Betrachtung über ein Vogelnest

VON JOH.PET. HEBEL

Wenn der geneigte Leser ein Finkennest in die Hand nimmt und es betrachtet, was denkt er dabei? Getraut er sich auch so eins zu stricken, und zwar mit dein Schnabel u’id mit den Füßen ? Der Hausfreund glaubt’s schwerlich. Ja er will Zugeben: der Mensch vermag viel. Ein geschickter Künstler mit zwanzig feinen künstlichen Instrumentlein kann nach viel mißlungenen Versuchen zuletzt etwas herausbringen, das einem Finkennest in etwa gleich ist, und alle, die es sehen, können es von einem wirklichen Nest, das der Vogel gebaut hat, nicht unterscheiden. Alsdann bildet sich der Künstler etwas ein und meint, jetzt sei er auch ein Fink. Guter Freund, dazu fehlt noch viel. Und wenn ein wahrer Fink, wie du jetzt auch einer zu sein glaubst, dazukäme und könnte dein Machwerk durchmustern wie der Zunftherr ein Meisterstück, so würde er den Kopf ein wenig auf die linke Seite drücken und dich mit dem rechten Auge kurios ansehen, und so er menschlich mit dir reden könnte, würde er sagen: „Lieber Mann, das ist kein Finkennest! Ich mag’s betrachten, wie ich will, so ist’s gar kein Vogelnest. So einfältig und ungeschickt baut kein Vogel. Was gilt’s, du Pfuscher hast’s selber gemacht!“ Das wird zu dem Künstler sagen der Fink.

Ebenso ist es mit einem verachteten Spinnengewebe. Der Mensch kann kein Spinnengewebe machen.

Ebenso ist es mit dem Gespinst, worein sich ein Raupenwurm sozusagen zu einem Karmeliter oder Franziskaner einkleidet, wenn seine Fasten und Reinigungen angehen. Ein Mensch kann kein Raupengespinst fertigen.

Der Hausfreund will ein Wort mehr sagen. Alle Finkennester in der Welt sind einander gleich — wie fast die Kirchen der Jesuiten — vom ersten im Paradies bis zum letzten im Frühling 1813. Keiner hat’s vom ändern gelernt. Jeder kann’s selber. Die Mutter legt ihren Kunstsinn schon in das Ei. Ebenso sind alle Spinnengewebe, ein jedes nach seiner Art, wie auch jede „Franziskanerkutte“ des Raupengeschlechts in seiner Art. Man weiß es wohl, aber man denkt nicht daran.

Dazu noch ein Wort: Das erste Nest eines Finken ist schon so meisterhaft wie sein letztes. Er lernt’s nie besser. Ja manches Tierlein braucht sein Gespinst nur einmal in seinem Leben und hat nicht viel Zeit dazu. Es wäre übel dran, wenn es zuerst eine ungeschickte Arbeit machen müßte und denken wollte: Für dieses Jahr ist’s gut genug, übers Jahr mache ich’s besser.

Und noch ein Wort dazu. Jedes Vogelnest ist vollkommen und ohne Tadel. Nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zuwenig und nicht zuviel, dauerhaft für den Zweck, wozu es da ist. In der ganzen Natur gibt es keinen Lehrplatz, lauter Meisterstücke. —

Aber der Mensch, der es zu einer Geschicklichkeit bringen soll, muß sie mit vieler Zeit und Mühe erlernen, und bis er’s kann, bekommt er manche Ohrfeige von dem Meister. Kein menschliches Werk ist vollkommen.

Was sagt der geneigte Leser dazu? Also ist ein Mensch noch weniger als ein Fink? — Nichts nutz! —

Denn erstlich, nicht der Vogel baut sein Nest, und nicht das Würmlein bettet sein Schlafbett, sondern der ewige Schöpfer tut es durch seine unbegreifliche Allmacht und Weisheit, und der Vogel muß nur das Schnäbelein und die Füßlein und sozusagen, den Namen dazu hergeben. Deswegen kann auch jeder Vogel nur einerlei Nest bauen, wie jeder Baum nur einerlei Blüten und Früchte bringt. Deswegen kann auch der Mensch kein Vogelnest und keine Spinnenwebe nachmachen. Gottes Werke macht niemand nach. Zweitens, wie der ewige Schöpfer an seinem Ort, jedem genannten Geschöpf seine Wohnung bereitet, aber nicht alle auf gleiche Art, dem einen so, dem ändern anders, wie es nach seinem Zwecke und Bedürfnis recht ist, also hat er dem Menschen etwas von seinem göttlichen Verstand in die Seele träufeln lassen, daß er ebenfalls nach seiner eigenen Überlegung für mancherlei Zwecke bauen und hantieren kann, wie er selber glaubt, daß es recht sei. Der Mensch kann ein Schilderhäuslein verfertigen, ein Waschhaus, eine Scheuer, ein Wohnhaus, einen Palast, eine Kirche, jedes Bauwerk nach anderer Weise; item einen Kalender oder sonst etwas. Ein Fink kann nicht zweierlei Nester bauen, er kann keinen Kalender schreiben, noch viel weniger drucken. Drittens hat der ewige Schöpfer dem Menschen die Gnade verliehen, daß er in allen seinen Geschäften unten anfangen und sie durch eigenes Nachdenken, durch eigenen Fleiß und Übung bis nahe an die Vollkommenheit der göttlichen Werke selber hinbringen kann, wenn auch nie ganz. Das ist seine Ehre und sein Ruhm.

Gott, du hast der Freuden Fülle ? —
Denn dein Verstand ist Licht.
Dein Wille ist Wahrheit und Gerechtigkeit.
Du liebest mit stets gleicher Stärke
das Gute nur, und deine Werke
sind Ordnung und Vollkommenheit.
Oh, bilde mich nach dir, — —
Oh, bilde mich nach dir. —