Das große C ist 5,50 Meter hoch
Sinziger Orgel – die Orgel der Zukunft
VON HARRY LERCH
Von Lars Angerdahl, dem Domorganisten der schwedischen Universitätsstadt Uppsala lese ich diesen Satz: „En ny vag in om orgelbyggerit.“ Das heißt übersetzt: „Ein neuer Weg im Orgelbau.“ Dieser Satz war schon geschrieben, bevor überhaupt die Stimme der Orgel zu St. Peter in Sinziggeweckt ward – so weit war ihr Ruf schon voraus. Lassen wir weiter den berufenen Kenner aus Schweden sprechen: „Aus den Mitteln einer Stiftung betreiben die Orgelbauer eine umfassende Forschung auf hohem Niveau. Diese Orgel ist die revolutionierendste – wer weiß es ? Vielleicht ist dies die Orgel der Zukunft.“
Die Werkstatt Walcker baute das Instrument und den Spieltisch nach Plänen des Sinziger Organisten Peter Bares. Es hat 48 Register, verteilt auf drei Manuale und Pedal. Damit würde sie sich noch nicht von den herkömmlich gebauten Orgeln unterscheiden, die damit ohnehin nicht abgetan sein sollen, diese alten Orgeln, in deren Prospekt eingeschnitzt ist: „Alles, was Odem hat, lobet den Herrn.“ Doch, eine neue Musik ist heraufgekommen, nicht erst seit Strawinskij, Bartok, Britten, Penderecki und Zimmermann. Diese Musik, etwa die „Lukaspassion“ von Krzysztof Penderecki, fordert neue Stimmen, weil sie bis dahin unerwartete Klangwerte fordert und hervorbringt.
Daher die bisher noch nicht gebauten Neuerungen. Zunächst ein programmierbarer Rhythmusgeber, eine Tastenfessel, ein Registermanua) und ein Mixturensetzer. Das ist mehr, als bisher auf den Manualen zu binden gewesen ist. Mit dem Mixturensetzcr gewinnt das Instrument Verfeinerungen und eine größere Palette von Tonmischungen. In die Klangfarben werden, um es auf die Malerei zu übertragen, Pastelltöne eingemischt. Ein Ton, ein Akkord kann gefesselt werden, das heißt, er bleibt stehen, währenddessen die Hände frei sind für Umspielungen und Variationen, Improvisationen und Auszierungen der Melodie. Die Register sind so vielfältig, daß die Stimmen farbig gekennzeichnet sind: grün die Labialregister, rot die Zungenregister, blau die Schlagwerke, weiß die Koppelungen. Die Beiwerke von Mixturensetzer, Registermanual, Percussion (Schlagwerk), Tastenfessel und drehbarem Cymbelstern können beliebig gemischt werden. Das Percussion-Schlagwerk zum Beispiel ermöglicht das Spiel mit sechs festgelegten und neun frei einstellbaren Rhythmen in zwei verschiedenen Klangfarben.
Orgelprospekt St. Peter, Sinzig
Foto: Kreisbildstelle
Variantenreich ist das Satzgeflecht zu spielen, wie es in Pendereckis „Lukaspassion“ vorgezeichnet ist. Dafür ist der Fundus der Register reich mit Dulcian 32, Theorbe dreifach, Harfenregal 16, Röhrenglockenton 8, Mollterz, Fünfzehnte. Diese großen Möglichkeiten der Verbindungen und Überlagerungen sind programmierbar. Warum das alles? Organist Peter Bares sagte vor der Weihe dieser Orgel dazu: „Die neue Orgelmusik hat neue Dimensionen. Für eine solche Orgel ist die Musik eigentlich noch gar nicht geschrieben.“ Daher auch der kaleidoskopfarbe Reichtum von 3 602 Pfeifen, von der Piccolof löte bis zum großen C, einer 5,50 m hohen Pfeife im Prospekt. Die große Spannweite liegt in der Hörgrenze, sie hat so entlegene Schlagwerke wie Röhrenglockenton, Xylophon und Psalterium. Es kam die Stunde im Sommer 1972, als die Orgelstimmen geweckt wurden. So modern sie klingen – es geschah zunächst mit der Fuge e-moll von Nikolaus Bruhns, einem Orgelmeister vor Bach, mit einer Toccata von Georg Muffat. Dann freilich, in einem Orgelkonzert, zaubert Peter Bares im Spiel mit einer Zwölftonreihe und mit einem „Kaleidoskop“ eine Musik hervor mit Verdichtungen, Umschreibungen, Verzierungen und Ballungen. Es offenbaren sich die großen Möglichkeiten der reicheren Ausdruckformen, der Klangbilder zwischen pastell und pastos.
Diese Orgel hat Totalität. Mit ihr ist Frescobaldis „Capricci sopra la battaglia“ ein „Schlachtengetümmel“ fast wörtlich spielbar, das Klangwerk ist reich mit Schnarr- und Pfeifentönen, Baßakkorden und Glockenschlag, Hörnerklang. Vor allem die Clusters! Diese Klangballungen, verwendet insbesondere von Penderecki und Zimmermann, lassen fast die Wände vibrieren. In diesen großen Möglichkeiten fallen und steigen die Höhensysteme. Das gestattet Variationswirbel, Mischungen, Verdichtungen.
Es ist eine kosmische Musik, möglich sind Klänge der Sphären, eine Weltraummusik, die in solcher Oktavenbreite und Ballung bisher noch nie von einer Orgel zu ahnen waren. Dieses Auf und Ab von Ruhezonen im ersten Konzert von Peter Bares und einem späteren von Zsigmond Szathmary, die Brandungen, die gleißenden Läufe können unversehens ins Schweigen brechen – da hört man das Heimchen noch im Orgelgehaus zirpen.
Dieser Musik kann sich keiner entziehen, weil sie total und kosmisch ist, sie rückt an die Stimmendichte eines Orchesters. Was Cage, Ligeti, Kodaly und Penderecki sich musikalisch vorstellten, Töne ganz auszuschöpfen – hier ist es gegeben. Viel ist dem Spieler überlassen. Wie er das entfesselt, dicht vor dem Blendwerk, ist seine Verantwortung. Doch, zur ersten Stunde schon sagen die Hörer – bis auf zwei, drei Kopfschüttler, – ja zu dieser Musik. Es geschieht, daß Beifall gegeben wird für eine Musik der Zukunft, die auf dieser Orgel schon Gegenwart geworden ist. Viel wird von der neuen Sinziger Orgel noch zu hören sein.
Sie ist der Anfang für eine Musik neuer Dimensionen.