Aus: „Meister Martin Hildebrand“

VON WILHELM HEINRICH RIEHL

(Anmerkung: Wilhelm Heinrich Riehl, geb. 1822 in Bieberich, gestorben 1892 in München, Schriftsteller, Dichter und Professor, ist der Begründer der deutschen Volkskunde, Durch stete Wanderungen in deutschen Landen lernte er Land und Leute kennen. Er forschte auch nach des Volkes Glauben und Aberglauben. So geistert auch durch unsere Wandergeschichte eine hexenhafte Zigeunerin. Sie begleitet unseren Wanderer von Köln bis zur Mündung der Nette.)

Hohe Flut 1781

Nach drei Tagen war der Ranzen gepackt. Es war eine böse Zeit fürs Wandern. Der Rhein ging so hoch, daß kein Wagen mehr auf der Landstraße längs dem Ufer fahren konnte, und die Eisschollen trieben so wild in der übermächtigen Flut, daß sich auch kein Schiff auf den Strom wagte, Im Kölner Hafen stand das Wasser drei Fuß hoch in den Warenschuppen und war so plötzlich über Nacht zu der verderblichen Höhe gestiegen, daß ganze Schiffsladungen öl und reiche Vorräte anderer Waren in den offenen Hallen vernichtet worden waren. Alle Freunde drangen in mich, doch nur ein paar Tage noch auszuhalten, bis die hohe Flut sich verlaufen habe. Ich aber hatte einmal meinen Kopf darauf gesetzt, auf den 28. Februar zu gehen, und also ging ich, und wenn es Pflastersteine geregnet hätte.

O wie mächtig sehnte ich mich nach unserem öden, neblichten und doch so trauten Westerwald! Keinen Tag länger würde ich’s in Köln ausgehalten haben. Sechs Jahre lang war ich unterwegs und wußte niemals was vom Heimweh, und in den letzten drei Tagen kommt mir’s, daß ich hätte greinen mögen wie ein Kind, wenn ich an die Westerwälder Nebel dachte!

Am Nachmittag zog ich aus und wanderte selbigen Abend noch bis Bonn. Das ging ganz gut. Das hohe Wasser hatte mich wenig angefochten, und schon dachte ich, ebenso leicht des anderen Tages bis Koblenz marschieren zu können.

Aber weiter stromaufwärts sah es anders aus. Schon am Rolandseck, wo sich die Felsen eng zusammendrängen, war keine Uferstraße mehr gangbar. Da galt es, bergauf und bergab zu klettern, hier durch die Weinberge sich zu winden, dort durch wildverwachsenes Dorngestrüpp auf immer neuen Umwegen, je nachdem die gewaltige Überschwemmung sich tiefer in das Land hineinreckte oder eng gepackt in jähen Strudeln dahinschoß. Heu, das war mir eine Lust, so mit dem Weg und dem Sturm zu kämpfen und die gierige Flut zu betrügen, wenn sie mir da und dort den Weg vertrat! Da brauste mein Wandermut auf wie ein junger Wein, und wie ich so ein Hemmnis um das andere zunichte machte, fühlte sich auch mein inwendiger Mensch mächtig stark, und es ward mir wie einem Genesenden, und ich spottete meiner selbst, daß ich mich so gemartert um die Zigeunerdirne. Aber wie? War es nicht auch derselbe junge Wein der Wanderlust, den mir die Zigeunerin verheißen hatte? Was anders fühlte ich denn jetzt als die Seligkeit, die sie mir verkündet, durch Wald und Heide zu ziehen, frei und flüchtig wie der Wind, der mit uns über die Heide braust? Zum Wanderer sei ich geboren — so hatte sie gesagt, ja, und ich fühle es jetzt, und alte, böse Gedanken überkamen mich, auch eine Hochflut, und ich gedachte wieder, wie ich mich den hannoverschen Werbern hatte verkaufen wollen, um bequemer aus der Haut zu fahren. Wahrlich, es war mir wiederum ergangen wie mit den Gesichtszügen meiner Braut, wie mit dem Traum von unserer stummen Liebe: mit meinem Wandermut hatte ich den Teufel bannen wollen, und mit meinem Wandermut hatte ich ihn erst recht beschworen. Und wäre die Dirne mir in dem Augenblick in den Weg gekommen, ich wäre mit ihr bis zur Hölle gelaufen, rein um der Seligkeit des Laufens willen.

Am Rolandseck stand ein schwer bepackter Frachtwagen mitten im Wasser, wohl fünfzig Schritt weit in der Flut; die Pferde waren längst ausgespannt und gerettet; aber die hohen Wogen steigen bereits über die Räder, und wenn ein tüchtiger Trieb Eisschollen kommt, dann schwankt die ungeheure Last des Wagens rechts und links auf ihren Achsen. Ich hatte eine Minute den Blick abgewandt von dem Wagen, denn der schlüpfrige Pfad unter meinen Füßen forderte ein wachsames Auge. Als ich wieder zurückblickte — war der mächtige Frachtwagen spurlos in den Fluten versunken.

Bei Remagen hatten sich die größten Schiffe mitten auf der Koblenzer Landstraße vor Anker gelegt und ihre Taue an den Alleebäumen zu beiden Seiten befestigt, und doch mochten sie sicher noch ein paar Fuß Wasser über Not unter dem Kiel haben. Die wilden Wogen brandeten aller Orten zerstörerisch in den Baumpflanzungen und Gärten. Bei Linz, wo die Ufer weit und flach sich hinlagern, sah ich einen kleinen Kahn, der über das überflutete Ackerland hinausfuhr. Aber auch da noch waren die Strudel so wild, daß der Kahn bald rund im Kreise herumgerissen, bald pfeilschnell ein Stück stromabwärts gestoßen wurde, während sich die rastlos Rudernden vergebens müheten, das Ufer zu erreichen. So woget das Herz des Gottlosen stets ungestüm und kann nicht stille sein, gleich der hohen Flut — wie die Schrift sagt. Hörst du’s, wanderlustige Zigeunerdirne! Und die Diebe zählen auch zu den Gottlosen! Aber sie weiß ja nicht, daß Stehlen Sünde ist — wie sollte sie eine Gottlose sein?

In der Brohl hatte ich ein kleines Kind gesehen, wie es, fest in die Wiege gebunden, vom Strom angespült wurde. Das Kind war tot, unversehrt, kaum merklich blaß und lächelte wie im Schlaf. Selbst die umstehenden Schiffer, steinharte Männer, vom Wetter und der Sonne braun geglüht, wurden weich bei diesem Anblick.

Wo ich in ein Wirtshaus trat, da saßen die Leute zusammen und fragten mich aus, wie es weiter unten stehe, und kaum wollten sie mir’s glauben, daß ich den bösen Weg habe überwinden können, und prophezeiten mir immer, ich komme gewiß keine halbe Stunde mehr über das Dorf hinaus, und doch bin ich mit Gottes Hilfe stets weiter gedrungen. Wo ich einsprach, da hatte ein jeder von seinem Unglück zu erzählen. Dem einen war die Flut so jählings in den Keller gedrungen, daß sie ihm alle Fässer an die Decke drückte und zersprengte, und nun der ganze Keller gleichsam ein großer Kübel war voll Rheinwein mit Rheinwasser gemischt. Der andere hatte seine Kühe auf den Speicher schleppen müssen; den dritten hatte das Wasser ganz aus dem Hause vertrieben, und in der Tat war ich an manchem sonst stattlichen Bau vorbeigegangen, der jetzt nur noch mit der Dachfirst einen Fuß hoch über die Wellen ragte.

Eine Stunde Wegs unter Andernach waren alle tieferen Pfade überschwemmt, daß ich bis zum Kamm des steilen Bergzuges hinansteigen mußte, so hoch, daß mir zuletzt selbst der hohe Hammerstein auf der anderen Seite tief unter den Füßen lag. Der Sturm da oben auf der kahlen, felsigen Höhe faßte brausend meinen flatternden Kittel und zerrte und wütete, ihn mir zu entreißen, ich selbst aber, mit dem schweren Ranzen beladen, vermochte kaum den Windstößen standzuhalten und fest auf den Beinen zu bleiben.

Als ich da oben ging, sah ich tief unten auf dem übermächtigen Strome ein einziges Schiff, schwer beladen, pfeilschnell dahinfahren. Wer mochten die Waghälse sein, jetzt, wo die kecksten Schiffer sich nicht aufs Wasser getrauten? Ich erkannte die rote Flagge und sah eine bunte Menschenmenge auf dem Verdeck — es war ein Schiff mit Werbesoldaten. Und wenn ihnen die Kerls auch alle krepierten, die Seelenverkäufer können’s nicht abwarten, bis sich die hohe Flut verlaufen hat, und müssen in jedem Frühjahr die Schifffahrt eröffnen. So wie der Sturm eine Sekunde schwieg, hörte ich den Gesang dieser verzweiflungsmutigen Verkauften gedämpft heraufklingen. Es war ein Soldatenlied eigener Art, ein Spott- und Klagelied, sie aber sangen’s mit lautem Jubel:

„Ach ich armer Werbesoldat, 
Der nur den Tag drei Kreuzer hat 
Und anderthalb Pfund Brot, 
Wie leid‘ ich schwere Not!

Fürs Geld laß ich mir waschen 
Mein Hemd und die Gamaschen, 
Und wenn ich das nicht tu‘,
Krieg‘ ich noch Schlag‘ dazu.“

Ein solches Lied, von solchen Leuten mit toller Lust gesungen, denen die gegenwärtige Stunde jeden Augenblick zur Todesstunde werden konnte, war grausig anzuhören. Und es war mir, als zögen hinter dem Schiff her wie ein Gespensterschwarm die Klagen und Verwünschungen der verlassenen Eltern, Weiber, Kinder, Bräute, denen die meisten dieser Gesellen, gleichfalls in toller Wanderlust, freventlich fortgelaufen waren, und wann die Wellen so hoch an dem Schiffe aufschlugen und die drängenden Eisschollen es oft mitten im Laufe quer schoben, dann wußte ich da droben nicht mehr, ob der Sturm im Augenblicke nur den Gesang verschlungen hatte oder das Wasser und der Hölle Abgrund auch die Sänger! Aber jetzt haben sie wieder gutes Fahrwasser gewonnen. Horch! man hörte sie auch wieder singen —

„Und wenn ich das nicht tu‘. 
Krieg‘ ich noch Schlag‘ dazu.“

Da kam mir die volle Besinnung wieder, und ich gelobte mir fester als jemals, als ein ehrlicher Schlossermeister auf dem Westerwalde leben und sterben zu wollen.

Autor