Der eherne Mund unserer Glocken

VON HEINRICH O. OLBRICH

Die Glocken spielen im Leben des Menschen seit jeher eine hervorragende Rolle. Vom Turm der Heimatkirche aus begleiten ihre Schallwellen den Menschen von der Wiege bis zum Grabe. Sie begrüßen „mit der Freude Feierklänge“ den Neugeborenen, begleiten ihn auf dem ersten Gang seines Lebens zur Taufe, läuten den Knaben oder Mädchen, wenn der junge Christ zum ersten Male zum Tische des Herrn tritt. Sie ertönen uns allen, Jungen und Erwachsenen und Alten Tag um Tag. Bei bestimmten Anlässen des Lebens läuten sie sogar ausschließlich für den einzelnen, dann heiter oder ernst. Hell und beschwingt laden sie die Gemeinschaft zum frohen Feste, tönend erhebend beim Einläuten des Sonntags oder hoher Festtage unserer Kirche. Eindeutig besagt es der Anfang des Liedes: „Süßer die Glocken nie klingen, als zu der Weihnachtszeit“. Aber sie ertönen auch schwer und bang, wie Grabgesang, wenn ein Erdenwanderer aus unseren Reihen den letzten Weg geht. Wir hören dann: „Traurig tönt das Glöcklein nieder.“ Die tiefe Wirkung des Geläuts faßt der Dichter Schiller in folgende sinnvolle Worte:
„Selbst herzlos, ohne Mitgefühl
Begleiten sie mit ihrem Schwünge
Des Lebens wechselvolles Spiel.“

Nun drängt sich von selbst die Erwägung auf, worauf die eben kurz angedeutete Wirkung des Glockengeläuts auf den Menschen zurückzuführen ist. — Sie liegt in der musikalischen Artung der Glocke, dann aber einzig und allein im Seelenleben des Menschen begründet, je nachdem die ausströmenden Schallwellen als Klänge und Musik aufgenommen werden, und so in uns bei freudigen oder erhebenden Anlässen starke Empfindungen der Lust oder gar des Frohsinns, bei schmerzlichen Ereignissen Gefühle der Trauer und der Demut hervorrufen.

Also überträgt der Mensch seit seiner frü-hesten Kindheit belebende Gefühle auf die Glocke und macht aus ihrem toten Metall ein mit dem Menschen fühlendes Wesen, bald froh und festlich, bald traurig und voll Jammer. Durch sein beseeltes persönliches Verhältnis zur Glocke hat er sie personifiziert.

Schiller kleidet die Wirkungsweise der Glocke in folgende Worte:
„Was unten tief dem Erdensohne das
wechselnde Verhängnis bringt,
das schlägt an die metallne Krone,
die es erbaulich weiter klingt.“

Bevor wir uns mit diesem Problem weiter beschäftigen, wollen wir etwas von der Geschichte der Glocke hören. Schon lange vor der christlichen Zeitrechnung ist die Glocke im Morgenlande bekannt. Die ersten Christen haben sich bei der Heimlichkeit ihrer Zusammenkünfte kaum einer Glocke bedient. Im deutschen Sprachgebrauch wird sie erstmalig im 7. Jahrhundert erwiesen. Abt Heut-berth in Wearmouth (744), hervorgegangen aus dem englischen Benediktinerorden, schenkte dem hl. Bonifatius und dem Bischof Lullus von Mainz je eine „clocca“, die rasch Verbreitung fanden. Den eigentlichen Anstoß zur allgemeinen Einführung der Kirchenglocken gab das zur Staalsreligion erhobene Christentum im römischen Reich. Papst Sabian (606) ließ die Tageszeiten durch Glocken ankündigen. Papst Stefan II. (757) baute für St. Peter in Rom einen Turm mit drei Glocken.

In Deutschland förderten besonders die Benediktinerorden, die Zentren von Kultur, Wissenschaft und Handwerk, den Glockenguß. Karl der Große empfahl durch seine Anordnungen die Anschaffung von Glocken und ließ durch den Mönch Tanco von St. Gallen Glocken für Aachen und Köln gießen. Seitdem stand die Kunst des Glockengusses in Deutschland hoch im Kurs. Berühmte Kirchen erhielten sogenannte Denkmalsglocken, so Köln die größte freischwinigende Glocke der Welt, die 500 Ztr. schwere St. Peters-Glocke des Kölner Domes. Diese wenigen historischen Hinweise zeigen gleichzeitig die enge Verknüpfung der Kirchen mit den Glocken.

Die Voraussetzung für das innere Beziehen der Glocke zum Menschen besteht seit den ersten christlichen Jahrhunderten durch die feierliche Glockenweihe. Durch sinnvolle Zeremonien und Gebete bei der Weihe wird die geistige Kraft, die von dem geweihten Gegenstand auf alle Lebensbereiche ausstrahlt, ausgesprochen. Die Glocken werden durch diese Weihen zu einer res sacra, einer heiligen Sache, ein dem Gottesdienst vorbehaltenes Gerät. Diese festliche Weihe führte zu der Vorstellung einer Glockentaufe, wobei die Glocken Namen erhalten und mit Sinnsprüchen und kirchlichen Insignien versehen werden. Beim Läuten schwingen somit gleichsam auch die Gebete weiter, die bei deren Weihe gesprochen wurden. Ihre volle Wirkung entfaltet die Glocke dann, wenn die Gläubigen mit offenen Herzen ihren Klang erschließen, sich im Gebet mit ihr vereinen und ihrem Ruf Folge leisten. Die Glocken werden somit zu beseelten Kindern Gottes und unmittelbaren Gliedern der Gemeinde, in deren Kirchenturm sie ihre Wohnung haben.

In dieser Sicht faßt Schiller die Aufgabe der Glocken in folgende Worte:

„Nur ewigen und ernsten Dingen sei ihr
metallner Mund geweiht,
und stündlich mit den schnellen Schwingen
berührt im Fluge sie die Zeit.“

Das Schicksal der Geschlechter aller Kirchengemeinden war im Verlauf der Jahrhunderte auch ihr Schicksal, namentlich in Zeiten der Gefahr und Not.

Als erstes festliegendes Läutezeichen besteht seit dem 8. Jahrhundert bis in unsere Tage das Angelusläuten. Es ist das Morgen-, Mittag- und Abendgeläut, wobei „der Engel des Herrn“ gebetet wird. Mit dem Angelusläuten hat sich gleichzeitig ein bürgerlicher Rechtsbrauch entwickelt, denn es war zugleich das Rufzeichen für den Arbeitsbeginn in Stadt und Land, für die Mittags- und Vesperzeit und für den ersehnten Feierabend. Der Spruch im Mittelalter lautete:

„Wenn die Glocke fünfmal schlägt,
wir zur Arbeit sind bewegt.“

Der Dichter Platen läßt den Pilgrim von St. Just sagen:
„Laßt mich hier ruhn, bis Glockenklang
mich weckt,
der zum Gebet euch in die Kirche
schreckt.“

Die Abendglocken rufen das weite Tal zur Ruh‘, Mensch und Tiere wandern froh dem Dörfchen zu!

Eine besonders innige Beziehung des Menschen zum Geläut lag in dem in vielen Gegenden Europas gepflegten Irrläuten. In Schweden, in den Alpen, in Baden und im Elsaß werden noch heute an stürmischen Wintertagen in der Zeit zwischen 19 und 22 Uhr die Glocken geläutet, um durch ihren Schall etwa verirrten Wanderern den rechten Weg zu weisen. Da durch das Irrläuten tatsächlich viele Menschen gerettet worden sind, haben sich im Westen wie im Osten Deutschlands zahlreiche Sagen erhalten, die über solche wundersamen Rettungen berichten. Sie reichen vor allem in jene Zeiten zurück, wo noch weite Landstriche unseres Vaterlandes mit großen Wäldern bedeckt und dabei nur spärlich besiedelt waren.

Inwieweit unsere Heimatgeläute auch im bürgerlichen Lebensbereich unseres Volkes gewisse Bedeutung haben, möge durch einige Beispiele näher belegt werden. In einer Verordnung aus Schwaben heißt es: „ … daß das Glockengeläut zu einer gewissen Abendstunde, welches von allen Zeiten her in Deutschland üblich ist, allwo die Reisenden sich ehemals wegen weitschichtiger Waldungen leicht verspäteten und dann in Gefahr verirrten, eine sehr gute Anstalt war, um die Nähe eines bewohnten Ortes anzuzeigen und jedermann zurechtzuweisen.“ Die späteste Abendglocke hatte auch vielerorts die Aufgabe, in den Wirtshäusern Feierabend zu gebieten. So bestand in Schlesien folgende Anordnung: „Die bierglocke soll in sommertagen eine stunde und im winter drey stunden in die nacht geläutet, darnach soll weder wein noch bier geschenkt werden.“

Im Weistum von Gleisweiler (bei Landau) ist zu lesen: „Nach dem zue Gleißwciser herkommen die weinglocken nachts zu leuten, damit die inheimischen nit in dem Wirtshaus übersitzen, das ihrig verschwenden zue großen schaden und nachteil ihrer weib und kin-der, so ist geordnet, daß alle die so über be-stiembte zeit der weinglocken in dem wirts-haus befunden werden, solle mal 4 Pfg. zum straf geben sollen.“

In Zeiten von Wassergefahr, Großbränden oder Unruhen setzte das „Sturmläuten“ ein. Wiederholt bekunden alte Handschriften, daß durch feierliches Ehrengeläut regierende Fürstlichkeiten oder hohe Würdenträger der Kirche begrüßt worden sind. So schreibt Walter von der Vogelweide zum Empfang des Herzogs Leopold bei seiner Rückkehr von einem Kreuzzug: „Sit gewis, swenn ir uns kommt, ihr werdet hoch empfangen, ir sit wol wert, daz wir die gloggen gegen in läuten.“

Und Münchhausen schildert u. a. den Bauernaufstand: „Die Glocken stürmten vom Bernwardsturm, der Regen durchrauschte die Straßen, und durch die Glocken und durch den Sturm gellte des Urhorns Blasen.“

Unsere Glocken sind jeweils Eigentum der Kirchengemeinde, der sie durch ihr Geläut dienen. Die Beschaffung eines Geläuts erfordert seit jeher große Geldopfer. Die Glok-kenweihen bzw. Glockentaufen sind als die Krönung dieser Gcbefreudigkeit daher festliche und freudvolle Veranstaltungen. Und die Bewohner einer Gemeinde sprechen daher auch liebevoll von „unseren Glocken“, die mit ihren Herzen verbunden sind. So wollen wir auch verstehen, daß in schweren Kriegs- und Notzeiten, die ein Land heimgesucht haben, die jeweilige Gemeinde um den Besitz ihrer Glocken gebangt hat, denn die Glocken bildeten früher für den Sieger stets eine willkommene Beute. In solchen Zeiten kam es häufig vor, daß beherzte Männer der Gemeinde die Geläute mühsam von ihren Kirchentürmen heruntergeholt und sie in den damals ausgedehnten Waldungen vergraben oder in tiefen Teichen oder Brunnen versenkt hatten.

Im letzten Weltkrieg wurden von der Reichsstelle für Metalle 150 ooo Glocken beschlagnahmt. Mehr als drei Viertel davon sind verhüttet worden. Nur die wertvollsten Stücke — historisch oder künstlerisch — konnten gerettet werden.

Wer diese Maßnahmen miterlebt hat, weiß auch um die tiefe Trauer, von der die beteiligten Mitmenschen ergriffen worden sind, und wie dankbar wurde allenthalben der Tag begrüßt, an dem erstmals wieder ein Stück des alten Geläuts oder neue Glocken erklangen.

Diese beseelte Verbundenheit zwischen Mensch und Glockengeläut hatte zur Folge, daß sich bei den verschiedenen Völkern wie auch in deutschen Landen zahlreiche Sagen entwickelt haben. Es sind meist Erzählungen, die sich an tatsächliche Vorkommnisse vergangener Jahrhunderte anschließen. So läßt Eichendorff in seinem Gedicht „Der Unbekannte“ den Besucher sprechen:

„Von Glocken, die im Meeresgrunde
schlagen,
wußt wunderbar der Gast zu sagen.“

Andere Sagen berichten von weidenden Schweinen, die auf Waldwiesen längst vergessene Glocken ausgewühlt haben. Und wer kennt nicht die Sage von Goethe: „Die wandelnde Glocke“. Wilhelm Müller erzählt von dem geachteten Glockengießer zu Breslau, der in einem Irrtum seinen Lehrling erstach, weil dieser ohne des Meisters Gebot die Glockenspeise in die Form laufen ließ. Der Meister wurde erbarmungslos zum Schafott geführt. Der Guß des Lehrlings wurde aber ein Meisterstück und begleitete vom Turm der Mag-dalenenkirche als „Armesünderglocke“ den Meister auf seinem letzten Gang. „Im Magdalenenturme Da hängt das Meisterstück, Rief schon manch starres Herze Zu seinem Gott zurück.“

Auch die Musik hat in zahlreichen Kompositionen das seelische Zwiegespräch zwischen Mensch und Geläut durch viele kunstvolle Glockenspiele stimmungsvoll berücksichtigt.

Es ist allgemein bekannt, daß das große Heimkehrerlager in Friedland seit 1949 eine gestiftete Glocke besitzt, die jeden Heimkeh-rertransport, der erstmals wieder freien deutschen Boden betritt, mit einem festlichen Geläute begrüßt. Alle zwei Jahre reist die Friedland-Glocke, reich geschmückt, auf einem Lastwagen zu den großen Heimkehrertreffen im Bundesgebiet. Im Jahre 1967 fand diese sinnvolle Begegnung vom 17. bis 19. Juni in der Gruga zu Essen statt. Da die Friedlandglodke nicht auf direktem Wege bis zum Bestimmungsort des Heimattreffens überführt wird, sondern auf Umwegen durch verschiedene Städte und Dörfer ihr Ziel erreicht, wird sie unterwegs von der Bevölkerung überall freudig begrüßt.

Zum Schluß unserer Betrachtung legen wir uns wohl die Frage vor, ob die dargelegte Oberzeugungskraft im Beziehen vom Menschen zur Glocke noch zeitgemäß ist. Sie sei in diesem Heimatbuch näher dargelegt, weil vor einigen Monaten ein Teil unserer Presse und verschiedentlich durchgeführte Diskussionen versucht haben, das Glockengeläut schlechthin als „Lärmveranstaltungen“ oder als „Manifestationen des Glaubens“ abzulehnen.

Wo es sich um vermeintliche „Lärmveranstaltungen“ vielleicht durch frühzeitiges Vollgeläut in Heil- und Kurorten handeln mag, das störend empfunden worden ist, so ist uns bekannt, daß diese vorhandenen Wünsche nach einem kurzen Gespräch mit den Vertretern unserer Kirchen berücksichtigt worden sind. Wenn aber unsere Glockengeläute als eine „Manifestation“ des Glaubens abgelehnt werden sollen, dann haben wir diesen Bestrebungen nur eine Forderung entgegenzuhalten:

„GLOCKEN MIT HEILIGEM KLANG
KLINGET DIE ERDE ENTLANG!“