Das „Blutgericht“ in Königsberg
VON ERWIN SCHARFENROT
Aus dem Weinbaugebiet an der Ahr rollten die vollen Fässer früher in weit mehr Teile Deutschlands als heute, wo bereits vor der Elbe dem Versand eine Schranke gezogen ist. Wurde doch Rotwein, zumal der von erfahrenen Winzern gekelterte Saft der blutspendenden Burgundertraube, im Nordosten des Reiches sehr geschätzt. Die Spitzenmarken dar Ahr fehlten nicht auf den Getränkekarten der behäbigen Weinlokale, in denen sich die Honoratioren der Städte trafen. Unter diesen alten Gaststätten nahm das „Blutgericht“ in Königsberg einen besonderen Rang ein.
Der Name klingt schaurig, und mit seinem Klang verbindet sich unwillkürlich die Vorstellung von Richtstätten. Vor schon sagenhaft anmutenden Jahrhunderten soll dort auch die „Peinkammer“ des Hofgerichtes gewesen sein. Von dieser Zelt einer rauhen Urteilsvollstreckung haftete aber nichts mehr an jenen mächtigen Kellergewölben des Schlosses. Auch gibt es versöhnlichere Erklärungen für den Namen der Gaststätte. In dem Gang, der zur Haupthalle, dem Raum mit den fünf Prunkfässern führte, gab es einen „Blutrichtertisch“, an dem seit alter Zeit die „Blutrichter“, die alten Stammgäste, saßen die über den roten Rebensaft zu richten hatten. Andere wiederum führen den Namen auf einen Kommerzienrat Richter zurück, der in den ersten Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts Mitinhaber der alten Gaststätte war.
Eine Treppe führte zu den Gewölben von dem weiten Schloßhof hinunter. Der aus dem hellen Sonnenlicht eintretende Gast war sogleich von der Romantik der im Halbdunkeln vorerst nur zu ahnenden, schweren Mauerbögen und ungefügig gequaderten, altersgrauen Wände umfangen. Schritt er näher und gewöhnte sich sein Auge an die von radartigen, schmiedeeisernen Wandleuchtern genährte Beleuchtung, so sah er die großen Prunkfässer im Hintergrund. Sie waren kunstvoll geschnitzt. In Reliefmanier waren auf ihnen Stadtansichten dargestellt, Wappenumrisse gefügt, und allerlei krauses Rankenwerk eingekerbt, über ihnen thronte der Gott der Reben, der fröhliche Bacchus. Und es sei bemerkt, daß an anderer Stelle im Schloß — in dem Flügel, der die Kunstsammlungen der Stadt Königsberg beherbergte — ebenfalls ein herrlicher, vitaler Bacchus hing. Lovis Corinth, der in Königsberg eine zu hohem Ruhm führende Künstlerlaufbahn begann, hatte das lustvolle Bild gemalt. Hier unten im Blutgericht wurde dem Gott freudig gehuldigt. Man saß an sauber gescheuerten Holztischen; die Küfer bedienten die Gäste in blauen Kitteln und mit vorgebundener Lederschürze. Wer Königsberg besuchte, der ging auch ins Blutgericht; dies gehörte gewissermaßen zum Programm. Das Stammpublikum bildeten honorige Männer: angesehene Kaufleute, Professoren der Universität, Studenten und auch mancher Landwirt. Auch Damen waren hier willkommen, wenn sie zuerst auch leicht fröstelnd den Mantel um die Schultern legten. (Nach dem zweiten Glas Wein war dies bestimmt nicht mehr nötig.) Der bedeutende Dichter der Romantik E. T. A. Hoffmann und der Dramatiker Heinrich von Kleist mögen hier bereits manchen Pokal geleert haben. Der Schauspieler Paul Wegner liebte diese, die Phantasie anregende Stätte. Dichter, deren Namen in die deutsche Literaturgeschichte eingegangen sind, haben dem Blutgericht froh beschwingte Zeilen gewidmet. Trat der Gast wieder hinaus auf den Schloßhof, so hörte er vielfach das Getrappel von Hochzeitskutschen. In der weiß-goldenen, barocken Schloßkirche, in der preußische Könige gekrönt wurden, den Segen vor dem Altar zu empfangen, war der Traum mancher jungen Braut… Wünschen wir noch nachträglich, daß ein guter Ahrwein auf der Hochzeitstafel nicht gefehlt hat!
Schloß in Königsberg Pr. / Blutgericht
Foto: Archiv der Landsmannschaft Ostpreußen e. V.