Begegnung mit Hännes

Begegnung mit Hännes

Dem Leben nacherzählt

VON WERNER KELLER

Wenn in der Sippe ein Fest gefeiert wurde, kam er in sein Heimatdorf. „Er sehe abgespannt und erschöpft aus“, meinten die Verwandten, als es wieder mal zum Feiern war. Er lächelte müde und beendete das noch nicht richtig begonnene Gespräch mit dein Hinweis auf die berufliche Überlastung und die damit zusammenhängenden Sorgen seines so schönen Berufes.

Er ging früh zu Bett an jenem Abend, konnte aber nicht einschlafen. Nach Mitternacht stand er auf, zog sich an und ging hinaus in die laue und etwas schwüle Sommernacht. Die nächtliche Stille tat ihm wohl. In Gedanken versunken, schlenderte er an bekannten Häusern vorbei, um dann am Kriegerehrenmal an der Kirche stehen zu bleiben.

Die Kriegergedenkstätte stand halb auf dem Friedhof, im Reiche der Toten, und zur anderen Hälfte unmittelbar vor dem Haupteingang zur Kirche, im Reiche der Lebenden. Die Kirchenbesucher mußten an dem Kriegerehrenmal vorbeigehen, wenn sie den Haupteingang der Kirche benutzten. So stand es nun da, den gefallenen und vermißten Soldaten zur Ehre, den Lebenden zur Mahnung.

Die Kirchturmuhr schlug die volle Stunde. Das fahle Licht des Mondes reichte aus, um die Schrift auf dem Kriegerehrenmal zu erkennen. Er ging die Namen der Reihe nach durch. Er hatte sie alle gekannt, die Gefallenen und Vermißten. Da waren ihre Namen in Marmor geschrieben und in Gold ausgelegt als eherne Lettern. Da stand auch der Name des Hannes, seines Schulkameraden.

In der Schule waren sie nur zwei Buben dieses Jahrganges gewesen. Die Mädchen waren in der Überzahl. Mit Hannes zusammen hatte er die Messe gedient. Er erinnerte sich genau an gemeinsame Erlebnisse in der Jugend. Die erste Beerdigung, bei der sie als Meßdiener dabei waren, war eine alte alleinstehende Jungfrau gewesen; ihren Namen hatte er nie gekannt. Jeisse Jriet, war der Hausname gewesen. Als sie erstmals als Meßdiener für Weihnachten eingeteilt wurden, durften sie im Hirtenamt dienen, Damals hatte der Martin, auch er war schon im Reich der Toten, zu dem ebenfalls zwischenzeitlich verstorbenen Küster und Organisten gesagt: „Pitter, ihr Hirten erwacht, loß ens de Orjel krache“, und Pitter hatte geantwortet: „Do kann’s de dech drob verloße, wenn se noch schlofe, ech wecken se.“ Ja, der Pitter, ein Meister der Töne, hatte Wort gehalten. Er glaubte, das Brausen der Orgel wieder zu hören und fühlte sich zurückversetzt in die Feierlichkeit jener Christmette.

Da war noch der Besuch des Schulrats, der völlig unerwartet in der Fastenzeit gekommen war. Unser strenger, aber gerechter und gewissenhafter Lehrer war nervös geworden. Die Nervosität hatte sich auch auf die Klasse übertragen. Im Unterricht war die Rede davon, daß Jesus seinen Jüngern die Füße gewaschen habe. Es wollte nicht so richtig klappen mit dem Frage- und Antwortspiel. Dann hatte der Schulrat eingegriffen und den Hannes gefragt, warum wohl der liebe Heiland seinen Jüngern die Füße gewaschen habe, und der Hannes hatte geantwortet: „Se wollten auf de Kirmes jehn.“ Der Schulrat hatte in sich hinein gelächelt und darin den Sinn erklärt. Der Lehrer aber stand fassungslos da.

Bei einer anderen Gelegenheit mußte Hannes ein Gedicht aufsagen:

„Es lag schon lang ein Toter vor unserem Drahtverhau. / Die Sonne auf ihn glühte, ihn kühlte Wind und Tau,“

Der Lehrer war böse geworden, weil der Hannes die Worte falsch betonte.

Aber im Zeichnen und Malen war der Hannes der ganzen Klasse überlegen. Das war, wie ihm jetzt erst bewußt wurde, der Ausdruck der Gefühle des Hannes, der schon als kleiner Schulbub Vollwaise war.

Darum hatte ihm der Hannes schon als kleiner Bub besonders nahe gestanden. Er erinnerte sich, als sei es gestern gewesen: Am 26. August 1939 waren die ersten Einberufungen zu einer kurzfristigen Übung gekommen, an deren Dauer niemand glaubte. Hannes und er und jüngere Schulkameraden mußten einrücken. Still Und ohne Begeisterung waren sie mit ihrem Gepäck auf dem Wege zum Ahrtalzug, der sie bis nach Remagen bringen sollte, und von dort hatten sie Anschluß mit dem Schnellzug in die Garnison.

Der Hannes war an diesem Tage besonders eintönig und traurig. Alle, die da auf dem gleichen Wege waren, hatten den Arbeitsdienst bereits hinter sich; sie waren ohne Illusionen.

Nach der Ausbildung in der Garnison trennten sich ihre Wege. Hannes rückte als erster zu einer Feldeinheit ab. Der Abschied war ihnen so schwer gefallen, daß sie beklemmt schweigsam und wie Fremde sagten: „Wir wollen uns oft schreiben.“ Beide schrieben von Zeit zu Zeit eine Feldpostkarte und lebten in der Hoffnung auf ein Wiedersehen im Urlaub daheim. Bei dieser Hoffnung blieb es. Nie hatten sie zusammen einmal Urlaub.

So gingen die Kriegsjahre dahin. Er wartete auf Post von Hannes, als ihm eines Tages seine Mutter schrieb, der Hannes sei gefallen in Jugoslawien. Da wurde ihm bewußt, daß der Hannes beim Weg über die Heide, beim Abschied in der Garnison das Gefühl gehabt haben mußte, wie es um seine Zeit bestellt war, die ihm noch blieb. Er war weiter gegangen durch das ganze Dorf und hatte seine Jugendzeit mit Hannes nacherlebt. Wieder schlug die Kirchturmuhr und die Dämmerung kündete den neuen Tag an, neues Leben. „Tod und Leben sind so eng miteinander verbunden“, dachte er. Sein Pfarrer, der Lehrer und so viele Menschen, die ihm im Leben begegnet waren oder mit denen er irgendwie verbunden war, sind schon im Reiche der Toten. Es war eine lange Kette von Namen. Viele Namen wußte er nicht mehr. Die Erinnerung war lückenhaft, es waren der Namen zuviel, und die Ereignisse hatten sich überschlagen. Nach dem Kriege war er verzogen, die Jahre, die er in der Fremde war, überdeckten die Jahre der Jugend in der Heimat. Man bekam Abstand, und das Erlebte rückte in der Ferne immer weiter zurück; nur Hännes, der war ihm immer ganz nahe.

Als der Pfarrer am Morgen des jungen Tages, dessen Geburt er erlebt hatte, bei den Fürbitten sagte, lasset uns beten für unsere gefallenen und vermißten Brüder, war er, der Hannes, auch dabei. Aber Mannes, wenn auch dein Grab irgendwo auf dem Balkan liegt, in deiner Heimat bist du nicht vergessen. In der Kirche, in der du getauft wurdest betet die Gemeinde für die Krieger, die nicht mehr heimgekehrt sind, beten die Lebenden für dich Hannes, den Helden, der im Kriege gefallen ist, irgendwo in Jugoslawien und dessen Grab man nicht kennt.