Auf dem Weg nach Europa:
Die Wahl des Europäischen Parlaments
Petra Ockenfeld
Die für den 10. Juni 1979 vorgesehenen ersten Direktwahlen zum Europäischen Parlament sind ein entscheidender Schritt auf ein Vereinigtes Europa hin.
Nachstehender Beitrag soll, wie es in vielen Veröffentlichungen und Veranstaltungen bereits geschehen, auf die Bedeutung dieser Wahl hinweisen. Es handelt sich hier um einen Auszug aus der preisgekrönten Arbeit der Schülerin Petra Ockenfeld, Glees, die im Rahmen des Europäischen Wettbewerbs 1978 mit dem Aufsatzthema „Sie sind Kandidat für die Direktwahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Entwerfen Sie eine Wahlrede!“ eingereicht wurde. Petra Ockenfeld wurde 1. Landessiegerin von Rheinland-Pfalz und anschließend Bundessiegerin.
Die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft ist zu einem festen Bestandteil unserer politischen Wirklichkeit geworden. Auf der Basis der Integrationsverträge, die das fortschreitende politische und wirtschaftliche Zusammenwachsen Europas garantieren, werden jedes Jahr Tausende von Entscheidungen getroffen, die die Welt, in der wir leben, mitgestalten. Jeder von uns ist nicht nur Bürger seiner jeweiligen Gemeinde, seines Bundeslandes und der Bundesrepublik, sondern auch Bürger Europas. Dessen müssen wir uns bewußt werden.
Die heutige Zeit leidet unter starken Spannungen und mannigfaltigen Krisen auf geistigem, politischem und wirtschaftlichem Gebiet. Doch es gibt für uns eine Chance für eine hoffnungsvollere und glücklichere Zukunft, die Europäische Union. Wir Europäer müssen mit einer Stimme sprechen, wenn wir entscheidende Beiträge zum Frieden und zum Abbau der Konflikte in der Welt leisten wollen. Eine innenpolitische wie auch außenpolitische Zusammenarbeit und Abstimmung ist dafür unerläßlich.
Die Idee eines politischen Zusammenschlusses in Europa ist alt und über alle Kriege hinweg immer wieder lebendig geblieben. Ich möchte da nur auf das Hambacher Fest im Jahre 1832 aufmerksam machen. Erinnern wir uns an die Stunde Null, an das Wendejahr 1945, an die schlechten*Zeiten, die politische Aufteilung Deutschlands, die Vertreibung, Verschleppung und Ausweisung vieler Europäer, was noch einmal Haß- und Rachegefühle in Europa schürte. Diese Zeit des Elends, der Armut, der Not, des Schreckens und Wiederaufbaus ist wohl den Älteren noch in bester Erinnerung.
Nur ein vereintes Europa kann eine solche Katastrophe wie der Zweite Weltkrieg verhindern. Daher hatte bereits am Ende des Zweiten Weltkrieges der Nationalstaatsgedanke in Westeuropa viel an seiner Überzeugungskraft eingebüßt. Zu diesem Zeitpunkt standen die Sterne gut für Europa. Der Zwang, neue Wege für ein Zusammenleben der Staaten in Europa zu finden, war in der Nachkriegszeit größer als je zuvor. Vielfältige Hoffnungen knüpften sich an den Zusammenschluß zu einem großen Bundesstaat, der die Blockbildung überwinden, eine Friedensordnung schaffen und die wirtschaftliche und soziale Wohlfahrt der Völker dieses Kontinents sichern sollte. Zu Beginn des Aufbaues in Europa war für alle Europäer eine ähnliche Ausgangsposition gegeben. Alle mußten neu anfangen. In Europa kam langsam nach dem Schrecken des Krieges die Devise auf „Stärke durch Zusammenarbeit“ und die gilt heute noch.
Obgleich die jahrhundertelange gemeinsame Geschichte und eine europäische geistige Grundhaltung nicht ausschlaggebend waren, bilden sie doch eine wichtige Voraussetung für das Gelingen der wirtschaftlichen und politischen Integration. Aber entscheidend war die historische Situation, mit der sich die europäischen Staaten am Ende des Zweiten Weltkrieges konfrontiert sahen. Die leidvollen Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges verstärkten die Bemühungen, den Frieden in Europa zu sichern und kriegerische Auseinandersetzungen dadurch zu vermeiden, daß man Möglichkeiten zur gleichberechtigten Zusammenarbeit schuf. Nach 1945 gab es vor allem in der Jugend einen leidenschaftlichen Einsatz für die europäische Idee. Demonstranten beseitigten Schlagbäume an den Grenzen und pflanzten Fahnen mit dem grünen E, dem Zeichen der „Europäischen Bewegung“ auf. Diese Begeisterung ist heute, wo sie wichtiger ist denn je, nicht mehr zu spüren. Für Europa steht die Uhr eine Minute vor zwölf. Entweder entsteht die Europäische Union, oder Europa geht unter.
Denken wir an die Väter der Montanunion, die Vorkämpfer der Europabewegung, Robert Schumann und Jean Monnet, die sich mit endloser Begeisterung voll und ganz ihrem Ziel widmeten, dem Vereinten Europa. Am 18. April 1951 wurde in Paris die Montanunion gegründet mit der Hoffnung auf einen künftigen Frieden, ein dynamisches Europa, Beendigung des kalten Krieges, auf eine bessere, furchtlose Zukunft. Den Anstoß zur Gründung gab der Plan, den der französische Wirtschaftspolitiker Jean Monnet entwickelt hatte und den der damalige französische Außenminister Robert Schumann am 9. Mai 1950 in Straßburg vorlegte. Sechs europäische Staaten hatten den Mut zum Wagnis und machten den Anfang: Belgien, die Bundesrepublik, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Sie verwalteten gemeinsam die Kohle- und Stahlproduktion. Einheitliche Grundsätze sollten auf dem Gebiet von Kohle und Stahl das Nebeneinander der sechs Volkswirtschaften ablösen. Die Vergemeinschaftung einer Industrie, die die Grundlage jeder Rüstungstätigkeit darstellt, war aber auch das beste Mittel, eine erneute Waffenkonfrontation zwischen europäischen Ländern zu verhindern und das war wohl im Sinne von jedermann in Europa. Das ist auch die Begründung für das gute Gelingen der Arbeit in der Montanunion.
Der Erfolg dieses ersten Versuchs für den Kohle- und Stahlsektor veranlaßte die sechs Länder 1957 dazu, ihre Zusammenarbeit auf eine Europäische Wirtschaftsgemeinschaft auszuweiten. Somit kann man die Montanunion mit Recht als die Vorstufe der EWG bezeichnen. Am 25. März 1957 wurden die Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) in Rom unterzeichnet, die am 1. Januar 1958 ihe Arbeit aufnahm. In Rom, dem Mittelpunkt des kaiserlichen Europas, wurde vor über 20 Jahren der Grundstein für ein neues vereintes Europa gelegt, das Europa der Zukunft.
Die zur Förderung der friedlichen Nutzung der Atomenergie geschaffene Europäische Atomgemeinschaft hat einen gemeinsamen Markt für Kernmaterial errichtet. Während die Tätigkeiten der EGKS und Euratom sich auf spezielle Bereiche erstrecken, hat jedoch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft vielseitige Aufgaben. Die sechs Gründerstaaten waren fest entschlossen, durch gemeinsames Handeln den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt ihrer Länder zu sichern, indem sie die Europa trennenden Schranken beseitigten. Ebenso strebten sie eine, Besserung der Lebens- und Beschäftigungsbedingungen ihrer Völker an. Weitere Ziele waren beständige Wirtschaftsausweitung, ausgewogener Handelsverkehr und ein redlicher Wettbewerb. Sie versuchten, indem sie den Abstand zwischen einzelnen Gebieten und Rückstand weniger begünstigter Gebiete verringerten, ihre Volkswirtschaften zu einigen und deren harmonische Entwicklung zu fördern. Ihre gemeinsame Handelspolitiksoll zur fortschreitenden Beseitigung der Beschränkungen im zwischenstaatlichen Wirtschaftsverkehr beitragen. Das höchste Ziel der EG war und ist, durch diesen Zusammenschluß ihrer Wirt-
schaftskräfte Frieden.und Freiheit zu wahren und zu festigen. Der größte Wunsch der EG ist, daß sich die anderen Völker Europas, die sich zu dem gleichen hohen Ziel bekennen, diesen Bestrebungen anschließen.
Europa braucht aber Zeit. Wir können ein vereintes Europa nicht zaubern, Europa muß wachsen. Doch damit Europa wächst, brauchen wir Menschen, die sich zu Europa bekennen und sich dafür engagieren, sonst ist Europa und unsere ganze Zukunft gescheitert. Denken wir an Adenauers Worte, er ist mit de Gaulle einer der Väter Europas: „Die europäischen Nationalstaaten haben nur noch eine Vergangenheit, aber keine Zukunft.“ Eine Zukunft hat nur noch die Europäische Union.
Doch eine Feststellung stimmt traurig. Je mehr sich die europäischen Staaten von den Erschütterungen der Kriegs- und Nachkriegszeit erholen, um so selbstbewußter werden die einzelnen Nationen. Die Wirkungskraft des Nationalismus ist also abhängig von der politischen Weltkonstellation: in Krisenzeiten ist die Bereitschaft, im größeren Verbände Schutz zu suchen, eher gegeben als in Zeiten des wirtschaftlichen Aufschwungs. Auch heute, wo das Wirtschaftswachstum durch Arbeitslosigkeit und einige Krisen gehemmt ist, geht es uns im allgemeinen sehr gut. Dadurch hat unsere Begeisterung für Europa einen starken Rückschlag erhalten. Wir denken, wir brauchen Europa nicht mehr.
Der EG traten am 1. Januar 1973 drei weitere Länder, Dänemark, das Vereinigte Königreich und Irland, bei, um gemeinsam eine Neunergemeinschaft zu bilden. Somit hatte die EG nunmehr den größten Teil Westeuropas geeinigt. Ihr Wunsch, daß sich die anderen Völker Europas, die sich zu den gleichen Zielen wie die sechs Gründerstaaten bekennen, ihren Bestrebungen anschließen, wurde erfüllt. Inzwischen haben bereits Spanien, Portugal und Griechenland den Antrag auf Mitgliedschaft in der EG gestellt. Diese drei Länder haben vor kurzem ihre autoritären Regime abgestreift und sich zu einer freiheitlichen Demokratie im westlichen Sinne gewandelt oder sind im Begriffe, dies zu tun. Wenn die Regierungen dieser Länder in einer solchen Lage innere und äußere Stabilität und Sicherheit durch Einbindung in den freien Westen suchen, der sich für sie in der EG manifestiert, so kann die Antwort nur positiv sein.
Noch fehlt Europa die demokratische und die politische Legitimation, einen festen Platz im Rahmen der solidarischen Gemeinschaft der Völker einzunehmen. Der Grundsatz, daß alle Gewalt vom Volke ausgeht, darf bei einer mit politischer Herrschaftsmacht ausgestatteten Gemeinschaft nicht nur bei den Einzelstaaten, sondern muß auch bei der Gemeinschaft als Ganzes verwirklicht werden. Die Wahlbürger in der Gemeinschaft müssen die Möglichkeit haben, ihre Repräsentanten in den parlamentarischen Organen der Gemeinschaft direkt zu wählen. Die Prinzipien der politischen Willensbildung, wie sie in den Mitgliedstaaten praktiziert werden, müssen auch in der Gemeinschaft angewendet werden. Die Direktwahl eröffnet erstmals die Möglichkeit einer direkten institutionellen Beteiligung am europäischen Einigungsprozeß.
Doch wie soll das Europäische Parlament aussehen? Dem aus 410 Abgeordneten bestehenden Europäischen Parlament sollen 81 Abgeordnete aus der Bundesrepublik angehören. Sie sollen alle fünf Jahre gewählt werden. Das Wahlverfahren bestimmt sich in jedem Mitgliedstaat nach den innerstaatlichen Vorschriften bis zum Inkrafttreten eines einheitlichen Wahlverfahrens. Die Wahlen finden im Juni 1979 in allen Mitgliedstaaten im gleichen Zeitraum statt.
Unsere Zukunftmöglichkeiten sind nur voll auszuschöpfen, wenn die Nationen von krassem Egoismus und einem durch die weltpolitische und weltwirtschaftliche Entwicklung überholten Herrschaftsstreben abrücken und zusammen mit anderen eine tragbare Lösung suchen.
Bereits 1946 sagte Winston Churchill: „Wir müssen eine Art Vereinigter Staaten von Europa errichten. Europa muß sich vereinigen, oder es wird untergehen.“ Eine Vereinigung der kleinen Schritte in Europa ist doch eigentlich gar nicht so schwer.
Europa ist doch schon eine Einheit. Denken Sie doch an die gemeinsame Kultur Europas auf religiösem, geistigem und staatsrechtlichem Gebiet. Das Indogermanische ist der gemeinsame Ursprung fast aller europäischen Sprachen, mit Ausnahme des Finnischen und Ungarischen. Also sind in Europa die rassischen und sprachlichen Gegensätze sehr gering. Oder können Sie auf Anhieb sagen, wenn europäische Kinder zusammenspielen, welches Kind ein Deutscher oder ein Türke ist? Ich glaube nicht, daß dieses Ihnen möglich ist.
Das Christentum ist eine der Kräfte, die Europas Geschichte, seine Entwicklung und seine Kultur gestaltet haben. Die christliche Tradition gehört ganz wesentlich zu Europa. Europa ist durch die christliche Religion geprägt und daher vom Glauben eine starke Einheit.
Doch Europa ist ebenso eine geistige Einheit. Als die Kirche etwas von ihrer Macht verlor, da schufen Technik, Malerei, Architektur, Dichtung, Mode und Kulturepochen eine starke Einheit in Europa. Nicht einmal die grausamen Kriege haben es geschafft, das Band Europas zu zerreißen.
Einem vereinten Europa stehen in der Welt alle Türen offen. Je enger sich die Staaten in Europa zusammenschließen, um so eher können sie Spannungen auch in anderen Teilen der. Welt überwinden helfen, und in dem prekären Gleichgewicht des Schreckens zwischen den Weltmächten und Blöcken als Stabilisator und Friedensstifter wirken. Sie könnten dann auch mit mehr Aussicht auf Erfolg auf eine ausgewogene allgemeine Abrüstung drängen, auf eine Verminderung des Rüstens und der gewaltigen Summen, die heute dafür ausgegeben werden und die woanders besser und segensreicher angebracht wären. Die gewaltigen Summen, die dann eingespart würden, könnten dazu beitragen, den Hunger in der Welt zu stillen, und das Leben in den Entwicklungsländern lebenswert machen. Ein vereintes Europa wäre für die gesamte Welt segensreich. Die Gemeinschaft gibt ja heute schon den Entwicklungsländern die Möglichkeit, sich mit ihr zu assoziieren oder besondere Handelsverträge abzuschließen.
Bitte bedenken Sie das alles und zeigen Sie Ihre Zustimmung zu Europa durch die Teilnahme an den Direktwahlen zum Europäischen Parlament. Denken Sie bitte auch an die Zukunft Ihrer Kinder, denen wohl ein Vereintes Europa sehr nutzbringend wäre. Seien Sie sich Ihrer Verantwortung sich,selber und der Welt gegenüber bewußt!