An einer Zeitenwende
An einer Zeitenwende
Erinnerungen um Ferdinand Freiligrath
VON WALTHER OTTENDORFF-SIMROCK
Foto: Kreisbildstelle
Denkmal Ferdinand Freiligrath
Man schrieb den 17. Juni 1914, als sich auf der Höhe über Rolandseck, auf halbem Wege zum Rolandsbogen, viele Menschen zu einer Feier» stunde versammelten.
So unbeschwert wie dieser sonnenselige Sommertag vor drohenden Gewittern war, so ahnungslos rüsteten sich auch jene zu einem Festtag, der knapp zwei Monate später durch den Ausbruch des Ersten Weltkrieges fast völlig in Vergessenheit geraten sollte. Noch aber standen sie, die Ehrengäste mit den klingenden Namen des Rheinlandes, standen die Freunde und Verehrer von Ferdinand Freiligrath vor dem Denkmal, das dem Wählrheinländer gewidmet und von seinem Enkel, demLondoner Bildhauer M. Wiens, gestaltet worden war.
Welch‘ einen reizvollen Platz hatte man ausgesucht: Der Blick ging in blaue Fernen, hinüber zum Siebengebirge, zu den Rheininseln Nonnen- und Grafenwerth! Als hätte er in träumender Vorschau die Zukunft gesehen, schreibt Freiligrath schon in Unkel, wo er im Herbst 1839 ansässig geworden war: „Drachenfels und Rolandseck schauen durch den Duft der Frühe auf meinen Schreibtisch.“
In die Unkeler Zeit fallen bedeutsame Begegnungen und wertvolle Freundschaften mit rheinischen Dichtern, wie Karl Simrock, Gottfried Kinkel und Wolfgang Müller von Königswinter. Hier lernte Freiligrath auch seine spätere Lebensgefährtin Ida Melos kennen. Ihr widmete er eine Reihe von Gedichten, darunter das „Rosenlied von der Ahr“:
Die Linde trieb Knospen und Ranken der Wein;
wir schritten durch Busch und durch Schutt und
Gestein,
ich pflückt‘ eine Rose, die schönste der Ahr,
du stecktest sie lächelnd ins bräunliche Haar.
Als in einer sturmdurchtobten Dezembernacht des Jahres 1839 der Rolandsbogen einstürzte, wandte sich Freiligrath spontan in einem poetischen Aufruf an die Öffentlichkeit, einen Beitrag oder, wie er sagte, „einen Stein“ zum Wiederaufbau des Rolandsbogen zu spenden.
Es liegt an Euch! — Ich stehe bittend da,
ich schreit‘ am Rheine mahnend auf und nieder.
Ein Knappe Rolands, eil‘ ich durch das Land;
den off’ncn Helm in ausgestreckter Hand,
ruf ich Euch zu: Gebt ihm den Bogen wieder!
Die Resonanz war überraschend stark. Der Dichter selbst schrieb darüber: „Der Erfolg übertraf meine Erwartung. Von allen Seiten kamen Spenden, freundliche Stimmen aus der Nähe und Ferne riefen mir Beifall zu, und unbekannte schöne Hände verschmähten es nicht, den Helm des ,Rolandsknappen‘ mit Kranz und Band zu schmücken oder buntgestickte Säckel an sein Wehrgehenk zu befestigen. Ich kam mir vor wie der siegende Troubadour eines Blumenspiels, ich war sehr glücklich.“
Nachdem die Eigentümerin der Ruine, Prinzessin Marianne von Preußen, ihre Einwilligung gegeben hatte, wurde der Rolandsbogen von den eingegangenen Beiträgen durch den Kölner Dombaumeister Ernst Friedrich Zwirner in seiner alten Form wiederhergestellt. Das Verdienst Freiligraths um dieses rheinische Wahrzeichen steht in der Stunde der Denkmalseinweihung allen vor Augen, und fast körperlich nahe scheint ihnen der Dichter und Kämpfer an dieser Stätte — unwillkürlich glaubt man, er spräche hier seine mutigen Freiheits- und verhaltenen Liebeslieder.
Freilich, ich war damals noch ein Junge von zwölf Jahren, dem die weißgekleideten Mädchen der Nonnenwerther Klosterschule und die dröhnenden Böllerschüsse weit mehr imponierten als die Weihe der Stunde. Als dann aber meine Schwestern einen mächtigen Lorbeerkranz zu den Denkmalsstufen trugen, schlug mein Herz schneller, vor Verlegenheit und Stolz zugleich, denn auf den Bändern des Kranzes standen die Worte: „Dem Dichter und Menschen Ferdinand Freiligrath — alter Freundschaft eingedenk — Karl Simrocks Enkel und Urenkel.“ Unwillkürlich suchte mein Blick meinen Vater, der hochaufgerichtet neben mir stand, noch nie war er mir so liebenswert und so bescheiden in seiner Geistigkeit erschienen, wie in dieser Stunde. Noch weiß ich, wie ehrerbietig ich den Burgherrn von Rheinbreitbach, den rheinischen Dichter Rudolf Herzog, beobachtete, der begeistert und temperamentvoll die vielbeachtete Festrede hielt. Die Liste der Ehrengäste mit dem Landrat des Kreises Ahrweiler, Geheimrat Heising, und den Bürgermeistern der Rheingemeinden, dem Rektor der Universität Bonn, dem namhaften Historiker Aloys Schulte, und dem Professor für Literaturgeschichte und Förderer junger rheinischer Talente, Berthold Litzmann, den Vertretern des Schriftstellerbundes und dem um das Denkmal verdienten Rolandsecker Hotelier Ferdinand Groyen weist Namen auf, die auch heute noch so manchem in lebendiger Erinnerung stehen.
Das Festbankett aber, das nach der Denkmalenthüllung im Hotel Groyen stattfand, scheint mir auch heute noch mehr zu sein als der würdige Abschluß eines erfüllten Tages. Unter den Rednern dieses Abends war auch mein Vater. Er schien vorauszusehen, wie einschneidend sich im 20. Jahrhundert nicht nur der literatische Geschmack, sondern vor allem die Wertung romantischer Dichtung wandeln würde. Sie war gewiß nicht nur eine einzige Symphonie aus Liebesfreud und Liebesleid, aus Rosenduft und Jasmin, sie war auch die Zeit des „Vormärz“, der kämpferischen. Geister von Freiligrath, Herwegh und Kinkel. Mein Vater muß in jener Stunde die Gemeinschaft der rheinischen Dichter und das Bild Ferdinand Freiligraths eindringlich heraufbeschworen haben. Und wie er der Toten gedachte, so ehrte er die Lebenden, vor allem den Festredner Rudolf Herzog. Mit philologischer Genauigkeit, abwägend, gerecht und dankbar zugleich, zeichnete er das Bild des Rheins, seiner Menschen und ihrer Schicksale und wies der echten Romantik ihren Platz zu. Die Gemeinde der Zuhörer hat nicht nur ihm, sondern der Zeit Beifall gezollt, der im Denkmal des Dichters Freiligrath ein Zeichen gesetzt wurde, das man auch in unserer Gegenwart nicht auszulöschen vermag, ohne einen wesentlichen Abschnitt im Buch unserer Geistesgeschichte zu überblättern. Eine Entwicklungsstufe deutschen Wesens und Werdens ist nicht auszuradieren — aber die Kanonen, die Wochen später ihre gewaltige Stimme erhoben, führten symbolhaft bereits die Götterdämmerung jener alten Rheinpoesie herauf. Unsere Jugend weiß kaum mehr etwas von ihr, nur in ihren Wachträumen ballen sich vielleicht Vorstellungen und Sehnsüchte, wie sie in den Jahrzehnten der Romantik noch glückhafte Wirklichkeit waren.