Der Dorfbrunnen
VON JOSEF KREUTZBERG
Das Eifeldorf, in dem ich meine Jagd- und Ferienzeit verbringe, ist eine fränkische Siedlung, und noch vieles darin ist altfränkisch, auch der Brunnen, aus dem die Dörfler ihr Trinkwasser schöpfen, Er Hegt in der Mitte des Dorfes genau im Schnittpunkt der drei Straßen, die sich auf einem kleinen Platz ein Stelldichein geben, um sich auf nimmer wieder zu trennen. Der Brunnen ist keine Fontäne oder ein Wasserspiel, wie man sie auf den Marktplätzen der Städte sieht, vielmehr ist er ein richtiger Brunnen, eine in die Erde getriebene Esse, deren Bruchsteine ein Steinbruch hergegeben hat, der am östlichen Dorfausgang eine häßliche Wunde in den grünen Berg gerissen hat.
Über der Wasserquelle erhebt sich nach Art eines Blockhauses ein mannshohes Gehäus aus armdicken Fichtenstämmen, die kunstgerecht ineinander gefugt sind. Auf dem Dach liegt eine dünne Schicht Erde, aus der sich ein smaragdgrüner Teppich von samtigem Moos ernährt. Die Vorderseite des Blockhauses bildet ein offenes Fenster mit einer etwas mehr als kniehohen Brüstung, auf daß die Kinder nicht in den Brunnen fallen. Unter dem Dach dreht sich in quietschenden Scharnieren ein Rundholz, um das spiralig eine Eisenkette läuft, an deren Ende der Schöpfeimer hängt. Eine Kurbel bewegt diese uralte Maschine. Und darüber wölbt schattenspendend die Dorflinde ihre Kuppel. Kommst du aus der blendenden Helle des Tages und beugst, die Hände auf die Wand der Brüstung gestützt, deinen Kopf über den Wasserspiegel/ so siehst du zunächst garnichts, aber du trinkst den reinen Atem der Quelle, du empfindest eine angenehme Kühle. Nach einer Weile gewöhnt sich das Auge an das Dunkel; die Umrisse, die Linien werden deutlicher, jeder Stein der runden Einfassungsmauer wird von seinen Nachbarn unterscheidbar. Klar, dunkel und farblos erscheint zuletzt der Spiegel des Wassers, der nur wenig tiefer liegt als der Boden, auf dem die Füße stehen.
Du siehst im Wasser dein eigenes Abbild so, wie du dich nie gesehen hast. Übergroß sind die Augen, die weiten Pupillen, alles Zufällige verschluckt die Dämmerung: du starrst in dein eigenes Ich, du ertrinkst in Jahrtausenden und fühlst dich in der Nachbarschaft des Absoluten.
Reiße dich los, reiße dich gewaltsam los von dem uralten Zauber des Wassers, von der Gewalt seiner Anziehung, von der schwarzvertieften Finsternis!
Das Wasser des Brunnens ist süß, kühl und kristallklar. Es prickelt wie Schaumwein, aber es schäumt nicht. Es schmeckt wie ein ganz leichter Wein, aber es berauscht nicht. Es ist für Zunge und Gaumen das, was für die Seele der Frieden ist. Der Brunnen ist so freigebig, daß er auch im heißesten Sommer nicht versiegt. Indes für die Wäsche und das liebe Vieh ist noch ein zweiter Brunnen im Ort, und es wird streng darauf geachtet, daß jeder Brunnen die ihm eigene Aufgabe für Mensch und Tier erfüllt. Jeden Morgen, zur selben Zeit, kommen die Mädchen zum Brunnen/ um ihre Eimer zu füllen. Wie zu Gretchens Zeiten plappern, plaudern und scherzen sie, wenn ihre braunen Arme das Rundholz drehen. Da ich gelernt habe, zur gleichen Zeit wie sie das Wasser für meine Küche zu holen, bin ich freund mit ihnen geworden, und sie haben mich in ein großes Geheimnis eingeweiht, d. h. genau gesagt, hat es mir die sechzehnjährige Eva, die Rosenknospe des Dorfes, anvertraut: „Unten am Grunde des Brunnens haust eine große Forelle. Die hält das Wasser blank und vertilgt Insekten, Würmer, Molche und Schnecken, wenn sie in ihren Lebensbereich eindringen. Und wenn die Forelle einmal in den Schöpfeimer gerät, muß man ihn sofort wieder auskippen in den Brunnen, denn sie ist ein heiliges Wesen, und niemand darf ihr ein Leid antun. Wer aber das Glück hat, den heiligen Fisch zu fangen und ihn sofort seinem feuchten Element wiedergibt, der kriegt, wenn es ein Junge ist, bald eine Braut, und wenn es ein Mädchen ist, bald einen Bräutigam.“
Ich glaube, daß es nicht sehr lange mehr dauert, daß Eva die Forelle fängt.