Ahrweiler Advent
Ahrweiler Advent
Ernst-Edmund Keil
Als er erwachte, auf die Uhr sah, die auf dem Nachttisch stand, auf den weißen großen und den weißen kleinen Zeiger, die beide stillzustehen schienen,und auf den roten, der von Sekunde zu Sekunde ruckte und zitterte, als wäre das Ende, von dem man ja nie wußte, wann es eintritt, schon nahe…, da war es bereits acht, also Zeit aufzustehen. Warum mußte er gerade jetzt, wo ein neuer Tag anbrach, schon ans Ende denken? Richtig, ein Jahr ging zu Ende. Das war’s. Dabei fiel ihm ein, daß die Adventszeit angebrochen war. Hatte er nicht gestern an seinem Kranz aus Tannenzapfen, der im Regal Frühling, Sommer und Herbst überstanden hatte, die erste rote Kerze entzündet? Richtig, es war Advent, Vorbereitung auf die Ankunft, die Feier der Geburt, des Lichtes und Wohlgefallens unter Königen und Hirten, „Denn siehe, Euch ist heute…“ Er erinnerte sich.
Doch als er hinüberblickte zu den Fenstern, die ihn mit Mensch und Welt verbanden und die er deshalb selbst nachts nicht mit der Jalousie verschloß, konnte er da draußen nichts entdekken, keinen Baum, keinen Garten und auch kein Haus, auf die doch sonst morgens sein Blickfiel, kein lichtes Gegenüber, das er sieh nach schwarzen traumschweren Nächten, die er schon so lange, allein, in seiner kleinen Etagenwohnung verbrachte, so sehr ersehnte. Kein Laut drang an sein Ohr. Als wollte die Nacht der Nächte kein Ende mehr nehmen, so dunkel war es und still!
Und als er wenig später, nach kurzer Dusche und heißem Tee, aus der Haustür trat, war es zwar nicht mehr Nacht, aber auch nicht Tag. Als wüßte die Zeit nicht, zögernd schwankend zwischen Dunkelheit und Helle, ob und wie sie sich entscheiden solle. Sie schien stehengeblieben zu sein. Alles, Gegenstände und Menschen, verschwammen grau in grau, in eine undurchdringliche Fläche, die jeden Laut dieser Welt geschluckt hatte. Die dritte Dimension war verlorengegangen. Er sah nichts, hörte nichts. Als wäre nicht Advent. Und war dies nicht die Zeit, in der er, wieder einmal, auf sie wartete? Auf seinen Engel, der ihn aus seinen Träumen, von denen er nachts heimgesucht wurde, erlösen sollte? Als wäre er allein auf der Welt, ein Adam ohne Eva, ohne sie, deren Herabkunft ihm angekündigt war seit langem und deren Wiedergeburt in Menschengestalt ihn zum glücklichsten aller Irdischen machen würde! Nachdem er, auf seinen guten Stern vertrauend, aufgebrochen war aus dem Garten der Kindheit, dürstend und hungernd Meere und Wüsten durchquerend, immer auf der Suche nach jener fernen Oase, wo er sie fände unter einem Palmdach neben der unversiegbaren Quelle des Lebens, auf ihrem jungfräulich streng gescheitelten Haupt den unverlöschlichen Lichterkranz der Kerzen. Die Magd des Herrn, die, dessen war er gewiß, sobald er niederkniete, um seine Gabe darzubringen, sich in seine Mutter, Schwester, Frau und Königin verwandeln würde…
Er hätte singen können, so voll war ihm das Herz. Doch, wenn er den Mund öffnen wollte, schlug ihm der Nebel wie eine geballte Faust ins Gesicht, daß es ihm die Sprache verschlug, er sein Gleichgewicht verlor. Wie konnte er so vermessen sein, in dieser Einsamkeit, die keinen Anfang und kein Ende hatte, wie ein waberndes Meer vor ihm auf – und abwogte und ihn zu ertränken drohte, so kühne Hoffnungen zu haben? Als wäre Advent, und sie, auf die er wartete, könnte noch kommen. Aber war nicht wirklich Advent? Warum also der Zweifel, wo es doch geschrieben stand! Und hatte er nicht lesen gelernt und die Sterne zu deuten, die ihm unbeirrbar den Weg wiesen über Meere und durch Wüsten? Den Weg zu ihr, nach der er sich sehnte, seit er den Stern gesehen. Aber nirgends hätte er anklopfen können, um zu erfahren, ob sie angekommen sei. Der Nebel schien mit jedem Schritt, mit dem er sich vorwärtstastete wie ein Blinder ohne Stock und Hund, nur dichter zu werden. Und doch ging er, als hätte er nichts mehr zu verlieren, weiter, unsicher Fuß vor Fuß setzend, lief er gegen die undurchsichtige Wand, als könnte dort eine Tür sich öffnen und ihn einlassen, rannte ertaumelnd auf sie zu.
Und siehe: Sie wich vor ihm zurück. Wie ein Phantom, das er verfolgte. Wich zurück, bis er an den Fluß gelangte und an ihm immer entlang, als sei dieser, der mit ihm zu reden begann, der treue Begleiter, der Stock und Hund ersetzte. Und er geleitete ihn bis zur Brücke, über die er, sicherer auftretend, ans andere Ufer gelangte, wo der Pfad begann, der ihn hügelan führte auf die Höhe des Weinbergs, wo er gefrorene und feste Erde unter den Füßen spürte. Je höher er stieg, desto mehr lichtete sich der Nebel, durchsichtiger werdend für ein sinterndes Licht, das ihn, als er weiterstieg, dort hoch oben, auf dem Scheitel des Hügels, zu erwarten schien. Als er, schwer atmend, die Höhe erreichte, ging am grauen Himmel die Sonne auf wie ein großer leuchtender Stern. Der Nebel zerriß, und er schritt wie durch eine weitgeöffnete Tür. Und jenseits sah er, wie eine Fata Morgana, die Magd und auf ihrem Haupt den Lichterkranz. Und da wußte er, sie wartete auf ihn. Es war Advent, und sie würde herabsteigen und ihn empfangen unter dem Palmdach. Und erwürde der glücklichste Mann sein unter dem Himmel. Er brauchte nur zu warten. Und er wartete, ruhig ausatmend.
Weihnachtsstimmung: Das Ahrweiler Niedertor im Schnee.