Das Versprechen
VON WERNER KELLER
Es war Anfang der zwanziger Jahre. Auf den Straßen des Weindorfes an der Ahr herrschte Stille. Die Bürger gingen ihrer Alltagsbeschäftigung nach. Kräftig schien die Sonne, für die Jahreszeit reichlich warm. Die Traubenlese war in diesem Jahre gut, wenn es auch keinen Jahrhundertwein gebe, wie der Winzer meinte, der sich seinem Sohn mit der Aufforderung zuwandte, den Wagen herzurichten und die Kuh einzuspannen. Die beiden wollten in die „Knollen“ (Futterrüben) fahren. „Vatte, de Koh es noch am Keue (Kauen)“, erwiderte der Sohn und tat dann, wie ihm der Vater aufgetragen hatte.
„De Vatte“, ein großer, hagerer Mann, war noch nicht lange aus Kriegsgefangenschaft zu Hause. Er hatte den ersten Weltkrieg im Westen mitgemacht und war Anfang 1918 als vermißt gemeldet worden. Noch vor Kriegsschluß traf über das Rote Kreuz die Nachricht ein, daß er in englischer Kriegsgefangenschaft sei. Jetzt war er zu Hause, und da die Lage nicht rosig war, hatte er sich entschlossen, „Om Rott“ Futterrüben zu pflanzen und neben der Fahrkuh auch eine Milchkuh zu halten, um so die wirtschaftliche Lage der Familie zu verbessern; denn Not und Hunger hatte er und auch seine Familie lange genug gelitten. Das Feld „Om Rott“, ein Stück gerodeter Wald, lag auf der Höhe zur „Grafschaft“ hin. Die Knollenernte versprach‘ gut zu werden. In diesem Jahr war auch kein Wildschaden zu verzeichnen, eine Seltenheit, da das Feld teilweise im Wald lag. Der Sohn, der inzwischen die Fahrkuh angespannt hatte, bestieg nun „mem Vatte“ das Winzerwägelchen, und so ging es mit ausreichender Verpflegung, Butterbroten und Wein, gegen Berg. Eine lange Fahrt bei ruhigem Gang der Kuh, die hin und wieder stehenblieb, um zu rasten. „Dräh de Hämm (Wagenbremse) aan“, sagte der Vater dann jedesmal zum Sohne, „damet dat Dier net en de Kette ston (stehen) moß.“ Zum Sohne gewandt meinte der Vater: „Die Sonn brennt esu, me könnte e Härresjewidder (Herbstgewitter) kreie.“
Auf der Fahrt beriet man das Einbringen der Rübenernte. Der Vater schlug vor, eine Miete anzulegen, weil man zu Hause nicht genug freien Keller habe, um die vielen Knollen zu lagern. Über Winter könnte man dann aus der Miete die Knollen holen, wie man sie brauchte. Auf der Heimfahrt werde man das Wägelchen mit Knollenblättern beladen.
Auf dem Felde angekommen, begannen Vater und Sohn mit der Ernte. Die beiden Männer waren als Winzer und Landwirte harte Arbeit gewohnt. Wie üblich trank man zur gewohnten Zeit „Kaffee“, d. h. Wein und „Bottestöcke“ (Butterbrote), und wegen der schweren Arbeit aßen die Männer dazu hausgemachte Wurst. Während der Kaffeepause meinte der Vater: „Ech trauen dem Wedde (Wetter) net“, und er wies auf die ersten verdächtigen Wolken am Himmel. Später waren die Wetterzeichen schon deutlicher. „Hühr ens, en de Eifel kraach et at (schon), mie lade on fahre dann heim“, war die Meinung des Vaters. So rüsteten Vater und Sohn zum baldigen Aufbruch. Der Sohn trieb die Fahrkuh an, und der Vater ging dem schwer mit Knollenblättern beladenen Wägelchen nach. Als die ersten dicken Regentropfen vom sich verfinsternden Himmel fielen, schlug der Sohn vor: „Los me de Winzerwäch eraff (Winzerweg hinunter) fahre.“ „Da wiet ze steil senn für da schwere Wage“, meinte der Vater. Das Gewitter zog näher, und über der Eifel sah es grau und schwarz aus. Dieses Bild, das sich den beiden Männern bot, trieb noch mehr zur Eile, und man entschloß sich, zur Abkürzung doch den Winzerweg zu nehmen. Der Vater sollte die Bremse bedienen und bei Bedarf zusätzlich das Wägelchen abstützen und bremsen. Vorne werde schon alles gut gehen und er werde mit anfassen, ermunterte der Sohn seinen Vater. Inzwischen lag das Gewitter über dem Ahr-tal und der Grafschaft. Es regnete in Strömen. Auf dem steilen Winzerweg sammelte sich der Regen zu einem Bach. Von der Böschung brach Erde und Geröll ein. Alles wurde vom immer stärker werdenden Regen weggeschwemmt. Die beiden Männer sahen die Flurschäden, die das Gewitter anrichtete, und erkannten, daß der Weg immer schwieriger zu befahren wurde. Ein Grund, das Risiko der Fahrt zu erhöhen. Es begann eine „Himmelfahrt“, wie der Volksmund sagt.
Der Vater hatte die Bremse angezogen und stemmte sich mit seiner ganzen Kraft gegen das Gefährt. Vorne war der Sohn damit beschäftigt, zu lenken, sich bremsend gegen das Wägelchen zu stemmen und das Gefährt im Gleichgewicht zu halten. Das Wägelchen wurde nämlich immer schwerer durch das Wasser vom Himmel, das zwischen den Knollenblättern aufgesogen und festgehalten wurde. Die beiden Männer hatten Sorge, ob die Bremse halten und die Fahrt gutgehen würde, und dabei sprang der Wagen über zum Teil große Steine, die aus den Weinbergen ausgeschwemmt worden waren. Man kam zwar immer näher an das Dorf, aber die Fahrt verlief nicht mehr nach dem Willen der beiden Männer. In dieser Not rief der Vater: „Loss me sechs Käze (Kerzen) verpreche, dat me joht onne ahnkunn (unten ankommen). „Sechs senn ze vill“, rief der von der schwierigen Lage weniger beeindruckte Sohn. Und die Kompromißformel des Vaters: „Loss me se verspreche, Jong. Wenn me onne ahnkunn (unten ankommen), dann sehn me, wat äh kreit (bekommt).“ Die Fahrt ging gut aus. Es war nun an Valer und Sohn, ihr Wort zu halten. Ob es sechs Kerzen waren? Die Zahl der gestifteten Kerzen ist nicht bekanntgeworden. Im Zweifel tat die Mutter das Ihre und hat ohne Wissen der beiden Männer bei der nächsten Wallfahrt nach Kevelaer der Mutter Gottes einige Sonderkerzen angezündet zum Dank für guten Ausgang der Fahrt vom „Rott“ nach Hause.