Das Märchen der gläubigen Hüter
VON THEODOR SEIDENFADEN
Während der Nacht des letzten Gregoriustages – ehedem feierten ihn die Bauern am 12. März als das Fest der Tag- und Nachtgleiche -, versammelte der Koblenzer Josef Görres, aus seinem Ewigen kommend, in der Jungfernkapelle auf der Landskrone, dem ragenden Gipfel des Ahrtales, die acht gläubigen Hüter, die gleich ihm als Vergangene doch stets Gegenwärtige im Zeiten das Geheimnis ihrer Stämme vertreten. Görres, der, da er im Wirklichen lebte, gewillt gewesen war, das Angesicht der Welt zu erneuern, der, damals hinreißender Sprecher, das Bild des platonischen Zukunftstaates mit volkstreuer Verfassung entworfen, auch erklärt hatte, keine Landschaft verkörpere die Größe deutscher Vergangenheit so durch redende Denkmale wie die rheinische, stand gleich einem Propheten vor dem schlichten Altar und blickte die Heranschwebenden aus seinen wunderbaren Augen dergestalt an, daß sie zu leben begannen, wie vor ihm, dem Hochschullehrer, dereinst junge Dichter, Gegensätze etwa wie Eichendorff und Hebbel, in diesen Augen und ihren Gedankenblitzen zu ihrem Schöpferischen erwachten. Mit den Eintretenden erfüllte das dunkel gefärbte, gold- und silberglänzende Perlmutterlicht des Weihenden den Raum. Karl Simrock und die beiden Brüder Grimm führten die Gruppe, die einer Prozession seliger Schattengestalten glich, und Karl Simrock hüb, sobald, die ihm folgten, die Höhe des Altares erreicht hatten, an, zu sprechen.
„Du schicktest uns aus dem Ewigen“, sagte er, zu Görres gewandt, „zum Eiben-Born der acht Wasserspiegel, von dem Du wußtest, er liege in einer verborgenen Mulde des Siebengebirges. Wir waren dort und sind nun hier, zu künden, was er Dir, mir und den Brüdern zu sagen hat, auf daß Europa und die Völker der Welt es als eine von Dir und uns geprägte Andacht weihenden Verwandelns vernehmen,“ Jakob Grimm setzte hinzu: „Du weißt, daß Stille das Element ist, aus dem Wilhelm und ich unser von dir so hochgeschätztes Werk im Dienste der Sprache zu gestalten hatten, dem Edelsten eines Volkes.“ „Doch du weißt ebenso“, fuhr Wilhelm fort, „in welchem Maße wir die europäische Politik überblickten, wie wenn wir als Staatsmänner hätten wirken müssen, obwohl wir unsere innere Stille nie verließen. Wir sahen, als wir vor den Brunnen der acht Spiegel standen, im ersten Spiegel, bevor er sich verwandelte, unsere liebsten Blumen, Goldlack und Heliotrop für Jakob, Primeln für mich, und Farbe, Licht und Schatten fesselten die Sinne aller, die da standen.“ „Ihr kennt“, erhob Görres seine Stimme und blickte forschend in die Runde, „was ich im Jahre 1814 meiner Zeitschrift, dem Rheinischen Merkur, anvertraute.“ „Sprich es“, sagte Simrock, „auf daß es uns, nachdem die Spiegel des Siebengebirgbrunnens offenbart haben, neu erfüllt.“ „Seit undenklichen Zeiten ist Europa“ Görres sprach dunkel, doch so, als ob fern ein Meer rolle -, „von Stämmen bewohnt, in denen zwar jeder für sich selber ein völlig geschlossenes und gerundetes Ganzes ist, die aber als Glieder ein gemeinsames Band der Blutsverwandtschaft umschlingt. Ob ihre Sprachen auch verschieden klingen: innerlich sind sie eins im Geheimnis der Volkheiten, und deren Regel und Gesetz ist es, daß sie zusammenhalten wie ein Mann. Solcher Trieb ist Gebot der Natur, das allen künstlichen Verträgen vorangeht, die darauf notwendig sich gründen müssen, die, wenn anders, in sich selber nichtig sind. Das erkannte ich, sobald mein Jakobinerrausch verweht war.“
Wie immer war auch jetzt die murmelnde Art der Görres-Stimme von unbegreiflicher Gewalt, und die da standen, erreichte er, wie wenn er jeden in seiner Sprache träfe. „Ich sehe“, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, „in diesem Augenblicke des Weltgeschehens, das jenseits der europäischen Grenzen Ungeheures an Märchen aufrichtet, den slavischen, den griechisch-thrakischen Stamm, jenen der Magyaren, unsern deutschen, vertreten durch den erleuchteten Franz von Baader, der dem Abendlande, geschüttelt von dem verhängnisvollen Geschehen des Industrialisierens, das erste warnende Buch über den Proletarier schrieb. Ich sehe den bretonischen, den gallischen, den hispanischen und italischen, erkenne in euch, den Erschienenen der Völker, die in die europäische Erde sich teilen, meine Brüder und weiß unsere Pflichten: daß die Stunde das, was jahrhundertealter Wahn des Unverstandes trennte, aus dem angedeuteten Gesetze der Volkheiten endlich zusammenfügt.“
Görres wartete wiederum eine Weile, und das Spiel des Perlmutterlichtes erfüllte die Stille der Kapelle.
„Die glückhaften Zeiten für die Völker“, unterbrach er das Schweigen“ „sind nicht die, in denen sie Ruhe genießen, sondern jene, die jedes einzelnen Leben anspornen, letzte Kräfte einzusetzen: solche des haßüberwindenden Geistes. Kündet, was die Spiegel wollten.“
Jeder der Gefragten antwortete in seiner Sprache.
Doch sie waren dergestalt durchglüht, daß sie alle einander verstanden. „Als ich vor den Brunnen trat“, sagte der erste, „erschien mein Spiegel und in ihm das Land, das mich gebar, und ich hörte das Wort: Hüte in deinen Eingeborenen die Gläubigen der Stille!“
Der zweite fuhr fort: „Im nächsten Spiegel des Brunnens, in dem die Denkmale meines Landes aufleuchteten, sprach eine Stimme: Hüte in deinen Eingeborenen die Gläubigen der Stille!“
Der dritte, der vierte: jeder versicherte ebenso, und so blieb es, bis der letzte, der achte, gesprochen hatte, der aus dem Lande Dantes stammte. Sie alle hatten den gleichen geheimnisvollen Spruch gehört: das Auffordern, im Eingeborenen die wahrhaft Gläubigen zu hüten.
Görres, der unbewegt zugehört hatte, wendete sich nach dem Bekennen des Letzten an Simrock und gebot ihm, zu sagen, was das Eingeborene sei.
Der jedoch erwiderte, auf die Brüder weisend, das zu deuten sei Jakob und Wilhelm Grimm angemessener als ihm, und es geschah, daß die Angesprochenen in ergreifender Wechselrede von den Märchen, Sagen, Legenden, Schwanken und Liedern, von den echten Dichtungen der Völker redeten, als trügen sie Gedichte vor.
Zu dem, was sie gestalteten, klang eine zarte Musik durch die Kapelle, und als die Brüder, gemeinsam, mit den Worten schlössen, das Umschaffen des Geschehens zu einem Künftigen sei nur möglich, wenn die Betroffenen wurzelten, die schönste Verfassung und die herrlichste Freiheit seien nichts, wenn ihre Träger nicht Ergriffene dieses Wurzeins wären, fragte Simrock zum Weiterklingen der Musik zu Görres hinüber, aus welchem Grunde er die Gefährten in die
Jungfrauen-Kapelle der Landskrone gebeten habe?
„Nirgendwo im Abendlande“, erwiderte Görres, „feiert sich das Gregori-Geheimnis der Tag- und Nachtgleiche so wie an der Ahr, und das verursacht wohl die liebende Macht ihrer Weinberge.“
In diesem Augenblick verwandelte die Musik sich in ein Lied und sang wie der gemischte Engelchor eines Oratoriums:
„So laßt uns künftig treue Stille pflegen
und ihre Gläubigen als Wahrer hüten!
Dann wird ein Binden sich wie Gnade regen,
um das sich Seelensinnende stets mühten.
Des Einens Genius erwacht den Wegen,
auf denen Stern und Blume nie verglühten.
Es gilt, die alten Wunder neu zu hegen.
Dann ist’s, als ob die Himmel Segen sprühten!“
Mit dem Liede schwebten die Brunnenfrager, geführt durch Görres, Simrock und die Brüder aus der Kapelle zurück in das Ewige der Schöpfung, das sie hineingeschickt hatte, und am nächsten Tage erzählte ein liebendes Paar – es hatte im Parke von Bad Neuenahr nahe dem melodisch rauschenden Flusse Arm in Arm gesessen -: die milde Nacht sei eigenwillig gewesen, und plötzlich sei unter den Sternen von der Landskrone her ein Schimmern erschienen, aus dem ein Lied Hinziehender geklungen und wie ein Gebet die Hütenden des Glaubens gepriesen habe.
Und von diesem Gespräche des jungen Paares ging das Märchen aus, das heute wie ein Gesetz in den Stuben der Heimlichen zwischen Rhein, Ahr, Main, Lahn und Neckar umgeht und so lange leben wird, wie Stuben dieser Art nicht verschwinden.