Bandorf und seine Umwelt 1903
Wie mag es vor 100 Jahren in Bandorf ausgesehen haben? Ganz genau weiß das niemand mehr. Augenzeugen leben längst nicht mehr, und aufgeschrieben hat es auch keiner. Aber einige historische Mosaiksteinchen kann man doch noch finden.
Das Leben zu Hause
Die allermeisten Kinder werden zu Hause geboren. Mädchen haben eine Lebenserwartung von nicht ganz 48 Jahren, Jungen noch etwas weniger. Fünf oder sechs Kinder in einer Familie sind nicht selten, in manchen gibt es mehr als zehn. Kinderkrankheiten wie Scharlach und Diphtherie verlaufen nicht selten tödlich. Auch manche Mutter stirbt im Wochenbett an Kindbettfieber. Rachitis und Tuberkulose kommen vor allem in den ärmeren Schichten häufig vor. Eine Operation am Blinddarm gilt als durchaus riskant. Narkotisiert wird mit Äther. In den Krankenhäusern gibt es Säle mit mehr als zehn Betten. Das nächste Krankenhaus für die Bandorfer ist in Oberwinter. Es wird 1892 von den Nonnenwerther Franziskanerinnen eröffnet. In Oberwinter haben die Schwestern im gleichen Jahr eine „Bewahrschule“ und eine Handarbeitsschule eröffnet. Dass drei Generationen unter einem Dach leben, ist normal.
Die Schule
Es besteht noch keine allgemeine Schulpflicht – die wurde erst durch den Artikel 145 der Weimarer Reichsverfassung vom 11. 8. 1919 eingeführt – wohl aber eine Unterrichtspflicht. Es hätte also ein Hauslehrer unterrichten können, aber den konnte sich damals kein Bandorfer leisten. Die Erstklässler gehen mit dem Ranzen auf dem Rücken, in dem sich eine Schiefertafel mit Lappen und Schwamm sowie ein Griffelkasten befinden, zu Fuß nach Oberwinter in die Volksschule. Dort wird großer Wert auf Schönschrift und Kopfrechnen gelegt. Jungen und Mädchen sowie Katholiken und Protestanten werden möglichst getrennt unterrichtet. Sogar das Spielen in den Pausen findet nach Konfessionen getrennt auf verschiedenen Schulhöfen statt. Mancher Schüler bekommt den Stock zu spüren. Die Lehrer lassen sich die Stöcke aus der Bandorfer Meisenkaul holen – da wachsen die besten. Die Mädchen lernen Handarbeiten. Der Pastor lehrt Bibel und Katechismus. Die Lehrerinnen sind unverheiratet und heißen darum allesamt „Fräulein“. Die wenigsten Schüler gehen auf ein Gymnasium. In ganz Preußen gibt es erst eine Berufsschule, nämlich die Handelsschule am Klapperhof in Köln, die seit dem 17. April 1900 existiert.
Der Zehntturm von Bandorf
Der Verkehr
Keine Straße in Bandorf ist asphaltiert. Selbst in größeren Städten wie Bonn oder Köln sind keineswegs alle Straßen gepflastert. Auch weite Wege werden zu Fuß zurückgelegt. Man kann aber schon mit der Eisenbahn nach Köln oder Koblenz fahren. Ab 1899 gibt es in Oberwinter einen Bahnhof, vorher musste man bis zum Bahnhof Rolandseck laufen. Die mit Kohle geheizten Lokomotiven stoßen gewaltige Qualmwolken aus. Der Begriff „Umweltschutz“ ist noch nicht erfunden. Es gibt Waggons erster bis vierter Klasse. Die vierte Klasse, die „Holzklasse“, ist am billigsten. An den Bahnübergängen, die nur zum Teil beschrankt sind, stehen die Bahnwärter und zeigen den Lokführern eine rote Flagge bzw. nachts eine Laterne zum Zeichen ihrer Wachsamkeit. Auf dem Rhein gibt es seit dem 1. Mai 1827 eine Personenbeförderung mit Dampfschiffen. Hin und wieder sieht man große Flöße, die Tannenholz aus dem Schwarzwald nach Holland bringen. Im Rhein kann man baden. Die Rheinfischerei lohnt sich noch. Angeblich beschweren sich Bonner Dienstmädchen, wenn mehr als zweimal wöchentlich Zander auf den Tisch kommt.
Kleidung und Küche
Lederschuhe sind teuer, darum laufen viele Kinder im Sommer barfuß. Frauen und Mädchen tragen lange Kleider und Schürzen. Die Jungen bekommen die Haare kurz geschoren, die Mädchen haben häufig zwei Zöpfe. Viele Kleidungsstücke werden zu Hause hergestellt; es gibt aber auch Schneider und Schneiderinnen, die ins Haus kommen. Die Männer tragen bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten oder Beerdigungen einen Zylinder. Kochen, nähen, häkeln, stricken, die Strümpfe stopfen bekommt jedes Mädchen von der Mutter oder Großmutter beigebracht. Brot und Kuchen werden zu Hause oder im Backes zubereitet. Gerade der Backes hat Vorteile: er spart Energie und ist für den Zusammenhalt der Dorfgemeinschaft förderlich. Das Essen ist deftig und rheinisch wie die Muttersprache, die in Bandorf allgemeine Umgangssprache ist. Fleisch gibt es keineswegs jeden Tag. Jede Hausfrau versteht es, Sauerkraut zu machen oder geschnittene grüne Bohnen in Steintöpfen in Salz einzulegen. Pflaumen werden in Essig konserviert. In Bandorf gibt es eine Gaststätte.
Landwirte und andere Berufe
Bandorf ist im Jahr 1903 noch nicht einmal halb so groß wie hundert Jahre später. Eine Volkszählung am 2. Dezember 1895 hatte für Bandorf die Zahl von 175 „Seelen“ ergeben. Noch 1926/27 zählt das Einwohnerbuch des Kreises Ahrweiler 41 Haushalte auf; zehn Jahre später ist deren Anzahl auf 56 gestiegen. Das Gesicht des Ortes und das dörfliche Leben werden von der Landwirtschaft geprägt. Der Arbeitstag ist lang. An Urlaub auf Mallorca denkt kein Mensch. Pflug und Egge werden von Pferden gezogen. Das Getreide wird mit der Sense gemäht, darum hört man zur Erntezeit, wie die Bauern ihre Sensen dengeln, d.h. mit einem Dengelhammer auf dem Dengelstock schärfen. Die Garben werden von Hand gebunden und auf Pferdefuhrwerken in die Scheunen gefahren. Kartoffeln werden vonHand aufgelesen. Im Winter werden die Hausschlachtungen der Schweine vorgenommen, im Wald wird Holz geschlagen. Die Bauern achten darauf, dass die Vorgärten klein und die Nutzgärten groß sind. Dass auch kleine Kinder bei den Arbeiten mithelfen, ist selbstverständlich. Sie machen sich bei der Viehfütterung und bei der Kartoffelernte nützlich und werden auch sonst zu allen möglichen kleinen Handreichungen herangezogen. 1927 gibt es in Bandorf 9 Arbeiter, von denen einer im Steinbruch beschäftigt ist.
Zwei bezeichnen sich als Tagelöhner, eine Berufsangabe, die zehn Jahre später nicht mehr genannt wird. Es gibt 5 Landwirte, 3 Eisenbahner, 2 Ackerer, einen Gastwirt, der gleichzeitig Monteur ist, einen Zimmerer und einen Händler. 9 Bandorfer geben zusätzlich zu ihrer Berufsbezeichnung an, dass sie außer Dienst sind, davon allein 6, die früher bei der Bahn beschäftigt waren. Die 3 anderen sind ein Telegrafen-Beamter, ein Oberpostsekretär und ein Ingenieur. Außerdem geben 5 Männer an, dass sie verwitwet sind, einer bezeichnet sich als Invaliden und dann gibt es noch eine Witwe. 1927 hat noch niemand im Dorf ein Telefon, 1937 gibt es immerhin eines, das dem Kaufmann Anton Köhler gehört.
Kirche und Politik
Bandorf ist katholisch, nur eine Familie soll damals evangelisch gewesen sein. Sonntags geht man fast vollzählig in den Gottesdienst nach Oberwinter. Die Messe wird auf lateinisch gelesen. Die Frauen beten während der Messe den Rosenkranz. Der Priester feiert den Gottesdienst mit dem Rücken zur Gemeinde. Seine Predigt kann schon mal eine halbe Stunde dauern. Eintragungen in Tauf-, Eheschließungs- und Sterbebücher werden auf lateinisch vorgenommen. Das ist eine Art früher Datenschutz. Denn wen geht es schon an, wenn da steht: „Baptizatus est Petrus X., filius illegitimus Mariae Y. Pater ignotus miles, in exercitationibus Imperatoris in his regionibus degens.“
Auf deutsch heißt das: „Getauft wurde Peter X., unehelicher Sohn der Maria Y. Der Vater ist ein unbekannter Soldat, der sich bei den Kaisermanövern in dieser Gegend aufhielt.“ Vor Ostern gehen sehr viele Katholiken zur Beichte, dem vierten Kirchengebot gehorchend, das im Katechismusunterricht auswendig zu lernen war und lautete: „Du sollst wenigstens einmal im Jahr einem verordneten Priester deine Sünden beichten.“ Dazu kam das fünfte Kirchengebot: „Du sollst das allerheiligste Sakrament des Altares wenigstens einmal im Jahre und zwar zur österlichen Zeit in deiner Pfarrkirche empfangen.“ Die Glocken werden von Hand geläutet. Ein Orgelspiel ist nur möglich, wenn einige Jungen kräftig auf die Blasebälge treten, damit der Luftdruck im Windkasten stimmt. Das Rheinland ist preußisch, aber kein Bandorfer fühlt sich als Preuße. In Berlin regiert Kaiser Wilhelm II. In den Schulen lernen die Kinder das Lied: „Ich bin ein Preuße, kennst du meine Farben?“. In Rom stirbt 1903 Papst Leo XIII. Er hat die erste Sozialenzyklika geschrieben. Frankreich hat keinen Kaiser mehr, sondern ist Republik, in Russland regiert Zar Nikolaus II. Es gibt noch die österreichisch-ungarische Donaumonarchie. Von der großen Politik erfahren die meisten Bandorfer nur das Wichtigste, und das mündlich, denn die wenigsten beziehen eine Zeitung, allerdings kann man schon seit langem einen „Generalanzeiger“ kaufen. Radio und Fernsehen sind noch unbekannt. Deutschland ist eine Kolonialmacht mit Besitzungen in Afrika, Asien und der Südsee. Einkaufen kann man in kleinen Geschäften, die zum Teil „Kolonialwaren“ verkaufen, d.h. solche Lebensmittel wie Kaffee, Tee, Kakao, Tabak und Reis. Viele Sachen werden „en gros & en detail verkauft, d.h. man kann zum Beispiel auch einzelne Nägel oder Schrauben erwerben. Ein Brötchen kostet etwa 2 Pfennige, ein Glas Bier weniger als 20 Pfennige. Briefe schreibt man mit Feder und Tinte, wichtige Schreiben werden noch mit Siegellack versiegelt. Kugelschreiber sind noch nicht erfunden. Man schreibt noch eine altdeutsche Schreibschrift, die Sütterlinschrift wird erst ab 1915 für die preußischen Schulen empfohlen. Erst 1941 sollte sie abgeschafft werden.
Die Kassen in den Geschäften sind mechanisch, nicht elektrisch. Keine Stadt weit und breit hat eine elektrische Straßenbeleuchtung, ausgenommen Köln, wo seit 1894 eine Straßenbeleuchtung mit elf Bogenlampen installiert ist. Auf schwere Verbrechen steht die Todesstrafe, die mit dem Fallbeil vollstreckt wird. Frauen haben weder aktives noch passives Wahlrecht. Auf ein Stimmrecht mussten die Bandorferinnen noch bis 1919 warten. Im übrigen herrscht in Preußen das Drei-Klassen-Wahlrecht, das die reicheren Schichten begünstigt. Frauen dürfen an keiner Universität studieren. Das wird in Deutschland erst ab 1908 voll gestattet.
Hygiene
Die Bandorfer sind reinlich, aber kein Haus kennt eine Dusche oder eine Toilette mit Wasserspülung. Morgens bedient man sich der Waschschüssel und eines Wasserkruges. Im Winter kann es passieren, dass das Waschwasser gefroren ist. Die Männer tragen Bärte. Wenn sie sich rasieren, benutzen sie dazu ein Rasiermesser, das auf einem Leder „abgezogen“ wird. Samstags wird in einer Holzbütte oder Zinkbadewanne gebadet. Es existiert noch keine öffentliche Müllabfuhr. Der anfallende Müll wird entweder kompostiert oder in den Öfen verbrannt. Manches nimmt auch der Altwarenhändler mit. Mangels Plastikverpackungen gibt es auch viel weniger Abfall.
Ein gemütliches Leben?
Die Bandorfer kennen 1903 viele Dinge noch nicht, die hundert Jahre später das Leben erleichtern: Pampers, Jeans, Nylon-Strumpfhosen, Videogeräte, elektrische Küchenherde und Waschmaschinen, Kühlschränke und Gefriertruhen, Radio und Fernsehen, Fax-Geräte, Computer etc. Die Bauern hören keine Wetterberichte und wissen trotzdem Bescheid. Es gibt keine Drogenprobleme, es sei denn Probleme mit dem Alkohol; die Worte Hektik und Stress sind unbekannt. Man hat eben manchmal viel zu tun. Aber man nimmt sich Zeit. Auch samstags wird gearbeitet. Das Nachbarschaftsgefühl ist stark. Abends sitzt man zusammen und unterhält sich.
1903 ist noch kein Achttausender im Himalaya bezwungen, nicht einmal die Eigernordwand. Auch nicht die Südwand des Drachenfelses. Die bezwingt erst der Bandorfer Dolomitenführer Antonio Sottile zusammen mit einem polnischen Kameraden nach dem 2. Weltkrieg.
Am 17. Dezember des Jahres 1903 beginnt im fernen Amerika eine Entwicklung, von der damals wohl kein Bandorfer etwas erfuhr: den beiden Brüdern Wilbur und Orville Wright gelang der erste gesteuerte Flug mit einem motorgetriebenen Flugzeug, einem Doppeldecker von 12 PS. Im ersten Anlauf legten sie 53 Meter in 12 Sekunden zurück. 260 Meter in 59 Sekunden schafften sie im vierten Versuch. Sie erreichen also dabei eine Durchschnittsgeschwindigkeit von 15,8 km/h. Heute durchkreuzen weiße Kondensstreifen den Bandorfer Himmel, erzeugt von Flugzeugen in 11 km Höhe, die mit 950 km/h dahinrasen. Die Bandorfer sehen gar nicht mehr hin. Welch eine Entwicklung in 100 Jahren!