Das schöne Weinglas

Das schöne Weinglas

VON HEINRICH O. OLBRICH

Ludwig Uhland behandelt in der Ballade „Das Glück von Edenhall“ das Schicksal eines prächtigen gläsernen Weinpokals, an den eine Weissagung geknüpft war:

„Kommt das Glas zu Fall,
Fahr wohl dann, o Glück von Edenhall.“ 

Ein verwegener Sproß des Geschlechts von Edenhall forderte einst bei einem wüsten Gelage das Glück heraus und gab dem treuen Diener, „des Hauses ältestem Vasall“ den Auftrag, den Pokal zu holen und ihn mit rotem „Portugieser“ zu füllen.

„Der Schenk vernimmt ungern den Spruch, — nimmt zögernd aus dem seidenen Tuch das hohe Trinkglas aus Kristall. Sie nennen’s das Glück von Edenhall.“

In ungestümem Umgang mit dem prächtigen Pokal zerschlägt der junge Herrscher trunken den kostbaren Familienschatz. „Glas ist der Erde Stolz und Glück.“ Die Weissagung geht jäh in Erfüllung. Das Geschlecht derer von Edenhall wird ausgelöscht. Es ist dies wohl nicht einmalig, daß an einen Pokal eine Weissagung geknüpft war, denn unser Sprachgebrauch hat das Wort geprägt: „Glück und Glas, wie leicht bricht das.“ Und beim Zerbrechen eines Glasgegenstandes spricht der Volksmund, wohl um den Schaden zu überbrücken: „Scherben bringen Glück.“ Daß ein Weinglas selbst bei einer weihevollen Segnung den Höhepunkt bildet, darüber berichtet folgendes Erlebnis:

Im ersten Weltkrieg, etwa im Jahre 1917, war ich einst Gast bei einer Hochzeitsfeier, die von einem wohlhabenden orthodoxen Ostjuden in seinem geräumigen Hause bereitet wurde. Die Trauung wurde von dem Oberrabbiner des Ortes vollzogen. Zum Schluß der Segnungen reichte der Rabbiner dem Brautpaar einen Por kal mit Wein. Nachdem das Glas geleert worden war, warf es der Bräutigam vor seine Füße und zertrat die Scherben.

Weinglas
Foto: Kreisbildstelle

In diesem Augenblick erfüllte sich der Festraum mit lautem Jubel und alles rief: „Masel, Masel“, das heißt „Glück, Glück“‚. Ein sehr altes Volk bindet, wie aus dem Gesagten ersichtlich, bei einer Verehelichung die Segenswünsche an ein zerschmettertes Weinglas.

Wenn wir daheim einen prüfenden Blick in Mutters Glasschrank oder Omas Vitrine lenken, so werden gewiß einige schöne Gläser oder ein Pokal vorhanden sein, die sich durch eine besondere Form, Klarheit und Schwere des Kristalls oder durch eine künstlerisch angesetzte Ätzung bzw. durch formvollendeten Schliff auszeichnen. Solche Gegenstände, die Altertümer oder auch Produkte der Gegenwart sein können, erfreuen sich einer besonders pfleglichen Behandlung. Der Kunstsinn und die Kunstfertigkeit, die sich in solchen Stücken widerspiegeln, und ihre bevorzugte Einordnung verleihen ihnen eine gewisse Verinnerlichung. Wenn nun zur festgesetzten Stunde ein Kreis von gleichgesinnten Freunden zusammentritt, so wird dieser feierliche Augenblick durch Anstoßen mit den mäßig gefüllten Weingläsern eingeleitet. Sie leuchten schimmernd und ertönen bald in wohligen Tonlagen. Sie spenden zum Dank die Labung des guten Weines, der volle Zustimmung findet. Alle Sinne sind bei diesem Geschehen angesprochen und werden von einer tiefen Beseelung begleitet. Beim Anstoßen werden alle guten Wünsche oder Hoffnungen oder Höhepunkte der Freude zum Ausdruck gebracht, eine Gedankensteuerung, die man bei allen Kulturnationen antrifft. Und schauen wir uns unser schönes Weinglas prüfend nach der stofflichen Seite an, so stellen wir fest, daß es trotz vielleicht hohen oder höchsten Alters weder die Substanz, noch seine Form oder Farbe verändert hat. Die heute in aller Welt gepflegten Glasfunde früherer Jahrtausende beweisen uns, daß die Schönheit dieser Gläser unzerstört geblieben ist. Diesem Werkstoff „Glas“, der vor Jahrtausenden von Menschenhirnen erdacht worden ist, müssen wir zwangsläufig nachgehen und gelangen so in die Geschichte der Glasmacherkunst überhaupt.

Sie beginnt bereits vor mehr als 5000 Jahren. Die Wissenschaft sieht ihre Anfänge bei den. Ägyptern, wo die Töpferei hoch entwickelt worden ist. Man befleißigte sich hier, die Töpfererzeugnisse mit einer Glasmasse zu bestreichen, um sie wasserundurchlässig und schöner zu gestalten. Durch Beigabe von geringen Metallverbindungen wurden tue Glasuren gefärbt. Es gelang ihnen bereits damals ein recht gutes Glas herzustellen, das als künstlerischer und formfreudiger Werkstoff vielfache Verwendung gefunden hat. Es besteht nach den wissenschaftlichen Analysen aus 60 bis 80 Prozent Kalk, 15 bis 20 Prozent Soda und Beigaben von Kieselsäure und Pottasche.

Von Ägypten aus verbreitete sich die Glasmacherkunst zu den Karthagern, Phöniziern und Etruskern, den Vorläufern der Italiener. Es wird angenommen, daß es den Phöniziern gelang, die Glaspfeife zu erfinden.

Die Römer verbreiteten die Glaserzeugung in allen Teilen ihres Weltreiches. Sie stellten Glasscheiben, Gefäße und künstliche Edelsteine her. Die frühzeitige Glaserzeugung hat zu dieser Zeit auch Eingang in die Klöster der Rheinlande gefunden, in deren Werkstätten sie gepflegt und entwickelt worden ist.

Nach dem Zerfall des Römerreiches gelangte die Glasmacherei nach Byzanz und Persien. — Im 13. Jahrhundert zog der Stadtstaat Venedig die in der Zwischenzeit vernachlässigte Glasmacherkunst an sich und entwickelte sie in dem benachbarten Raum Murano zu einer ungeahnten Blüte, die bis zur Gegenwart nachhält. In Deutschland war es Kaiser Karl IV, der Begründer der ersten deutschen Universität in Prag, der in Ostböhmen am Riesengebirge entlang und im benachbarten Schlesien die Glasmacherkunst heimisch gemacht hat, die bis zur Vertreibung Weltbedeutung hatte. Aus dem Glashandwerk wurde hier das Glaskunstwerk entwickelt. Nun schauen wir noch kurz in eine Glashütte und beobachten hier das Werden eines Weinglases. Wie bereits erwähnt, ist das Glas das Produkt eines Schmelzprozesses aus dem Gemenge von Verbindungen der Kieselsäure mit Metallurgden (Natron, Kali, Kalk, Bleioxyd pp.). Wenn diese Masse, die im Fachausdruck „Speise“ genannt wird, nach starker Erhitzung im Schmelzofen bis zu 2000 Grad dünnflüssig geworden ist, wird die Erhitzung bis auf 1300 Grad gesenkt. Sie ist jetzt zähflüssig und leicht formbar. Die erkaltete Masse, der WerkstoffGlas, ist durchsichtig oder durchscheinend und von großer chemischer Beständigkeit. Schon nach oberflächlicher Orientierung in der Werkstatt hören wir, daß der Arbeitsplatz „Bühne“ genannt wird, wohl deshalb, weil er ein etwa l Meter hohes Podest darstellt, das sich konzentrisch um den mächtigen Schmelzofen ausweitet. Dem Ofen entströmt eine große Hitze. Aus den Schlundlöchern erstrahlt grell glühende Speise.

Der Glasmacher entnimmt mit einem langen Rohr dem Schlund des Schmelzofens durch Drehungen je nach Bedarf einen Klumpen der zähflüssigen Masse. Diese wird durch menschliche Lungenkraft aufgebläht und dadurch roh geformt.

Nun beginnt eine rasch ablaufende ‚Wechselarbeit von Zunehmen und Abnehmen. Eine Gruppe, das sind die Kölbelmacher, blasen aus der zähflüssigen Speise den Kern eines Weinglases. Da der Abkühlungsprozeß schnell fortschreitet, wird der Kölbel rasch ein oder mehrere Male in die gelbe Glut getaucht. Nun wird dem wieder weich gewordenen Kölbel die gewünschte Kelchform gegeben. Eine weitere Gruppe, die „Kaier“, sind Zuträger von winzigen glühenden Speiseklumpen, die sie sanft an den Pfeifen rotieren lassen. Jetzt werden die „Stielmacher“ aktiv. Aus der zähen Speise werden mit einer Schere zierliche Stengel gezogen, nach Bedarf geschnitten und anschließend geformt. Nunmehr werden die Füße des Glases geformt und angeschweißt. Dieser kurz geschilderte Arbeitsvorgang wird von den Glasmachern in Europas größter Mundblashütte in Düren täglich praktiziert. Hierbei werden im Arbeitsablauf alle Vorgänge genauso ausgeführt, wie sie seit 2000 Jahren und mehr auf diesem Gebiete üblich waren.

Nur die bestgelungenen Formen und die von reinem Glas werden der weiteren Bearbeitung übergeben. Zwar ist die Technik für bestimmte Bearbeitungen eingeschaltet, jedoch ist bei den maßgeblichen Arbeitsabschnitten die handwerkliche bzw. kunsthandwerkliche Leistung entscheidend. Solche Gläser wenden auch nicht in Massenproduktion hergestellt. Wer also ein wertvolles Kelchglas erwirbt, muß bei seinem entsprechenden Preis auch die kunsthandwerkliche Leistung berücksichtigen. Ein solches Glas geht bis zur Ausfertigung durch 50 bis 70 Hände. Es ist daher verständlich, daß ein solches Kunstglas in der Wiederholung kleine Abweichungen aufweist, die nur ein Kenner feststellen kann. Die ähnlichen Gläser werden zu Gruppen von sechs Stück zusammengefaßt.

Diese eben besprochenen Gläser werden in den Glashütten und Glasschleifereien Deutschlands aus Kristall oder Bleikristall gefertigt und sind in der ganzen Welt gefragt. Man erkennt sie leicht an ihrem intensiven brillierenden Glanz, der sie zum „weißesten“ Glas macht. Das Weißkristall verleiht ihnen auch einen besonders volltönenden Klang.

Aus den bisherigen Darlegungen ist zu ersehen, daß es sich bei dem Glaskunsthandwerk immer um ein Zusammenwirken von Spezialisten und geeigneten Helfern handelt. Diese im wahrsten Sinne des Wortes entwickelten Arbeitsgemeinschaften wurden in den Glaswerkstätten des schlesischen Isergebirges bis zum Altvatergebirge praktiziert.

Mit dem Zusammenbrach 1945 sind jene Menschen, Meister und Gesellen, aus ihren Werkstätten und ihrer Heimat vertrieben worden. Sie durften nur 30 Kilogramm Gepäck auf die Flucht mitnehmen.

Dieses Völkchen war zunächst im ganzen Bundesgebiet zerstreut. Der ausgesprochene Gemeinschaftssinn führte sie jedoch bald nach ergangenen Aufrufen wieder zu kleineren und größeren Gruppen zusammen, um erneut jetzt modernste Werkstätten zu errichten.

So haben wir in unserem Heimatkreis in Ahrbrück die Kristallwarenfabrik Pörner & Söhne; im benachbarten Rheinbach entwickelte sich eine Glasindustrie mit mehreren Großbetrieben, die der einstigen Kleinstadt ein besonderes Gepräge verleihen. Ihr Ruf ist bereits in der ganzen Welt verbreitet.

Die Glashütte in Düren hat Unternehmer und Glasmacher aus Schlesien aufgenommen und so dem Altbetrieb durch den Austausch hinzugetretener Erfahrungen aus dem Osten neuen Auftrieb verliehen.

Was Gemeinschaftssinn vermag, bewiesen die Vertriebenen aus Gablonz im Isertal. Eine Gruppe von ihnen landete in Kaufbeuren im Allgäu. In ihrer hoffnungslosen Lage entdeckten sie den nahegelegenen und verkommenen Flugplatz der deutschen Wehrmacht mit einigen Baracken, Erdbunkern und Bretterverschlägen, durch Wald getarnt. Mit Unterstützung des großherzigen Landrats fingen hier die Gablonzer an und nahmen immer mehr neue Zuwanderer aus Gablonz und Umgebung auf. Nach ihren Erfahrungen bauten sie hier und in anderen Orten modernste Kunstglashütten beispielhaft auf. — Führend entwickelte sich in Kufstein Claus Josef Riedel, der Weltruf erlangt hat und wiederholt in New York (Corning Museum) mit dem Prädikat „das schönste Glas der Welt“ klassifiziert wurde.

Der Mensch liebt das schöne Weinglas und andere formvollendete Gegenstände aus diesem Stoff. Das schöne Weinglas ist die Krönung einer festlichen Tafel und zugleich Ausdruck der Persönlichkeit des Gastgebers. Es vermag Brücken zu schlagen von Mensch zu Mensch, wenn beim Anstoßen die Gläser erklingen. Sie schaffen dann jene Atmosphäre, die bezaubernd wie beschaulich, versöhnend wie zugleich erhebend wirken kann.

„Die ferne Zeit, die einst das blanke Glas hat uns erdacht, hat unser Welt unendlich viel gebracht.“