Das nahrhafte Geheimnis der dicken Trommel – Eine heitere Episode aus der Nachkriegszeit im Kreis Ahrweiler

Lange ist es schon her, sehr lange. Aber dennoch ist es den Beteiligten, heute schon längst im Rentenalter, als listiger Streich ihres jugendlichen Ideenreichtums in Erinnerung geblieben. Auch dem Autor, der damals im Nachkriegsjahr 1947 einer der Mitwirkenden war. Jedesmal, wenn er heutzutage gelegentlich auf der B9 in Richtung Koblenz fährt, schweift nach dem südlichen Ortsausgang von Bad Breisig sein Blick nach rechts, dorthin wo hinter der linksrheinischen Bahnstrecke, kurz vor der Abzweigung nach Rheineck das Gebäude des ehemaligen Hotels Richter auftaucht. Dann erinnert er sich unwillkürlich an jenes Jahr 1947 und an jene amerikanischen GIs, die es sich dort im Hotel Richter gut gehen ließen und die so sehr die allabendliche musikalische Unterhaltung liebten. Vor allem aber erinnert er sich dann wieder schlagartig an jene Episode mit dem wahrhaft „nahrhaften Geheimnis der dicken Trommel“!

Blicken wir also auch hier noch einmal zurück in diese auch insgesamt ungewöhnliche Zeit vor mittlerweile fünfundfünfzig Jahren. Die Amerikaner im Hotel Richter in Rheineck! Besatzer waren sie schon längst nicht mehr, denn mit der Einrichtung der französischen Besatzungszone im Sommer 1945 waren im südlichen Rheinland Franzosen an die Stelle der ursprünglich amerikanischen Besatzungsmacht getreten. Lediglich an einigen Punkten im Rheinischen waren noch einige kleinere US-Einheiten aus Gründen der Infrastruktur der US- Army verblieben, so auch jene amerikanische Gruppe im Hotel Richter.

Weit genug weg von ihrem inzwischen in Heidelberg stationierten Stammbataillon genossen die Gls dort die Freiheit eines ungezwungenen Lebens. Die ihnen zugeteilte Aufgabe, nämlich die von der Heidelberger US-Kommandostelle zum Hauptquartier in Nordfrankreich führenden Telefonleitungen zu kontrollieren, erledigten sie sozusagen mit der linken Hand. Ansonsten war in ihrem Standort im Rheinecker Hotel Richter all­abendlich feuchtfröhliches Feiern und ausgelassenes Treiben angesagt. Und dreimal in der Woche spielte dazu bis in den frühen Morgen hinein live eine Tanzkapelle aus dem nahen Sinzig, die sich die „Quick-Boys“ nannte. Für diese jugendlichen Sinziger Musikanten war das Engagement bei den Amis stets ein Ausflug ins Schlaraffenland. Dort gab es für sie nämlich Essen und Trinken in Hülle und Fülle, während andererseits in jenen Nachkriegsjahren, namentlich in der französischen Besatzungszone, die Lebensbedingungen nach wie vor ziemlich hart waren. Die französischen Besatzer hatten eine kaum ausreichende Versorgung für sich selbst, um so karger waren die Zuteilungen für die deutsche Zivilbevölkerung.

Heutzutage, im Zeitalter des Konsumrausches, lässt sich fürwahr nicht mehr nachvollziehen, wie die Menschen damals in den Jahren bis 1948 leben und überleben konnten. Dabei war nicht einmal die Zeit unmittelbar nach Kriegsende die Schlimmste; vielmehr zeigte sich die wahre Not erst im Winter 1946/47, als alle noch irgendwie geretteten Vorräte endgültig aufgebraucht waren. Die überdies auch noch sehr kalten Monate jenes Winterhalbjahres wurden später zu Recht „Hungerwinter“ genannt.

Hotel Rheineck in den 1950er Jahren

Auf den Lebensmittelkarten betrugen die Rationen der Grundnahrungsmittel für die deutsche Bevölkerung pro Person und Monat drei Pfund Kartoffeln, fünf Pfund Brot, 150 Gramm Fleisch, 125 Gramm Butter oder 250 Gramm Butterschmalz. Ohne ein wenig Eigenversorgung aus dem eigenen Garten, soweit vorhanden, ohne Tauschhandel und Schwarzmarktgeschäfte vermochte von den offiziellen Zuteilungen niemand zu existieren. Allgemein gültiges „Zahlungsmittel“ waren Zigaretten, wobei eine amerikanische Zigarette mit zwischen sechs bis acht Reichsmark gehandelt wurde. Wer das Glück hatte, die besonders gängigen Marken Lucky Strike, Chesterfield, Camel oder Pall Mall anbieten zu können, hatte sozusagen die „freie Auswahl“ auf dem schwarzen Lebensmittelmarkt.

In derart für jung und alt schweren Zeiten waren die regelmäßigen Gastspiele der „Quick-Boys“ bei den in Rheineck verbliebenen Gls ein wahrer Glücksfall. Denn neben der Verpflegung nach Herzenslust gab es für die Sinziger Musikanten immer noch die eine oder andere „Mitgift“: Eine Büchse Nescaffee, ein Stange Zigaretten, mehrere Päckchen Candy oder einige Tafeln Schokolade. Dies alles war zu dieser Zeit um ein vielfaches mehr wert als die höchste Gage in Geldscheinen, die im Alltag kaum einen Wert hatten. Die „Mitgift“ dagegen ließ sich im Tauschhandel unschwer gegen andere nahrhafte Bereicherungen der kargen häuslichen Speisezettel umsetzen.

Doch leider, kein noch so gut’ Ding währt ewiglich. Im Frühjahr 1947 wurde auch diese letzte im rheinischen Bereich der französischen Besatzungszone noch verbliebene amerikanische Exklave aufgelöst. Neu entwickelte Kommunikations-Techniken hatten eine weitere Überwachung der über Boden verlegten Telefonleitungen der verschiedenen US-Headquarters in Deutschland, Frankreich und Belgien überflüssig gemacht. So ging auch das schöne Leben der Gls im Rheinecker Hotel Richter ebenso unabdingbar dem Ende entgegen wie zwangsläufig auch das Musizieren der Sinziger „Quick-Boys“ im US- Schlaraffenland-Hotel.

Schon am Nachmittag jenes frühlingshaften Märztages 1947 waren mehrere Trucks aus Heidelberg eingetroffen, um das technische Equipment der Rheinecker Nachrichteneinheit zu verladen. Und für den Abend war selbstredend eine große Abschiedsparty angesagt, die sich schon bald zu einer feuchtfröhlichen Festivität ohnegleichen entwickelte. Staffsergeant George Daymen, als Food-Master für Küche und Keller zuständig, hatte ein opulentes Bufett aufgebaut und nachdem dessen leibliche Stärkungen reichlich Zuspruch gefunden hatten, ging es ebenso folgerichtig an die konsequente Vertilgung der nicht weniger reichlich vorhandenen geistigen Kräftigungen.

Und die „Quick-Boys“ spielten dazu auf, unentwegt und rhythmisch mitreißend wie immer, diesmal jedoch im Angesicht des Abschieds nicht ohne einen Anflug von sentimentaler Traurigkeit. Auch dies blieb neben dem überreichlichen Alkoholgenuss der Gls nicht ohne Auswirkung auf die von Stunde zu Stunde sich dämpfende Stimmungslage, die durch die mehr und mehr nachlassende körperliche Konstitution der Partyrunde noch sichtlich verstärkt wurde. Nach und nach sanken sie dahin, manche gar inmitten der Tanzfläche, andere in die weichen Fauteuils der Sitzecken, oder aber auch im jähen Absturz von den Barhockern einen ruhenden Pol auf dem Fußboden suchend.

Als die Sinziger Musikanten, Bandleader Alfred und seine Mannen Klaus, Herbert und Charlie, dann gegen halbvier Uhr morgens „Sentimental Journey“ anstimmten und Schlagzeuger Charlie sozusagen als „last post“ noch einmal die Trommelstöcke wirbeln ließ, waren sie bereits jeglicher Zuhörerschaft enthoben.

Nur einer, der Staffsergeant George Daymen, hielt aufrecht und standhaft die letzte Wacht. Der Sergeant entstammte einer Amish-Familie aus Pennsylvania und lebte auch in der Army in deren alter religiöser Tradition. George Daymen trank niemals Alkohol, rauchte nicht, tanzte nicht und verschmähte sogar das beliebte Coca Cola.

Für seine allesamt in den Dämmerschlaf volltrunkener Seligkeit versunkenen Kameraden hatte er nur ein Achselzucken übrig. Die „Quick-Boys“ aber bat er, ihm noch beim Ausräumen der Vorratskammer neben der Küche zu helfen, ehe er sie dann mit ihren Instrumenten nach Sinzig zurückfahren werde. Gefragt, getan! Alfred, Klaus, Herbert und Charlie legten trotz der frühmorgendlichen Stunde kräftig Hand an, schleppten rastlos Kartons mit Zigaretten, Kaffee und Foodrationen jeglicher Art die Treppe herunter in den Hof, wo sie von Staffsergeant Daymen in einen der dort geparkten Trucks verstaut wurden.

Wer aber hatte nun diese wirklich einmalige und fulminate Idee mit dem Trommelbauch? Dieses verdienstvolle Lob steht Bandleader Alfred zu, der spontan auf Charlies Schlagzeug zeigte. „In die dicke Trommel würde ‘ne Menge reingehen“, sinnierte er und alle „Quick-Boys“ stimmten ihm zu. Was zu tun war, wurde mit handwerklichem Geschick dann auch gekonnt verwirklicht. Ein stets mitgeführter Schraubenschlüssel, der mangels eines korrekten Spannschlüssels sonst immer zum Nachspannen der Trommelfelle benutzt wurde, genügte, um die Rückseite der dicken Trommel zu öffnen. Ihr Inneres war dann sehr schnell mit diversen Kostbarkeiten aus dem Vorratsraum gefüllt und auch das Wiederverschließen der geöffneten Seite erwies sich als problemlos.

„OK“, sagte ein halbe Stunde später Staffsergeant George Daymen und zeigte sich über die tatkräftige Hilfe der German Boys sehr erfreut. „Hier habt ihr für jeden noch ‘ne Stange Chesterfields. Und jetzt schafft eure Instrumente runter, damit ich euch nach Hause fahren kann.“

Diese letzte Handlung erwies sich jedoch als nicht so einfach wie gedacht. Zu viert musste die an Gewicht gewaltig gewachsene dicke Schlagzeugtrommel mit ihrem nahrhaften Inhalt mühsam hinuntergeschleppt und mit erheblichem Kraftaufwand im hinteren Teil des Sergeanten-Fahrzeugs verstaut werden.

Staffsergeant George Daymen stand neben seinem Halfcar und beobachtete die Szene. Er sagte kein einziges Wort, schüttelte nur ungläubig den Kopf. Kein Wunder, denn er erinnerte sich nur zu gut daran, dass Charlie üblicherweise die Trommel, griffsicher vor den Bauch gepackt, allein und ohne die Hilfe der Anderen trug. Aber wie gesagt, George Daymen staunte nur und schwieg. Mit einer Handbewegung lud er zum Platznehmen ein und fuhr los, die einsame Landstraße entlang in Richtung Norden nach Sinzig.

Haben Schlagzeuger Charlie und seine Mitmusikanten sich getäuscht, oder war da bei dem Sergeanten doch irgendwie ein verständnisvolles Augenzwinkern zu bemerken, als man in Sinzig angekommen war? Daymens Gesicht ließ sich im Morgendämmern nicht gut wahrnehmen, zumal er nur die Wagentür geöffnet und nicht ausgestiegen war. Als Charlie und seine Gefährten mit vereinten Kräften die dicke Trommel rückseitig aus dem Halfcar herausgewuchtet und am Straßenrand abgestellt hatten, fuhr Staffsergeant Daymen den Wagen langsam an und wendete. Im Vorbeifahren hob er, bei immer noch geöffneter Fahrertür, grüßend die Hand und winkte den „Quick-Boys“ freundlich zu. „Bye-bye Boys!“ rief er ihnen zu und trotz des anschwellenden Motorgeräuschs waren seine weiteren Abschiedsworte nicht zu überhören:

„You are sly young foxes, very crafty guys. But God bless you all!“ – (Ihr seid schlaue junge Füchse, sehr listige Burschen. Aber Gott segne euch alle!)

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