Das Scheffenbuch des Gerichtes Kirchsahr vom Jahre 1562

VON IGNAZ GÖRTZ

Als Inhaber der kurkölnischen Unterherrschaft Kirchsahr hatte das Stift Münstereifel in Kirchsahr ein Gericht. Das Gericht war unter anderem für die rechtskräftige Übertragung von Grund und Boden innerhalb der Herrschaft Kirchsahr und einigen Orten außerhalb der Herrschaft, in denen das Stift Münstereifel Grundherr war, zu« ständig. Die Grundstücksübertragungen wurden von einem Gerichtsschreiber, hier in Kirchsahr meist einem Kanoniker von Münstereifel, im Scheffenbuch schriftlich festgelegt. Am 17. Oktober 1562 legte dieses Gericht ein neues Scheffenbuch an, mit „Bewilligung der Herrn Dechant und Capittel von Münster Eiffel, Herrn in der Sarr“. Dieses Buch wurde benutzt bis zum Jahre 1748, doch finden sich aus der Zeit nach 1670 nur wenige Eintragungen. Den Zweck des -Buches gibt die Titelseite an: „Scheffenbuch, darin nun hinfort Erbungen, Enterbungen, Stiftungen, Verzichtleistungen und sonst alle ändern erblich Contract und Vertrag zum ewigen Behalt und Bericht der Parteien geschrieben werden solle.“ Das. Titelblatt führt weiter die Namen der im Jahre 1562 tätigen Gerichtspersonen auf: „Simon, der Schultheiß; die Scheffen Schuir (Scheuren) Johann, Joist (Jodocus) auf Winnen, Rosen Johann, Peter zu Eichen, Johann von Hürnich, Heinrich zu Lanzerath und Steffen in der Mühle.“ Als eine Art Grundbuch enthält das Buch dann die fortlaufende Eintragung der erfolgten Grundstücksübertragungen. Was berichtet uns nun das Buch bei gründlicher Durcharbeitung? Als erstes wird bei jeder Eintragung der Ort angegeben, bei dem das Grundstück liegt. Hausplätze und Ländereien im Bereich der Orte Kirchsahr (vor 1600 findet man nur die Bezeichnung „Sahr“ und „Sarne“ für den Ort), Winnen, Hürnich und einem Teil von Binzenbach gehören „unter Sahrer Hoheit“, d. h. sie gehören zum Bereich der Herrschaft Kirchsahr. Der andere Teil von Binzen’bach unterstand der Unterherrschaft Burgsahr im Besitze der von Blankart. Das Gericht war weiter zuständig für den Besitz des Stifts Münstereifel im Bereich der Orte Effelsberg, Lethert, Lanzerath, Eichen, Hölzern, Neichen, Scheuren, Scheuerheck, die heute im Kreise Euskirchen liegen. Schließlich nennt das Scheffenbuch im Bereich des Gerichtes Kirchsahr noch drei Höfe, die längst untergegangen sind, deren Namen heute nur noch in Flurnamen fortleben. Es sind dies der „Sellinger Hof“, auf dessen Ländereien die heutigen Blurbezeichnungen (Flur I) „Selligen Fläch“, „Seiligenthal“, Selligenacker“ hinweisen; dann die Höfe „im Hohn“ (auch: Hoin, Haen) und auf „Hankop“ (auch: Hankopf; Hencop), die im Gebiete des heutigen „Hühnerberg“ (Flur I) lagen. Erwähnenswert ist die falsche Verdeutschung von „Hohn“ auf „Hühner“. Hier wurde das Grundwort des Hofnamens „Hohn“ (Haen), das sich von „Hain, Hagen“ gleich Buschwald herleitet, mit dem mundartlich ähnlich klingenden „Hon“ mit der Bedeutung Huhn verwechselt. Ein ähnliches Beispiel ist der Berg „Hohn“ (Haen) bei Altenburg/Ahr, der heute „Hörn“ heißt. Hier mag noch der Hinweis angebracht sein, bei Namensdeutungen nicht‘ die heute überlieferte Form zugrundezulegen, sondern auf möglichst alte, der Entstehungszeit des Begriffes nahe Formen zurückzugreifen. Die Lage der Grundstücke wird durch die Flurbezeichnungen näher angegeben. Diese älteren Formen der Flurnamen sind für die Flurnamenforschung bedeutungsvoll, doch soll hier darauf nicht weiter eingegangen werden.

Eine Fundgrube ist das Scheffenbuch natürlich für den Familienforscher. Hier werden die Grundstücksverkäufe und =käufer benannt, hier findet man Erben und Erblasser, oft sogar das Verwandtschaftsverhältnis angegeben, so daß sich in vielen Fällen Stammfolgen für drei und mehr Generationen aufstellen lassen. Für die Namensforschung ist interessant, daß im Gc= biet des Gerichtes Kirchsahr die Familiennamen sich erst im Laufe des 17. Jahrhunderts bilden, während Bürger und Bauern anderswo, besonders in größeren Gemeinden, viel früher einen erblichen Familiennamen führen. Man kann diese späte Herausbildung der Familiennamen verstehen, wenn man bedenkt, daß im Jahre 1670 die Herrschaft Kirchsahr aus zwölf Häusern bestand und nur kaum hundert Einwohner hatte. Der Vorname reichte meist zur Unterscheidung aus. Die ersten vorkommenden Formen der Familiennamen sind daher Berufs= und Orts= (Herkunfts=) Bezeichnungen. Oft ist der vermeintliche Familienname nur der Beruf oder Wohnort des Benannten. So könnte der „Steffen Müller in der Sahr“ (1562) Steffen heißen und Müller zu Kirchsahr sein, oder er heißt Steffen Müller und wohnt nur zu Kirchsahr. Der „Pitter op Winnen“ ist der Peter, der auf Winnen wohnt. Sein Sohn „Nellis Winnen in der Bintzenbach“ führt den Namen „Winnen“ schon als festen Familiennamen. Es kann natürlich vorkommen, daß bei direkten Nachkommen der Beiname von Generation zu Generation wechselt, je nach Beruf des Haushaltungs=Vorstandes oder dem Wohnsitz der Familie. Ein Beispiel dieses Wechsels und der Bildung des Familiennamens geben die Nachkommen des Sahrer Gerichtsscheffen und Müllers: „Steffen Müller in der Sahr“. Ein Sohn des Steffen ist „Johann Müller in der Sahr“. Vater und Sohn sind Müller in der Kirchsahr. Johann hat nun drei Kinder: Steffen, Nellis (Cornelius) und Eva.

Der Sohn Steffen übernahm die Mühle. Er und seine Nachkommen, im Besitz der Mühle, führen den Beinamen „Müller“.

Eva, des Johann Tochter, heiratet ca. 1570 den „Bernhard in der Bintzenbach“. Der andere Sohn des Johann, Nellis, heiratet ca. 1570 Cillig (Cäcilia), Tochter des „Jenners Johann auf Hancop“ und bewohnt den in der Nachbarschaft der Kirchsahrer Mühle gelegenen „Thürner Hof“. Er führt den Beinamen Schnitzler (Schreiner). Der Beiname ist sein Beruf, denn als Müllerssohn war ihm Schreinerarbeit sicher vertraut, denn der Müller fertigte früher meist selbst das Holzwerk der Mühle.

Ein Sohn des „Nellis Schnitzler“, ebenfalls „Nellis“ mit Namen, kommt durch Heirat in den Besitz des Hofes zu Hürnich und heißt in der Folge „Nellis ahn Hürnich“. Von den Kindern dieses „Nellis ahn Hürnicht“ bleibt ein Sohn zu Hürnich, „Goddarf ahn Hürnich“. Ein anderer Sohn heiratet ca. 1620 nach Kirchsahr. Sein Name wird mit „Johann Weber“ angegeben. Er dürfte also von Beruf Weber gewesen sein. Bis vor rund hundert Jahren übte der größte Teil der Bevölkerung in diesem Gebiet den Beruf des (Leinen=)Webers aus. Im vorliegenden Fall wird nun „Weber“ zum Familiennamen; denn sämtliche Nachkommen führen diesen Beinamen.

Von den Kindern des „Goddart ahn Hürnich“ heiratet ca. 1650 der Sohn Winand die Anna Giffels zu Kreuzberg und bleibt dort wohnen. Bei ihm und seinen Nachkommen erscheint der Herkunftsort „Hürnich“ als Familienname. Ein anderer Sohn des Goddart, Paul, heiratet nach Liers/Ahr. Sein Name lautet hier „Meister Paul Wullenweber“. Er ist demnach von Beruf, wie sein Onkel Johann zu Kirchsahr, Weber, und zwar Wollweber. Bei ihm und seinen Nachkommen wird der Beruf zum Familiennamen „Wullenweber“.

So kann das Kirchsahrer Scheffenbuch interessanten Einblick geben in fern vergangene Zeit und den einen oder ändern unserer Vorfahren auftauchen lassen aus dem Dunkel der Vergangenheit.