Aus geruhsamer Zeit
von Elisabeth Rosenbaum |
Wir freuen uns, daß es immer Menschen gibt und gegeben hat, die in ihrer Urwüchsigkeit aus dem Rahmen des Alltäglichen herausfielen. In einer bitterkalten Neujahrsnacht war unser Mühlenteich, der am Niedertor unter der Mauer floß und erst vor dem Sparkassenbau wieder ans Licht trat, hart gefroren. Bevor er seinen Weg unterirdisch nahm, war am Hause Geller — -wie an so manch altem Ahrweiler Hause — eine Öffnung mit einer kleinen Treppe 7.um Wasser hin, die sogenannte „Deichschepp“. Kamen da ein paar sehr gut gelaunte Bürger vom Neujahrstrunk aus einer der Wirtschaften am Tor. Was sie bewog, die Treppe zum Teich hinunterzusteigen und auf dem Eis unter der Mauer herzukriechen, ist niemals kund geworden, wohl aber die Frage des einen: „Wo sind wir hier?“ und die Antwort des anderen, eines Geographiebeflissenen: „Hier sind wir in Venedig.“ Ob Venedig, die Königin der Meere, stolz war auf ihr Duplikat Ahrweiler?
Auf dem Altenwegshof wohnte in alter Zeit ein Junggeselle, der hin und wieder Post bekam. Der Briefträger — damals gab es in Ahrweiler nur einen — hatte anscheinend wenig Verständnis für die Schönheit der Landschaft auf seinem beschwerlichen Weg. Da er eines Tages wieder einmal nur eine Karte zu expedieren hatte, hielt er mit seinem Unmut nicht zurück und murrte ob der Strapaze bei dem Empfänger. Das hinwiederum erboste diesen. Am nächsten Tag erschien er bei Bekannten unten in der Stadt mit einigen Postkarten, die er an sich selbst geschrieben hatte. Er bat, diese in Abständen von einigen Tagen in den Kasten zu werfen, damit sich der Briefträger durch diese heilsame Übung an den Weg gewöhne. Ein Original war auch der alte R. Bei einer Versteigerung kam er eben zur Tür herein und rief zum Scherz: „On noch ene Dale.“ Da niemand ihn überbot — denn er war sehr beliebt — schlug der Auktionator zu, worauf der alte R. fragte: „Wat hann ich dann nu gekauf?“ Es war ein großes Feld.
Als das erste Radio aufkam, konnten sich manche alten Leute in die neue Erfindung nicht hineindenken. So der alte Opa M. Etwas schwerhörig, fragte er in den Kasten hinein: „Wa?“ und war erstaunt, daß er keine Antwort erhielt. Sprach er dazwischen, dann fragte er zuweilen: ,,Hüren die mich och?“
Ich will nicht behaupten, es sei Frömmigkeit gewesen, aber in unserer Jugend blühte ein lebhaftes Tauschgeschäft mit Heiligenbildchen, wobei die eigenen Namenspatrone den Vorrang hatten. Gingen zwei Buben in eine sehr kleine Buchhandlung, die seit langen Jahren nicht mehr existiert. Da der Geschäftsgang nicht sehr lebhaft war, schlug sich der Besitzer Einheitsbildchen ein. Also fragte er den ersten Jungen, wie er hieße. „Peter.“ Darauf verschwand der rührige Kaufmann im Nebenzimmer und schrieb mit schöner Rundschrift unter den Einheitsheiligen ,St. Petrus“. Der andere Bub, der auf den schönen Namen Josef getauft war, bekam das nächste Bild mit ,,St. Josef“ signiert. Man war glücklich und zog zu neuer Tauschaktion aus.
Als nach dem ersten Kriege die Besatzung Paßbilder verlangte, kam die alte achtzigiährige Frau G. tiefbetrübten Gesichtes über den Markt. Auf die teilnahmsvolle Frage einer bekannten Dame erzählte sie dieser, sie habe soeben ein Paßbild zu den Amis gebracht, was diese aber abgelehnt hätten, obwohl es doch ein so schönes Bild sei. Mitleidig bat Fräulein S., das Konterfei sehen zu dürfen. Es war wirklich ein schönes Bild. Frau G. war darauf als zwölfjähriges Kommunionkind im weißen Kleid mit Kränzchen.
In der Notzeit des ersten Krieges hatte eine Ahrweiler Familie sich in der Eifel ein Schwein gekauft. Da ein solches sich besser tot als lebend grunzend transportieren ließ, wurde es im Dickicht des Ramersbacher Waldes schwarz geschlachtet. Als diese blutige Arbeit nahezu beendet war, wurde es in der Nähe der improvisierten Metzgerei von mehreren Kindern, die in die Waldbeeren gingen, lebendig. Kurz entschlossen zog sich einer der Männer den Schlapphut, den er immer trug, tief ins Gesicht, hatte zufällig das blutige Messer in der Hand und zeigte sich so den Kindern. Diese erhüben ein mörderisches Geschrei, in dem immer das Wort „Räuber“ zu hören war, und liefen dem schützenden Dorfc zu. Die Sau war gerettet und wurde mit innerer Befriedigung nach Ahrweiler transportiert. Ob die Kinder iii nächster Zeit noch einmal im Räuberwald waren?
Frau H. war erkrankt, hatte starke Schmerzen, und zur Linderung verordnete ihr der Arzt Suppositorien (Zäpfchen). Als die Tochter nach einer Weile ins Zimmer kam, knotterte die Mutter empört über die Arznei. Sie habe schon so viel Wasser nachgetrunken und könne die Dinger immer noch nicht hinunterschlucken. Zu allem Überfluß habe sie der Arzt auch noch in einer Staniolhülle verordnet.
In der Nähe des Niedertores war ein junger Mann gestorben. Da sein Tod noch nicht so schnell erwartet wurde, war sein Bruder zum Tanz auf die Lantershofener Kirmes gegangen. Um diesen möglichst schnell zu benachrichtigen, bat man einen jungen Mann aus der Nachbarschaft, die traurige Botschaft nach Lantershofen zu bringen. Als dieser dort ankam und die lockenden Tanzweisen hörte, dachte er — Jugend hatte in diesem Falle keine Tugend — man könne doch gut eine Runde tanzen, das täte dem Toten doch keinen Abbruch. Aus dem einen Tänzchen wurden aber mehrere, und darüber vergingen ein paar Stunden. Schließlich pochte aber diesem Boten doch das Gewissen, und um ihn nicht zu erschrecken, sagte er dem Bruder des Verstorbenen, der Kranke habe ihm bei seinem Weggang gar nicht gefallen, man solle lieber aufbrechen. Unterwegs ließ er dann den Kranken immer schlimmer werden. Als das Sterbehaus in Sicht kam, sagte er abschließend: ,,Die Fensterläden sind schon geschlossen; er ist tot.“ So hatte er seinen Auftrag erfüllt und die Todeskunde schonend an den Mann gebracht.