„De Dudeweg“ (Der Totenweg)
VON ALOIS SCHRANDT +
Seit Anfang Mai 1972 liegt Herr Johann Werner, ein Erzähler, dem man stundenlang zuhören konnte, auf dem Friedhof in Kesseling. In seinen letzten Lebensjahren, genauer seit Ende der 60er Jahre, ging er täglich am Bach entlang und schaute den eleganten Bewegungen der Forellen zu. Oft gesellte ich mich zu ihm, und über das Bachgeländer gelehnt erzählte mir Johann von früher. Keiner konnte es besser. Eines Tages sprachen wir vom Friedhof. Er erzählte, wie die Särge mit Pferdewagen von Staffel, Weidenbach, Denn, Brück und Pützfeld nach hier gebracht wurden, wie mühselig der Transport hinauf zum Kirchhof, dem „Pitteschberg“, besonders an verschneiten und vereisten Wintertagen war.
Auf einmal guckte er mich vielsagend an und quinkelte etwas mit den Augen. „Hast Du schon einmal etwas vom „Dudeweg“ (Totenweg) gehört?“ Ich war ahnungslos und wurde neugierig. Dann erzählte er mir, daß „ganz früher“ die Toten des mittleren Ahrtals in Kesseling beerdigt worden seien.
Die Leichen seien von Rech aus über den Berg nach hier transportiert worden. Den Weg nenne man noch heute den „Dudeweg“.
Der „Totenweg“ zwischen Kesseling und Rech
Der Totenweg
Zweifelnd ging ich den Dingen nach. Ich fand noch andere ältere Leute, die ihn mir auf Anhieb beschreiben konnten, ja sogar Männer und Frauen in mittleren Jahren, die den „Dudeweg“ genau kannten. Auch in Rech war er bekannt, und der erste, den ich darob ansprach, beschrieb ihn mir von Kesseling aus nach Rech, und über Rech hinaus am Bahnhof Rech vorbei bis in die Esch-Holzweiler Mulde, dem Oberlauf des Swistbaches.
Ich pirschte mich durch verwachsene Pfade, benutzte oft auch gut gangbare Wege, zum Beispiel den Wanderweg 2 und den Rotweinwanderweg, und stellte zwischen Kesseling und Rech an vielen Stellen Teile alter Trockenmauern fest, die Platz freiließen für kleine Weinbergswagen oder -karren, wie sie bis vor wenigen Jahren gebräuchlich waren und zum Teil heute noch sind. Geht man den Totenweg von Kesseling aus, also umgekehrt, wie ihn die Bewohner des Ahrtals in früheren Jahrhunderten gehen mußten, so durchquert man vom hoch über dem Ort gelegenen Kirchhof hinabsteigend Kesseling bis zur Alk, steigt den steilen Weg zwischen den jetzigen Häusern Weidenbach und Marner hinauf bis zum „Schoß“, dem Sattel zwischen dem Wacholderschutzgebiet „Auf Kölmich“ und der „Ramheck“. Geradeaus nördlich steigt man weiter, überquert den „Karl-Kaufmann-Weg“ und folgt dann dem heutigen Wanderweg 2 abwärts bis Rech. In Rech teilt sich der Weg. Rechts biegt er ab nach Dernau. Geradeaus verläuft der Weg am Bahnhof Rech vorbei durch die Weinberge auf den „Forst“ und weiter in die Esch-Holzweiler Mulde. Der Verlauf des Weges ist heute noch festzustellen. Ist aber auch die Tradition vom „Dudeweg“ glaubhaft, historisch haltbar?
Die Zeit der Franken
Wir wissen, daß vom 4. bis 6. Jahrhundert die heidnischen Franken aus mehreren Gruppen zwischen Rhein und Weser zu einem mächtigen Volke zusammenwuchsen, daß sie allmählich nach Gallien, an die Mosel und den Main vordrangen und daß sie die Kelten bis zur Bretagne zurückdrängten. Wir wissen auch, daß Chlodwig I. (446 bis 511) aus Machtstreben das katholische Christentum annahm und die christliche Freiheitslehre die Franken, die Freien, begeisterte.
Bei der fränkischen Landnahme bevorzugten die fränkischen Bauern die Kalkmulden und die fruchtbaren Talzonen für ihre Siedlungen. Das zerklüftete Ahrtal mit seinen engen, teils sumpfigen Mäandern dürfte sie wenig angezogen haben, ebensowenig wie die dichtbewaldeten Hänge der Vulkan- und Ahreifel. Die Besiedlung des mittleren Ahrgebietes war daher schwach, und die wenigen Niederlassungen entstanden oft im Bereich ehemaliger römischer Einzelsiedlungen. Ihre Toten beerdigten die Franken in der Nähe der Höfe.
Dann kamen die Söhne des hl. Benedikt. Benedikt von Nursia, geboren um 480 und gestorben am 21. März 542, wurde der „Patriarch des Abendlandes, dem er durch seine hl. Regeln feste Gestalt und ungeahnten Aufschwung verschaffte. Durch das Gelübde der Ortsbeständigkeit baute er das einzelne Kloster fest in seine Umgebung ein und machte es so zu einer Pflanzstätte christlicher Religion und Kulturarbeit. Benedikt wurde zum Lehrer und Wohltäter des Abendlandes und zum Vermittler römischer Kultur und Zivilisation in den germanischen Staatengründungen des Mittelalters“. Gleich Wellenkreisen in stillen Gewässern verbreiteten die Mönche von ihren Niederlassungen aus nicht nur die Friedenslehren ihres göttlichen Meisters, sie lehrten und förderten auch die Kenntnis der Landwirtschaft und des Weinbaues.
Das Kloster Kesseling
Vor 762 hatten sich schon einige Benediktiner im zentralen Kesselinger Tal niedergelassen, sicher mit Einwilligung des königlichen Grundherrn, wie es die Schenkungsurkunde für das Kloster Prüm bestätigt, die König Pipin am 10. Juli 762 in seiner Pfalz Sinzig ausstellt. Auf einem vorspringenden, talbeherrschenden Bergrücken errichteten die Mönche ein kleines Gotteshaus. Alles spricht dafür, daß es die heutige Sakristei der Kesselinger Pfarrkirche war; denn Apsis, Sakramentshäuschen, Nische für die Kännchen mit Wasser und Wein, viereckige Säulen mit Kapitellen sind noch vorhanden. Die Unterkunft der wenigen Mönche war sicher nicht weit davon. Die Priorei, das spätere Pfarrhaus, erhielt erst 1703 die heutige Gestalt, wie es die Jahreszahl im Bogen über dem Eingang angibt.
Christianisierung im mittleren Ahrtal
Von Kesseling aus werden die Benediktiner den Bewohnern des mittleren Ahrgebietes die christliche Lehre verkündet und praktische Lebenshilfe gegeben haben. Dabei dürfte, nachdem die in der Ahreifel zerstreut lebenden Franken den christlichen Glauben angenommen hatten, die „Cella“ in Kesseling mit ihrem Gotteshaus sicher erster religiöser Mittelpunkt des gesamten Gebietes gewesen sein. Mit der Annahme des christlichen Glaubens dürfte es auch das Bestreben der fränkischen Siedler gewesen sein, ihre Toten, Eltern und Verwandte, in heiliger Erde im Schatten des Kesselinger Gotteshauses, vielleicht dem einzigen zwischen Sinzig und Nohn, beizusetzen. Die Arbeit der Benediktiner war erfolgreich, wie es nicht zuletzt das Prümer Urbar vom Jahre 893 belegt, das Höfe des Klosters Prüm im Bereich der mittleren Ahr in Kesseling, Pützfeld, Lind, Kreuzberg, Vischel und Ahrweiler nennt. In diesem Güterverzeichnis könnte auch ein Beweis für den „Totenweg“ enthalten sein. Unter dem Besitz des Klosterhofs Kesseling wird Weinbergsbesitz in Dernau genannt, der jährlich 3 Fuder Wein einbrachte. Dabei muß man sich vor Augen halten, daß Kesseling und Dernau nicht so weit auseinanderliegen, wie es die heutige Straßenstrecke talabwärts scheinen läßt. Sieht man im beschriebenen Totenweg gleichzeitig den Verbindungsweg zwischen Kesseling und den Siedlungen im Räume Rech-Dernau, so lag hier für das Klösterchen Kesseling das nächstgelegene Weinbergsareal im Ahrtal. Umgekehrt war für die Siedler im Raum Rech-Dernau nach ihrer Christianisierung Kesseling der religiöse Mittelpunkt. Dorthin ging man zur Kirche und dorthin brachte man seine Toten, um sie im Schatten des Gotteshauses beizusetzen.
Nirgendwo, außer in Kesseling, wird für die Zeit vor 1100 eine Kirche in unserm Gebiet erwähnt. Die Zeit von der ersten Erwähnung der „Cella“ in Kesseling bis zum vermutlichen Bau einer Pfarrkirche in Dernau beträgt also immerhin über 300 Jahre, und die jahrhundertelange Praxis, die Toten zum Begräbnis nach Kesseling zu bringen, könnte diesen Begriff „Totenweg“ so stark eingeprägt haben, daß er bis heute erhalten blieb.
Denn 300 oder gar 400 Jahre sind ein gewaltiger Zeitabschnitt. Denken wir nur an die Reformation (vor 457 Jahren), an die Seeschlacht bei Lepanto (vor 403 Jahren), an die letzte Belagerung Wiens durch die Türken (vor 338 Jahren), um an so weit zurückliegenden Ereignissen die Größe einer solchen Zeitspanne zu erkennen! Die Tradition des Totenwegs ist nicht exakt zu beweisen. Doch dürften die genannten Pakten für eine historische Wahrscheinlichkeit sprechen und die im Volksmund noch gebräuchliche Bezeichnung „Dudeweg“ auf einen rund tausend Jahre zurückliegenden Brauch hinweisen.
Vielleicht erinnern wir uns einmal dieser alten Wege, wenn wir auf unsern Wanderungen durch die Ahreifel streifen oder vom Ahrtal auf einem der vielen Wege und Pfade ins Kesselinger Tal wandern!
Drei Tage nach Fertigstellung dieser Arbeit über den Totenweg trat Alois Schrandt seine letzte Wanderung an. Er, der seine Heimat liebte, sie oft und mit offenen Augen durchwanderte und sie in Beiträgen zum Heimat-Jahrbuch des Kreises Ahrweiler darstellte, starb kurz nach Vollendung seines 70. Lebensjahres am 15. Juli 1974 in Bad Neuenahr-Ahrweiler.