Anno 643 oder 893?
Zum ältesten Zeugnis für Bodendorf
Prof. Dr. Ulrich Nonn
1986 veröffentlichte Franz Anton Paßmann in den Godesberger Heimatblättern einen Aufsatz „Die älteste fränkische Gerichtsurkunde aus Bodendorf an der Ahr vom Jahre 643“1)‚: die von ihm untersuchte Urkunde ist schon mehrfach auf der Suche nach den ältesten Belegen für Bodendorf herangezogen worden. So führte Peter Zepp 1943 die Urkunde als sicheres Erstzeugnis an, wenn er auch einschränkend zugestand: „Über die Bedeutung dieses „Bodovilla“ hat man mancherlei Meinungen geäußert. nichts liegt aber näher, als darunter das heutige Bodendorf zu verstehen“.2) In dem Sammelwerk „Sinzig und seine Stadtteile gestern und heute“ von 1983 nehmen Otto Kleemann und Karl August Seel in ihren jeweiligen Beiträgen3) -ohne jegliche Nachprüfung und nähere Nachweise – die Urkunde von 643 als gesicherten Erstbeleg für Bodendorf. In der jüngsten Untersuchung über das Reichsgut Sinzig äußert sich Ulrich Heibach wieder vorsichtiger: „Bodendorf: wahrscheinlich belegt a 643 Bodovilla“.4) Ein unverstellter Blick auf das Dokument selbst dürfte also nützlich sein.
Die Urkunde ist das älteste Dokument des Bonner Stifts St. Cassius und Florentius (des heutigen Münsters), dessen früheste Urkunden nur in einer Abschrift des Kölner Ratsherren J. Helman aus dem XVI. Jahrhundert überliefert sind5): das ist insofern wichtig, als gerade die Namen bei späteren Abschriften frühmittelalterlicher Urkunden oft falsch gelesen und verunstaltet wurden. In der Gerichtsurkunde von 643 gibt der merowingische König Sigibert III. bekannt, daß das Königsgericht in einem Streit zwischen dem Kölner Bischof Kunibert und einem Evergisel um einen Weinberg „infra ter-mino Bodofricense“ zugunsten Kuniberts entschieden hat. Vermutlich ist der Weinberg später an das Cassiusstift gelangt (der Kölner Bischof war Propst des Bonner Stifts); das würde die Überlieferung innerhalb der Bonner Urkunden erklären.6) Die Urkunde ist datiert „sub die III. quod fecit September anno X. regni nostri“, also am 3. September im 10. Jahr unserer Herrschaft, d.h. 643: es folgt die Ortsangabe „Bodovilla“. Daß es sich bei der Lageangabe des Weinbergs „in termino Bodofricense“ um Boppard handelt, ist seit langem unbestritten:
die ältesten überlieferten Namensformen der mittelrheinischen Stadt lauten denn auch „Bau-dobrica“ (um 300). „Bodobrica“ (um 400) und auf merowingischen Münzen des VII./VIII. Jahrhunderts auch „Bodovreca“.7) Paßmann allerdings hat in seinem oben genannten Aufsatz eine andere Deutung vorgeschlagen: er sieht -durch „terminus“ = „Grenze“ notwendig – einen „von dem Gerichtsschreiber zusammengezogenen Begriff ‚Bodofricense'“: „Nach Abzug der gebräuchlichen Endung -ense bleiben Bodo und Fric, deren Dörfer wir in Bodendorf an der Ahrund Fritzdorf erkannt hatten.“8) Nach seiner Auffassung beinhaltet die Lageangabe „ein auf Bodendorf zu abfallendes Gelände, wobei man unwillkürlich an den Weinbau der unteren Ahr denkt, welcher heute bis zur Landskrone zurückgewichen ist.“ Diese schon sprachlich abenteuerliche Deutung ist aber auch sachlich mehr als unwahrscheinlich: zur Lokalisierung eines Weinbergs würden kaum zwei so weit auseinanderliegende Orte (Luftlinie ca. 101/2 km) genannt. Hinzu kommt, daß im mittelalterlichen Latein „terminus“ keineswegs nur „Grenze“, sondern durchaus auch „Gebiet, Gegend“ bedeuten kann und häufig zur Lageangabe von Gütern gebraucht wird (es erübrigt sich, Belege dafür anzuführen).
Die einzige ernsthaft zu diskutierende Frage kann nur sein, ob das „Bodovilla“ in der Datierung Bodendorf ist. Die Urkunde, die – um es nochmals ausdrücklich zu betonen – nur in einer Abschrift des XVI. Jahrhunderts überliefert ist, bietetformal und inhaltlich keinen Anlaß zum Verdacht auf eine Fälschung; sie gilt denn auch allgemein in der Forschung als echt. Der merowingische König Sigibert III. (638/39-656) war schon von seinem Vater, Dagobert l., dem letzten bedeutenden Gesamtherrscher des merowingischen Frankenreiches, als zweijähriges Kind zum Unterkönig in Austrasien (dem merowingischen Ostreich) mit der Residenz Metz eingesetzt worden; die Regentschaft führten der Bischof Kunibert von Köln und der Herzog Adalgisel. Beim Tod des Vaters (638/39) wurde das Reich geteilt: Sigibert III., inzwischen acht Jahre alt, behielt Austrasien, sein jüngerer Bruder Chlodwig II. erhielt Neustrien und Burgund.9) Die Regentschaft für Sigibert übten nun Bischof Kunibert und der Hausmeier Pippin aus, nach dessen Tod (640) sein Sohn Grimoald. Das Königsgericht kann 643 also nur im austra-sischen Teil des Frankenreiches getagt haben: damit scheiden für „Bodovilla“ eine Reihe von Orten im neustrischen Teil aus, die von der sprachlichen Form durchaus in Frage kämen: so „Bodevilla“ (= Bouville, dep. Seine-Maritime), „Bodivilla“ (= Boudeville, dep. Seine-Maritime), mehrere „Bodonis cortis“ (= Bancourt, dep. Pas-de-Calais; Boncourt, dep. Eure; Boncourt, dep. Aisne).10) Dagegen käme ein anderes „Bodonis cortis“ (= Boncourt, dep. Meurthe-et-Moselle) in Frage ebenso wie „Bodonis villare“ (= Baudonvilliers, dep. Meuse).11) Es wäre nicht unwahrscheinlich, daß das Königsgericht in Boppard selbst getagt hätte: die ehemalige keltische Siedlung, in römischer Zeit befestigt, gehörte mit großer Wahrscheinlichkeit zum merowingischen Königsgut; als karolingisches Krongut ist es seit 814 sicher bezeugt.12) Aber die Namensform „Bodovilla“ ist – trotz gegenteiliger Behauptung13) – m.W. für Boppard nicht bezeugt: außerdem wären zwei so unterschiedliche Formen („Bodofricen-se“ – „Bodovilla“) in ein und demselben Dokument mehr als unwahrscheinlich.
Im weiteren rheinischen Umland aber kommt eine Reihe von zumindest hochmittelalterlich sicher bezeugten Orten in Betracht. Am nächsten liegt das heute wüste „Budenheim“ bei Kastellaun im Hunsrück14) (Kastellaun ist seit frühkarolingischer Zeit als Vorort des Trechirgaus und Königsaufenthalt gesichert). Südlich von Mainz wäre Bodenheim (erstmals 835 als „Batenheim“ belegt) zu nennen.15) Im Kölner Umland schließlich-für das die Beteiligung des Kölner Bischofs Kunibert spräche – finden wir gleich vier mögliche Orte: das heute zu Lom-mersum (nördl. Euskirchen) gehörende Bodenheim16) und das heute zu Rommerskirchen (so. Grevenbroich) gehörende Butzheim17). die beide seit dem X. Jahrhundert belegt sind, sowie die – allerdings erst seit dem XII. Jahrhundert bezeugten – Boisdorf („Bodstorp“, heute zu Horrem w. Köln)18) und Büsdorf („Bodes-dorp“, heute zu Bergheim w. Köln).19)
Bedenkt man, daß die als Aachen-Frankfurter-Heerstraße bekannte Verbindung, auf der später nachweislich einige Könige Bodendorf passiert haben, zum Zeitpunkt der Urkundenausstellung Sigiberts 643 noch keine Bedeutung hatte – sie wurde wohl erst im letzten Viertel des 8. Jahrhunderts von den Karolingern angelegt20) – verstärken sich die Zweifel an der Deutung, mit „Bodovilla“ könnte Bodendorf gemeint sein. Zudem folgen dieser vermeintlichen Ersterwähnung 250 Jahre ohne jeden schriftlichen Hinweis auf den Ort.
So können wir am Ende unserer Untersuchung festhalten: Das in der Urkunde von 643 genannte „Bodovilla“ läßt sich nicht sicher identifizieren. Für Bodendorf bleibt es bei dem gesicherten Erstzeugnis im Prümer Urbar von 893 „Budendorpht“.21) Mag mancher geschichtlich interessierte Bürger enttäuscht sein, daß Bodendorf 1993 nicht eine 1350-Jahrfeier, sondern „nur“ eine 1100-Jahrfeier begehen kann, so sei ihm zum Trost gesagt, daß die schriftliche Ersterwähnung immer auf Zufall beruht; die archäologischen Untersuchen haben Bodendorf zweifelsfrei als fränkische Siedlung erwiesen und sogar römerzeitliche Funde nachgewiesen.22)
Anmerkungen
- In: Godesberger Heimatblätter 24 (1986) S. 135-149.
- Peter ZEPP. Zur ältesten Geschichte von Bodendorf an der Ahr. n. Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 142 43 (1943)‘ wiederabgedruckt in: Beiträge zur Heimatkunde von Bad Bodendorf – Festbuch 300 Jahre St. Sebastianus Bruderschaft 1681 e.V. (Bad Bodendorf 1981) S. 41-47.
- Sinzig und seine Stadtteile – gestern und heute, hg. von Jürgen HAFFKE und Bernhard KOLL (Sinzig 1983). Dann: Otto KLEEMANN, Vor- und Frühgeschichte des Raumes Sinzig (S. 28-50; hier S. 38; und Karl August SEEL. Die Geschichte Bodendorfs von den Anfängen bis zum 19. Jahrhundert (S. 330-426; hier S 331 und 336)
- Ulrich HELBACH. Das Reichsgut Sinzig (Rheinisches Archiv 122. Köln Wien 1989) S. 57 Anm. 33. Sein Hinweis auf Heinrich DlTTMAIER. Die linksrheinischen Ortsnamen auf -dorf und -heim (Rheinisches Archiv 108. Bonn 1 979) S. 78 geht allerdings fehl, denn Dittmaier gibt als ältesten Beleg keineswegs 643, sondern 893 (Prümer Urbar)
- Rheinisches Urkundenbuch. Ältere Urkunden bis 1100. bearb. von Erich WISPLINGHOFF, Bd. l (Bonn 1972) S. 64f. Ausführlich zur Überlieferung vgl. Wilhelm LEVISON. Die Bonner Urkunden des frühen Mittelalters. In: Bonner Jahrbücher 136/37 (1932) S. 217-270
- Vgl. Dietrich HÖROLDT, Das Stift St. Cassius zu Bonn von den Anfängen der Kirche bis zum Jahr 1580 (Bonn 1957) S. 318.
- Die Belege bei Maurits GYSSELING, Toponymisch Woorden-boek van Belgie, Nederland, Luxemburg, Noord-Frankrijk en West-Duitsland (voor 1226), Bd. l (Tongern 1960) S. 164.
- PASSMANN ..wie Anm. 1) S. 136,
- Vgl. auch zum Folgenden, Eugen EWIG. Die Merowinger und das Frankenreich (Stuttgart Berlin Köln Mainz 1988l
- Vgl. Orbis Latinus. Lexikon lateinischer geographischer Namen des Mittelalters und der Neuzeit, bearb. von Helmut PLECHL, Bd. l (Braunschweig 1972) S. 294
- Vgl. ebda.
- Vgl. Franz-Josef HEYEN. Das Reichsgut im Rheinland. Die Geschichte des königlichen Fiskus Boppard (Rheinisches Archiv 48, Bonn 1956) S.27
- PLECHL (wie Anm. 10) S. 294)
- DITTMAIER (wie Anm. 4) S. 80.
- GYSSELING (wie Anm. 7) S. 155
- GYSSELING S. 155 und DITTMAIER S. 78
- DITTMAIER S. 63
- DITTMAIER S. 63.
- DITTMAIER S. 72
- HELBACH (wie Anm. 4) S. 168-171
- Rheinische Urbare 5. Bd.: Das Prümer Urbar, hg. von Ingo SCHWAB (Düsseldorf 1983) S. 228: „…et inter Budendorpht et Gadenberhc ad carradam l…“
- Vgl. dazu KLEEMANN (Wie Anm. 3 (S. 38 und 42)