empfängt vornehmlich mit der Donner=Blitz=Arie seinen letzten Triumph und zieht sich zurück.

Welche Wandlung! Er, der auszog im schimmernden Gewand des Kavaliers, wird einsamer als je in den strahlenden Jahrzehnten, da von seiner Stimme die Welt sprach. Die letzten sechs, sieben Jahre „besucht er gar keine Musik mehr“. Abgeschieden erwartet er mit Gelassenheit und Ruhe den Tod … er, der an den Höfen der Könige und Herzöge gesungen hat. Er wird — wieder, möchte man sagen — fromm. Sein Gesicht hat noch immer Leben und sein Auge Glanz und seine Erscheinung den Zauber der lächelnden Melancholie, als er im Alter von 85 Jahren stirbt, im letzten Jahr des Jahrhunderts. Lächelnd begreift er es.

Er ruht auf dem Thalkirchenfriedhof in München. Ob er an seine Heimat noch gedacht hat, den rauhen Wind der Grafschaft gespürt und ihren hohen Himmel gesehen im Sommer?

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