Der Pfarrer Dünchen

VON THEODOR SEIDENFADEN

Eine Anekdote

Dem Falken sei der Wald kein Wunderding, der Maus die Katze ein wildes Tier und aus einem großen Esel werde kein Elefant, wer aber dem Dieb durch die Finger sehe, der stehle selber, Gewohnheit bleibe ein Hemd, das man bis zum Tod trage, und leichter sei es, zwanzig Bäuche zu füllen als zwei Augen!

Der Pfarrer Johannes Dünchen, der vier Jahrzehnte seinem Dorfe — es lag zweieinhalb Fußstunden jenseits der Station einer eingleisigen Seitenbahn der Eifel des Kreises Ahrweiler und bleibe aus wohlerwogenen Gründen ungenannt— diente, hielt Sprichwörter dieser Art für die besten Wegweiser durch das ihm anvertraute Seelenlabyrinth seiner Bauern. Er blieb diesen Weisern auch im Jahrhundert der Industriegesellschaft, ihrer Weltkriege und Revolutionen treu, über deren Ursachen er, was nicht verwunderlich ist, seine eigenen Gedanken hatte, und darum gelang es ihm, mit dem Vergänglichstem des Werktages, den wechselnden Machthabern des Politischen, dergestalt fertig zu werden, daß sie ihn ungeschoren ließen und auch fremde Besatzer nicht wagten, ihm in die Art hineinzupfuschen, das bezeichnete Labyrinth zu betreuen. Völker blieben ständig von inneren und äußeren Gefahren umgeben, und es gehöre sich, sie vor dem Schlimmsten zu bewahren: der Anarchie; ihr gegenüber tue der Gesetzgeber not; der aber dürfe kein Machthaber werden, und weil die Majestät immer stärker wirke als ein hergelaufener Wanderbursche, die Sprichwörter aber das Majestätische der Weisheit übten, lasse er sich von ihnen nicht abbringen, zumal in einer Weltstunde nicht, die krank wie nie zuvor sei: die am Autoritätschwund leide, und aus Volk Herde, aus Menschen Masse, aus lebenden Seelen entseelte Fellachen mache, wie sie Monarchen hätten zu Puppen werden lassen. Ihn brachte darum das Nachdenken über die hierarchische Ordnung seiner Kirche, die Stufen, die vom Kaplan zum Pfarrer, zum Definitor und zum Dechanten, und von den würdigen Dechanten zum hochwohllöblichen Trierer Generalvikar, zu den Domkapitularen und Weihbischöfen und schließlich zum Bischof führten, nie aus dem Gleichgewichte, in dem die Wälder seines Dorfes ihre Frühlinge, Sommer, Herbste und Winter erlebten.

„Gott gab zwei Ohren, aber nur eine Zunge, und tunlicher sei es, statt hundert Kirchen zu bauen, hundert Waisen zu betreuen“: so hatte er, nach dem ersten Weltkriege besorgt den Trierer Herren geschrieben, und geschlossen hatte er den Brief mit dem Worte, die Ewigkeit lasse sich nicht überlisten, ob der Mensch auch früh aufstehe, und übrigens tropfe ihr Tau auf die ganze Erde!

Solches Bemerken entsprach kaum den theologischen Gepflogenheiten des pfarramtlichen Schriftverkehrs mit den hochwürdigen Behörden, wohl aber jenem weltfrommen Sinn, aus dem der Dünchen seiner wesentlichen Aufgabe treu blieb, dem Labyrinth der Bauernseelen im Wechsel der Gezeiten den Atem des Lebens zu erhalten.

Daß er sich nicht übermäßig erregte, als es plötzlich hieß, der Bischof Dr. Bomewasser, Nachfolger des berühmten Korum, komme ins Dekanat und wolle, bevor er die einzelnen Gemeinden aufsuche, die Pfarrer des Dekanates nachmittags in der Wohnung des Dechanten sprechen, um ihnen zu sagen, was ihm als notwendig erscheine; daß der Johannes Dünchen solcher Botschaft wegen sich nicht übermäßig erregte, braucht, wie gesagt, nicht eigens versichert zu werden.

Der liebe Gott, meinte er zu seiner Haushälterin, sei älter denn alle Bischöfe der Welt, als ihre mohammedanischen, jüdischen und buddhistischen Oberpriester, und wer als Pfarrer eines Eifeldorfes zweieinhalb Stunden jenseits der nächsten Station einer eingleisigen Nebenstrecke zur Hauptbahn gehen müsse, mit der nach eineinhalbstündiger D-Zug-Fahrt die Stadt der Metropolitan-Kirche, in diesem Falle des Trierer Domes, erreichen wolle, dem sei die Langmut Gottes vertraut, zumal, wenn er über vier Jahrzehnte oben hause und bereits drei Haushälterinnen zu Grabe getragen habe! Das sagte der Johannes Dünchen an dem frühen Nachmittag, an dem er — kurz nach dreizehn Uhr — in der Haustür des Pastorates, den von der Haushälterin, der vierten seines pfarramtlichen Daseins, gespannten Regenschirm entgegennahm und sich auf den Weg machte, um fünfzehn Uhr, dem Einladen des Dechanten entsprechend, in der Dekanei anlangen zu können. Es regnete nämlich, trotz dem Sommeranfang, seit drei Tagen, und man schrieb den dreiundzwanzigsten Juni.

Dünchen, der nicht unbeleibt war, ging Schritt um Schritt: er zählte immerhin vierundsiebzig Jahre, war zwar noch rüstig, doch bedachtsam gegenüber dem, was er seinem Herzen zumuten durfte.

Auch der Regen, dachte er, sei ein Geschenk des Ewigen, zumal im Juni, dem alten Brächet, auf den es ankomme, wie die Ernte bestehen solle; die Sonne, mit der er heuer begonnen habe, sei mehr als verschwenderisch gewesen; darum bringe der Regen, wenn er nicht zu lange dauere, dem Felde und auch den Wäldern Segen; Gewitter hätte er genug gebracht, manchmal drei am Tage, und das Wort vom Donnerborn, das dem Lande das liebe Korn einblase, scheine sich wieder zu bewähren; die Johanniswürmchen ließen zwar auf sich warten, und das heiße, es regne einstweilen weiter; selbst wenn sie um Peter und Paul erst kämen, am vorletzten Junitage — die beiden Heiligen seien die eigentlichen Wetterherren der Eifel —, dürfe eine reiche Ernte erwartet werden; falls es allerdings morgen, am vierundzwanzigsten, seinem Namenstage, auf Johannis regne, dann regne es Mäuse, und der Salatsamen verkomme! Der Sinner ließ die Blicke schweifen, sah die weißen Doldenteller des Holländers, die winzigen Blütensternchen der Vogelmiere, zertretenes Gras, auch die scharlachfarbene Blume Gauchheil und die Zwerghütchen der Waldbeeren. Er blieb im Zauber der Johanniszeit und ging seinen Weg, und da der Regen ruhig auf den gespannten Schirm tropfte, kein Wind sich einmischte, blieb das Sinnieren ungestört, ob der Wald rechts und links fiel oder stieg oder ihn dem Wege entlang Äcker und Wiesen begleiteten. Die Tropfen, die er am hochschießenden Gras, an Buchen oder Kiefern, an den Kräutern oder den jungen Kornähren sah, erschienen ihm wie glückbergende Kristalle, und so blieb ihm, trotz der Mühsal des Regentages Höchstes: das Gefühl des Geborgenseins im Wunder der Schöpfung. Gewiß dachte er hin und wieder auch an den Bischof und erinnerte sich des weiten Weges, den der hatte zurücklegen müssen, bevor er im Purpur auf dem hohen Stuhl des Trierer Domchores sitzen und gleichsam Fürst sein durfte während einer Weltstunde, deren sogenannter demokratischer Stil den deutschen Landen Könige, Großherzöge, gar den Kaiser von den Thronen fort ins Bürgerliche eines gleichmachenden und darum unorganischen Daseins getrieben hatte, eines Daseins, das selbst die bewegliche Feier der Ostern festzulegen beabsichtige. Dieses Gleichmachende sei für ihn, den Johannes Dünchen, völlig reizlos!

Er freute sich, dem Labyrinth seiner Bauernseelen immerhin noch mit den schön gestickten Kasein, Stolen, Manipeln der Meßgewänder das Geheimnis erhalten zu können, das den Glauben an das Wirken eines Metaphysischen versinnbilde und damit einigermaßen formend auf die schwer zugänglichen Wege durch die Labyrinthe einwirken könne. Vom Bilde gehe eben eine weisende Kraft aus, und die Messe selbst der ärmsten Dorfkirchc vereine Bild und Spiel auf jahrtausendkundige Art!

Er wußte, der Bischof sei zunächst Volksschullehrer gewesen, habe dann Theologie studiert, als Zögling des Kölner Seminars die Priesterweihe empfangen; er sei Kaplan und Pfarrer, dann Direktor des Gregoriushauses zu Aachen gewesen, um Küster und Organisten heranzubilden; er sei demnach sehr musikalisch und wolle die Gemeinden der weitverzweigten und eigenwilligen Trierer Kirche in auseinanderbrechender Zeit zu einer singenden Einheit des Glaubens werden lassen; das sei gewiß einbedeutendes Anliegen — zumal für das ehemalige Bistum, als das Einende im Geistigen gegenüber dem Getrennten im Politischen; denn er, Bornewasser, habe sich den von den Rheinlanden abgetrennten Teil seines Sprengeis, die Gemeinden des Saargebietes, nicht nehmen lassen, und das sei keine geringe Sache. Franz von Assisi, dem er, der Johannes Dünchen, sich sehr verbunden fühle und dessen Sonnengesang ihm mehr gebe als das Trierer Generalvikariat, hätte das wahrscheinlich nicht vermocht; er sei zwar für sein, des Dünchen Gefühl, ein unbedingter Christ gewesen, aber zum Bischof von Trier hätte er in der hochkapitalistischen Zeit des Industrialisierens nicht getaugt, einer Zeit, die dem deutschen Volk der Rheinlande nach dem verlorenen Kriege durch die Besatzer das Leben doppelt schwer mache!

Hin und wieder blieb Johannes Dünchen stehen, zumal dann, wenn sein Sinnen begann, die ihm so lieben Abgründe seiner denkerischen Gipfelwege anzulöten.

Die tiefste Pause brachte ihm das Erinnern an den Sonnengesang des Franz von Assisi; denn er bedachte, wie schwer die Kunst des Übersetzens sei!

In ihr müsse der erwachte Geist zwei Herren dienen, und das sei nach einem weisen Worte der Schrift unmöglich; infolgedessen könne es niemand; es sei dagegen, was, theoretisch besehen, niemand könne, praktisch jedoch jedermanns Aufgabe. Jeder müsse, wo er auch stehe, übersetzen und tue es; wer spreche, übersetze aus seinem Meinen in das von ihm erwartete Verstehen des Anderen, und zwar nicht eines unvorhandenen allgemeinen Anderen, sondern das dieses ganz Bestimmten, den er vor sich sehe und dem die Augen dabei aufgingen oder zufielen; wer höre, übersetze Worte, die sein Ohr träfen in sein Verstehen, das heiße in die Sprache seines Mundes; jeder aber habe eine eigene Sprache — vielmehr jeder hätte die eigene Sprache, wenn es ein monologisches Sprechen, wie die Logiker, diese „Möchte-Gern-Monologiker“ für sich beanspruchten, in Wahrheit gäbe und nicht schon alles Sprechen dialogisches Sprechen wäre — demnach Übersetzen! „Wenn alles Sprechen Übersetzen ist“ — der Dünchen blieb stehen und sprach, indes der Regen auf seinen Schirm tropfte, laut vor sich hin —, „dann kann jene theoretische Unmöglichkeit des Übersetzens, die ich erkenne und anerkenne“ — er stampfte, das Wort zu bekräftigen, den rechten Fuß auf — „nur das bedeuten, was alle theoretischen Unmöglichkeiten, wie sie die Storchenperspektive des vor dem Leben Stehenden erkennt, nachher im Leben selbst haben: sie wird uns in den unmöglichen und doch notwendigen Kompromissen, deren Abfolge Leben heißt, den Mut zum Bescheidenen geben, das nicht das anerkannte Unmögliche, sondern das aufgegebene Notwendige von sich selber fordert. Nein; ich kann weder im Sprechen noch im Hören fordern, daß der andere meinen Mund oder meine Ohren hat; dann würde das Übersetzen unnötig, allerdings das Sprechen und Hören auch. Und im Sprechen und Hören zwischen den Völkern wäre es so, daß die Übersetzung keine Übersetzung sei, sondern entweder das Original, womit dann das hörende Volk überflüssig, oder ein neues Original, „womit das sprechende Volk abgetan wäre. Beides könnte nur eine verrückte Selbstsucht wollen, die im eigenen, im persönlichen Dasein sich zu befriedigen meint und um sich her Wüste ersehnt. In der Welt, die nicht zur Wüste erschaffen ward, sondern in Scheidungen und nach Arten, ist für solche Gesinnung kein Platz.“

Indes der Dünchen den an sich schon langen Regenweg zur Dekanei durch das ihm gemäße Betrachten ausdehnte, er auch vergaß, auf seine Uhr zu sehen, wartete der Bischof, als ehemaliger Volksschullehrer ein Fanatiker des Pünktlichen, in der Dekanei mit dem Dechanten, den beiden Definitoren und den übrigen Pfarrern auf den Johannes Dünchen, den Letzten der Runde, ihren Ältesten, allerdings auch Schwierigsten.

Da im Festzimmer des Dechanten die alte Standuhr, ein Erbe bäuerlicher Vorfahren, ihren Stundenzeiger unerbittlich auf die römische Drei, den Minutenzeiger hingegen nicht weniger beständig auf die römische Zwölf führte, auch nicht still stand, als beide Zeiger ihr Ziel erreicht und mit dem melodischen Baß des Schlagwerkes die bischöfliche Stunde angekündigt hatten und die den Ohren der Herren wundersame Harmonie ihrer berühmten Obertöne verhallt war, ohne den Dünchen zu bringen, räusperte der Bischof sich, der übrigens den Dünchen aus den Pfarrhaus-Sagen des Bistums kannte, außerdem vor Beginn der Fahrt einen Blick in dessen Personalakten geworfen und den bewußten Satz über die sich nicht betrügen lassende Ewigkeit gefunden hatte!

Er saß, hinter sich das Fenster des stattlichen Raumes im hohen Lehnstuhl am Kopfende der umfänglichen, elliptischen Tafel, auf deren Mahagoniplatte die purpurroten Rosen einer grauen Tonvase dufteten, währenddem die Herren ringsum Platz genommen und den Stuhl für den Dünchen am unteren Ende der Ellipse, dem Sessel des Bischofs gegenüber, leer gelassen hatten, und sobald die äußere Ordnung der Dekanat-Sitzung sich gebildet hatte, fiel die Stimme des Bischofes ins peinliche Schweigen und erklärte, es sei unmöglich, länger zu warten; ohne das Maß der Uhr, das dem Unendlichen die Zucht der Menschenstunde aufbürde, verkomme selbst die Kirche, deren höchste Aufgabe es bleibe, der Fülle Gottes die dem Einzelnen mögliche Prägekraft für den aufgesplitterten Werktag zu verleihen und diesen immer wieder erfahren zu lassen, daß es ein Edleres gebe als das Betriebliche!

Der Bischof, der langsam und sehr bedacht sprach, ließ diesem Wort des geschulten Denkers das des Priesters folgen, das die Umsetzenden liebe Confratres nannte und sich ausbat, niemand dürfe, wenn der Dünchen, woran er nicht zweifle, erscheine, sich um ihn kümmern! Die Herren glaubten, bei diesem Anordnen um die Augen des vom Niederrhein stammenden Oberhirten ein schelmisches Blitzen zu gewahren, hüteten sich jedoch, es merken zu lassen. Als erfahrene Brevierleser und Weinkenner lächelten sie gleichsam unter der Haut der glattrasierten Gesichter, was auch deshalb notwendig war, weil der Bischof gleich wieder ins Schwergewicht des lotenden Denkens fiel.

Die Menschheit, sprach er, deren abendländische Zwiespältigkeit zum ersten der noch folgenden Weltkriege geführt habe, zu einem Kriege, der mit dem Jahre 1917 apokalyptischen Charakter angenommen habe, dann nämlich, als die Amerikaner in Europa gelandet und in Rußland die Revolutionäre zur Macht gekommen seien, strebe aus ihrem Verzweifelten, wie er glaube, prophezeien zu dürfen, ins wahrhaft Katholische, das Universelle, Summarische. Es sei nicht ohne Sinn, sehen zu müssen, in welchem Maße eine Gestalt wie Dante gesucht werde, von dessen „Göttlicher Komödie“ jedes halbe Jahr nicht nur in Deutschland eine neue Übersetzung erscheine. Dieses Streben werde sich natürlich zu einem gesichtslosen Internationalismus verflüchtigen, wenn die Völker die Wurzeln ihrer Herkunft vergäßen; nur weil Dante zutiefst — trotz den Fluchten, die ihn getrieben hätten — Glied seines Volkes, Italiener geblieben sei, habe er gerade heute der Welt so viel zu sagen. Ein ‚wesentliches Anliegen wohlverstandener Seelsorge müsse es auch für den Pfarrer des Eifeldorfes bleiben, die Gemeinde aus dem Frondienst — sie empfinde durchweg selbst die Sonntagsmesse als solchen —, ins Geheimnis des Werkdienstes zu führen, darin jeder geweihtes Glied zu sein habe, gleichgültig, an welchem Platz er stehe.

Die Bereitschaft zu echtem Glauben, zu der Kraft, „Ja“ sagen zu können zum „Werkdienste“, sei stärker als die Mehrzahl der Theologen annehme. Sie sei geradezu unbegrenzt; ihr könne alles glaubhaft werden, auch das Unglaubwürdige. Seine Seele — so wage er zu behaupten — sei wie ein Scheinwerfer, der eine Weile ein Stück Landschaft aus dem Dunkel hole, dann ein anderes folgen lasse und schließlich wieder abblende. Das Heute übernehme keine Bürgschaft mehr für das Morgen; es sei unmöglich, einer Gemeinde apokalyptischer Zeiten in der Art des Absoluten zu predigen; man müsse im Wort nicht hinter der Anspruchlosigkeit der Wissenschaft, sondern hinter dem Lebendigen der Dichtung her sein. Das Märchenbuch der Brüder Grimm habe dem suchenden Seelsorger in bezug auf das Geheimnis der Sprache viel zu sagen. Seine Helden seien keine Zwiespältler, sondern Gläubige im Ur-Sinne. Es komme darauf an, im Totalitätanspruch des Satzes, Gott als das Wort, das Wort als Gott, wie das Johannesevangelium es fordere, lebendig zu erhalten. Die Sonntagspredigt habe den Bauern Kraft zu geben, sich und ihren „Werktag als ein Göttliches zu hüten. Das sei nur möglich aus der Wurzelsinnlichkeit des Wortes. Nicht Kluglinge erwarte das Volk der apokalyptischen Stunde, sondern gläubige Trotzer!

Der feingepunzte Minutenzeiger der Standuhr hatte mit dem Überschreiten der römischen „Sechs“ längst das Zeichen gegeben, daß die erste Hälfte der vom Bischof angesetzten Stunde vergangen sei. Er näherte sich bereits der Zwölf, währenddem der ebenso gepunzte Stundenzeiger auf die römische Vier zustrebte: da trat nach knappem Anklopfen der Johannes Dünchen durch die Tür des Festzimmers, etwas betreten ob seinem Unpünktlichen, sonst aber im Selbstverständlichen seiner Dorfart. Er tupfte den regennassen Hut ab, schüttelte den Schirm, vertraute beide dem Kleiderständer der dunklen Ecke an und zog dann den Mantel aus, hängte ihn zu den anderen Mänteln und nahm mit halbem Ohr die Worte von der apokalyptischen Zeit und dem gläubigen Trotzer auf. Da er die Amtsbrüder, die Confratres, unbewegt sitzen und lauschen sah, neigte er sich an das Ohr des ihm Nächsten und fragte flüsternd—natürlich mundartlich, wie das seinem Bewußtsein von der ewigen Gegenwart Gottes gerade in der Sprache des Volkes gemäß war —, ob man schon lange begonnen habe!

Der Angeflüsterte aber, der sonst im Konveniat, dem monatlichen Zusammentreffen der Pfarrer, der Spaßvogel war, räusperte sich, blickte zum Bischof hin und verzog keine Miene zum Sprechen, woraufhin der Dünchen ob dem Sturen dieser Haltung die Lippen an das Ohr des Drittfolgenden der Runde neigte und fragend flüsterte, ob der Bischof „kott“ über ihn sei, was, ins Hochdeutsche übertragen, besage, ob er den Hohen Herrn geärgert habe! Doch auch dieser Amtsbruder blickte unbewegt auf den Mund des Bischofes, der eben feststellte, nur der das Wachstum der Rose Schauende könne Zeuge Gottes sein, und aus solchem Zeugen wachse die heilige Gemeinschaft eines Volkes, aus den Gemeinschaften der Völker aber das, was sich Menschheit nennen dürfe!

Das, was der Dünchen erlebte, machte ihn nicht jähzornig, sondern ruhig, wieder dergestalt bedachtsam, wie er durch den regnenden Juniwald geschritten war und gespürt hatte, auf welcher Art in ihm der Sommer sich den Feiertisch seines reichsten Mahles bereitete, weshalb er, der Dünchen, zurücktrat, das lange Jackett und darauf die Weste auszog und beide an den übervollen runden Kleiderständer hängte, dann den Kragen löste, die Hosenträger herunterstreifte und anschließend begann, aus den unten patschnassen langen Beinen zu steigen. Dazu aber kam er nicht, weil der Bischof zornig aufsprang, die rechte Faust auf den Tisch schlug und den Dünchen anschrie, ihn mit den Worten „Herr Pfarrer“ anredend: was solche Unanständigkeiten bedeuteten!

Die Confratres, denen das unterdrückte Lachen die Backen rot auftrieb, kannten ihren Dünchen und wußten, daß er unverwüstlich sei. Doch das, was folgte, hätte keiner von ihnen erwartet, auch der ihm seelisch verwandte Spaßvogel nicht. Der Angeschrieene richtete sich nämlich auf, blickte hinter sich auf den polternden Bischof und fragte trocken wie ein ertappter Meisterdieb: „Eß he einer?“, was hochdeutsch bedeutet, ob außer ihm noch jemand im Räume sei! Da fiel selbst dem Bischof die zornige Rechte matt an der Soutane herunter, und er sagte, indes die Confratres ihre Fassung verloren und schallendes Gelächter über die duftenden Rosen des Mahagonitisches zu dem Hoscnmann hinüberrollte: „Wahrhaftig, Pfarrer Dünchen, Ihnen kann man nicht böse sein. Die Trierer Generalvikariatsage hat recht!“

So schnell der Dünchen aus seiner Montur geschlüpft war, so schnell verwandelte der Vierundsiebzigjährige sich wieder in den Pfarrer, der, wie es die Vorschrift gebot, zum Bischof ging, kurz kniete und das Siegel des goldenen Ringes der Rechten küßte!

Und ebenso schnell saß er in dem leer gehaltenen Sessel und lauschte dem oberhirtlichen Worte, das weiter über die Köpfe der würdigen Herren ging, wie wenn der Dünchen stets mit in der Runde gesessen hätte: dem Worte, das Wege wies durch die Seelsorgenot der apokalyptischen Gegenwart.