Das Haus Hochstraße 23 – Ein Beitrag zur Geschichte Bad Neuenahrs
In der Hochstraße 23 in Bad Neuenahr befindet sich heute unter der Leitung von Dr. med. Jens Grotewohl die Fachklinik für Venen- und Enddarmerkrankungen. Dadurch, daß jährlich mehrere tausend Patienten aus dem ganzen Bundesgebiet und dem benachbarten Ausland diese Klinik aufsuchen, ist dieses Haus mit seinen 42 Betten in Einzel- und Doppelzimmern, mit seinen Ärzten und Schwestern und seiner Lage oberhalb des Kurparks zu einem Begriff geworden. Nicht von ungefähr wird deshalb im Prospekt mit dem Begriff „Klinik Hochstraße“ geworben. Aber weder die Patienten noch die Bewohner der Kurstadt können dem Haus, das in seiner Fassade an die Jahrhundertwende erinnert, ansehen, welch wechselvolle Geschich-te dieses Gebäude hinter sich hat. Vielleicht werden sich manche Bürger in Bad Neuenahr und seiner Umgebung noch daran erinnern, daß dieses Bauwerk bis 1984 als Sanatorium Dr. Wolfgang Ernst nicht weniger bekannt war als die heutige Klinik. Allerdings war damals die Hochstraße 23 zu einem Begriff für Zuckerkranke geworden, die hier fachmännische Behandlung erwarteten und erfuhren. Was aber beherbergte dieses Haus vorher? Ist seine Geschichte noch erkennbar? Darauf soll hier eine Antwort gegeben werden.
Bei der Sichtung der Besitzverhältnisse dieses Hauses wird erkennbar, daß sich hier über die Aufzählung medizinischer Fachbereiche hinaus ein Stück deutscher Geschichte widerspiegelt, die bis an den Anfang unseres Jahrhunderts zurückreicht, und die es wert ist, festgehalten zu werden.
Heinrich Schmitz, der im Grundbuch als „Con-ditor zu Ahrweiler“ genannt wird, erwarb im Jahr 1881 in der Gemeinde Neuenahr die Flur 7 -Flurst. Nr. 1006 / 164 – Hochstraße 23. Nach seinem Tod im Jahr 1896 erbte seine Ehefrau Margarethe Mathilde geb. Stup mit ihren fünf Kindern dieses Grundstück. Wenige Jahre später heiratete sie den Architekten und Maurermeister Lorenz Bünger aus Köln. Er wurde mit seiner Frau im Grundbuch als Besitzer eingetragen, und er ist es gewesen, der ein Haus mit vielen Zimmern auf diesem Grundstück plante und erbaute, das sowohl als Hotel als auch als Sanatorium geeignet war.
Im Jahr 1907 erwarb der jüdische Arzt Dr. Ernst Rosenberg das Grundstück und das auf ihm stehende Gebäude. Er reagierte damit auf die zunehmende Spezialisierung des Heilbades Neuenahr, das schon um die Jahrhundertwende die sich immer weiter ausbreitende Zuckerkrankheit in das Behandlungsprogramm aufgenommen hatte. Daneben bot Dr. Rosenberg aber auch in der Kurzeitung sein Haus für Magen- und Darmkrankheiten an und wies dort darauf hin, daß es „streng individuelle diätetische Verpflegung und die Küche unter Leitung des Arztes“ gebe. Sein Sanatorium war jährlich von März bis Dezember für alle Patienten geöffnet, aber eben auch im besonderen für Juden aus dem damaligen Gebiet es Deutschen Reiches und auch von jenseits der Grenzen.
Einunddreißig Jahr hat Dr. Rosenberg diese Privatklinik in der Hochstraße betrieben. Im Jahr 1938, als am 9. November auch die Synagoge in Bad Neuenahr völlig zerstört wurde, entschloß er sich, mit seiner Familie nach London auszuwandern. Leer blieb sein Anwesen in der Hochstraße zurück.
Am 25. November 1941 wurde das „Gesetz zur Einziehung des Vermögens ausgewanderter deutscher Juden“ im damaligen Deutschen Reich verabschiedet. Aber bereits vorher war es in der Hochstraße 23 zur Beschlagnahme dieses Hauses durch den Staat gekommen. Denn aus einem Vertrag der Aktiengesellschaft Bad Neuenahr mit dem preußischen Staat vom 20.10.1941 geht hervor, daß die Kur-A.G. als Besitzerin des Nachbargrundstücks damit einverstanden war, „daß in der Hochstraße 23 (früher Sanatorium Dr. Rosenberg) für die Dauer derselben als staatliche Lehrerinnenbildungsanstalt im 2. Stock 1 Fenster und im 3. Stock 2 Fenster“ angebracht werden dürfen
(Landeshauptarchiv Koblenz Bestand 910 Nr 2573). Damit war das Haus schon zu Beginn der vierziger Jahre einem völlig neuen Zweck zugeführt worden.
Wo früher Kranke nach dem Sprachgebrauch der Nationalsozialisten in einem „nichtarischen“ Haus auf Genesung hofften, wurden jetzt junge Mädchen im Sinne einer rassistischen Ideologie für den Lehrberuf ausgebildet. Das, was das genannte Gesetz von 1941 erreichen wollte, nämlich die „Entjudung“ durchzuführen, wurde erst 1943 vollzogen. In diesem Jahr weist das Grundbuch von Bad Neuenahr als Eigentümer die Reichsfinanzverwaltung des Deutschen Reiches in Berlin aus. Die sich zuspitzende Kriegslage erlaubte diese Lehrerinnenausbildung nur bis zum Jahr 1944. Wie in vielen anderen Sanatorien und Hotels des Kurortes wurde der Lehrbetrieb in der Hochstraße 23 eingestellt, und dort ebenfalls ein Lazarett für verwundete deutsche Soldaten eingerichtet. Als nach dem Kriegsende im Frühjahr 1945 die amerikanischen Truppen von Bad Neuenahr abgezogen wurden, und danach die Kurstadt zur französischen Besatzungszone gehörte, beschlagnahmte die französische Militärregierung die Hochstraße 23, um dort Soldaten einzuquartieren. Sie blieben dort bis zum Ende des Jahres. Danach war das Haus ungenutzt. Dieser Zustand änderte sich, als am 27.2.1946 Dr. Boden als der Oberpräsident der Provinz Rheinland-Hessen-Nassau an den Herrn Gouverneur Hettier Boislambert, den Chef der Militärregierung in Bad Ems schrieb: „Die Abteilung Unterricht beabsichtigt, sofort in Bad Neuenahr eine pädagogische Akademie zu errichten, benötigt aber zu Unterbringungszwecken die Freigabe des Internats Hochstraße 23.“ (Landeshauptarchiv Koblenz a.a.0) Dieser Brief war zweisprachig in deutsch und französisch abgefaßt.
Schon drei Wochen später lag der Freigabebescheid telegrafisch vor, und der vom Oberpräsidenten beauftragte Johannes Lohmüller, der zum Akademiedirektor ernannt worden war, konnte mit der Vorbereitung zur Eröffnung der Lehrerausbildungsstätte beginnen. Aus dem im Koblenzer Archiv liegenden Schriftverkehr kann nur noch erahnt werden, mit welchen Schwierigkeiten das aus acht Lehrern bestehende Dozentenkollegium zu kämpfen hatte. In manchen Zimmern fehlten die Glühbirnen, Öfen waren ebenfalls nicht überall vorhanden, und Studentinnen wurde vor der Immatrikulation darauf hingewiesen, daß sie nur ihr Studium beginnen könnten, wenn sie ihre eigenen Betten einschließlich Bettgestell mitbrächten.
Am 30. April 1946 wurde um 9 Uhr 30 die Pädagogische Akademie eröffnet und kurz darauf meldete im Amtsdeutsch – aber auch in französischer Übersetzung – der Direktor, daß „die Schülerbelegung der Anstalt 84 beträgt, und das Akademiegebäude Hochstraße 33, das Studentenheim Hochstraße 23 und das Studentinnenheim Hochstraße 20 untergebracht ist.“
Ein Haus mit einer bewegten Geschichte: Klinik Hochstraße 23, 1997.
Alle, die hier studierten, hatten den Krieg auf je persönliche Art miterlebt, als Soldaten, als Heimatvertriebene, als Ausgebombte oder Dienstverpflichtete, als Krankenschwestern oder in der Kinderlandverschickung. Jetzt sollten sie mit neuen Inhalten und Zielen für den Lehrerbe-‚ ruf vorbereitet werden und gleichzeitig erste Erfahrungen im demokratischen Bewußtsein erlangen. Das alles aber war überschattet vom täglichen Kampf ums Überleben, wobei den Gärten hinter den genannten Häusern eine große Aufgabe für Gemüse und Kartoffeln zufiel. Bis zum Jahr 1948 stieg die Zahl der Studenten auf 180 an und mit der Währungsreform verbesserten sich auch die Wohnverhältnisse im Studentenwohnheim Hochstraße 23, weil im August dieses Jahres endlich eine Heizung eingebaut werden konnte.
Durch die Beschlagnahme des Hauses durch die französische Militärregierung waren allerdings die Besitzverhältnisse nicht geregelt. Denn auf eine Anfrage hin erklärt der Oberpräsident in Koblenz bereits am 31.8.1946: „Die beiden Häuser (Hochstraße 23 und 33) sind im Besitz von Frau Elsa Rosenberg, geb. Spengler, z.Zt. wohnhaft in London. Diebeiden Häuserwurden lediglich für Schulzwecke angemietet. Der Mietvertrag wurde mit Herrn Oberstadtdirektor in Bonn, Oberbürgermeister a.D. Walter Kolb in seiner Eigenschaft als Verwaltungsrechtsrat mit der Generalvollmacht von Frau Elsa Rosenberg beauftragt, abgeschlossen.“ (Landeshauptarchiv a.a.O).
Aus diesem Brief scheint eindeutig hervorzugehen, daß mit dem Kriegsende die vor 1943 bestehenden Besitzverhältnisse wiederhergestellt worden seien. In der Verwaltung der Häuser und im Hinblick auf die Mieteinnahmen stimmte das. Nicht aber in der grundbuchamtlichen Eintragung. Die erfolgte nämlich erst 1952 auf den Namen von Dr. med. Ernst Rosenberg,Facharzt in London N 12, 10 Westbury Road. Die pädagogische Akademie war hier bis zu ihrer Schließung im Jahr 1950 zur Miete untergebracht. Nach ihrer Auflösung und der Neugründung der Ausbildungsstätten für Lehrer in Trier und Koblenz stand das Haus Hochstraße 23 wieder einmal für kurze Zeit leer.
Die neue Bestimmung kam für dieses Anwesen durch eine Arzt, der als Schtesier nach seiner Soldatenzeit nicht mehr in seine Heimat zurückkehren konnte. Dieser Arzt, Dr. Wolfgang Ernst, hatte in Breslau studiert und hier in Bad Neuen-ahr in der Privatklinik Dr. Foerster eine Anstellung gefunden. Die Witwe von Dr. Ernst, Frau Ingeborg Ernst erinnert sich: „Durch Handwerker, die das völlig verwohnte Haus Hochstraße 23 nach dem Auszug der letzten Studenten notdürftig wiederherrichteten, erfuhr mein Mann von den dort vorhandenen Möglichkeiten und der früheren Benutzung dieses Hauses als einer Fachklinik für Zuckerkranke. Da er sich selbst auf diesem Spezialgebiet der Medizin eingehend weitergebildet hatte, faßte er den Entschluß, dort ein privates Kursanatorium für Diabetiker zu eröffnen.“
Für Dr. Ernst war dieser Plan im Jahr 1951 nur realisierbar, indem er zunächst von Frau Rosenberg das Gebäude Hochstraße 23 mietete. Erst im Jahr 1968 bestand dann für ihn die Möglichkeit, die Hochstraße 23 käuflich zu erwerben. Aus dieser rein geschäftlichen Beziehungen mit der Besitzerin in London entwickelte sich im Lauf der Zeit eine persönliche Freundschaft. Die von Dr. Ernst gewählte Bezeichnung für die neue Klinik stieß allerdings auf den Einspruch der Kur-A.G., weil sie darauf bestand, alleine im Kurort Bad Neuenahr ein Kursanatorium zu betreiben. So wurde die Hochstraße 23 als„Klinik Dr. Ernst“ in den dreiund-dreißig Jahren ihres Bestehens zu einer bekannten Institution, die sich bei Patienten aus aller Welt größter Anerkennung erfreute.
Aus Altersgründen mußte Dr. Ernst 1984 mit 74 Jahren die Klinik schließen. Allerdings erreichte er in Verhandlungen mit Dr. Jens Grotewohl und seinen Mitarbeitern, daß das Haus weiterhin medizinisch genutzt werden konnte. Die Hochstraße 23 wurde von dem Ärzte- und dem Mitarbeiterteam um Dr. Grotewohl zu einer Fachklinik für Venen- und Enddarmerkrankungen ausgebaut, die schon bald ihren Ruf für Patienten aus nah und fern etablieren konnte. Im Jahr 1989 wurde dann auch die käufliche Übernahme durch die neue Fachklinik vollzogen und im Grundbuch eingetragen.
So spiegelt die Geschichte des Hauses Hochstraße 23, nicht nur ein Stück der Geschichte des Kurortes Bad Neuenahr wider, sondern auch einer leidvollen deutschen Geschichte, die nicht in Vergessenheit geraten darf.