Aus meinem Lehrer-Bilderbuch:
Das Kalkmännchen
VON H. O. PENZ
Das Kalkmännchen trat immer im grünen Lodenanzug und in schweren Wanderschuhen unter uns, es las von einem winzig kleinen Zettel, den es oft genug selbst nicht mehr zu entziffern im Stande war, den trockensten geologischen Kram ab, ohne sich dabei um die Kartenspieler in den letzten Bänken zu kümmern. Es dozierte eine gähnende, malende und dösende Masse an, und es wußte auch ganz genau, daß niemand etwas von Kambrium und Devon, kaledonischer und variskischer Faltung, Kontakthof und Schildvulkan, Urstromtälern und Sauriern wissen wollte. Aber es redete wieder und wieder, goß Salzsäure auf Kalkstein, daß es zischte und dampfte, malte Verwerfungen und Sättel in bunten Farben an die Tafel und sprach seine Monologe vor der großen geologischen Karte, die uns lange ein Buch mit sieben Siegeln blieb.
Manchmal brachte einer einen Stein mit, einen rundgeschliffenen Kiesel aus dem Seebad, ein Stück Kalkstein von Opas Acker oder gar ein Stück Steinkohle mit dem feinen Geäder eines Farnabdrucks. Jedesmal geriet das Kalkmännchen dann außer sich vor Freude. Es wog den Stein in der Hand und schaute lange durch eine Lupe auf seine harte Haut und murmelte geheimnisvolle Dinge dazu, es kam uns machmal so vor, als ob es mit den Steinen wie mit lebenden Wesen spreche. Oft lachte es auch oder guckte traurig vor sich hin, das schien ganz auf die Art des Gesteins anzukommen.
Merkwürdig, wir haben Kalkmännchen und sein Tun nie belächelt. Wir erkannten diesen Lehrer mit all seiner Schrullenhaftigkeit an und fühlten, daß er Dinge und Zusammenhänge sah und nacherlebte, die uns so hoch in den Sternen liegend erschienen, daß wir uns unwürdig fühlten, nach ihnen zu greifen oder auch nur den Versuch zu machen, ihm auf den schwindeligen Wegen zu diesen Geheimnissen zu folgen. Seine Wissenschaft war keine Tertianersache, aber deshalb schien sie uns doch voller Zauber und magischer Gewalt; und etwas von dieser Zauberkraft legte sich wie eine schützende Wallmauer um Kalkmännchen und bewahrte ihn vor den Bissen reißender Schülerwölfe. Der verschrumpelte Zwerg, dessen Haut der eines Bratapfels so ähnlich sah, der nie forderte, verlangte, griff, sondern immer nur gab, schenkte und sich verströmte, hat es nicht mehr erlebt, daß ich in seinen Spuren wandelte und wie er die Steine zu meinen Freunden machte. — Aber machmal, wenn ich bis in die Nacht hinein über meinen Quarzen, Graniten, Sandsteinen, Kalken und Schiefern sitze und in der Zwiesprache mit ihnen meine Freude habe oder vor den sich auftuenden Abgründen erzittere, wenn ich die Zeiten durchfliege, in denen 1000 Jahre wie ein Tag sind und das Rauschen der Meere wie eine Nachtwache vergeht, wenn ich die Pole wandern, die Kontinente versinken und das Leben sich wandeln sehe, dann meine ich manchmal, das Kalkmännchen neben mir hocken zu fühlen und seinen kurzen Atem zu hören, und mit ihm weiß ich mich verbunden in dem Wissen, daß diese Erde nur der Schemel von Gottes Füßen ist, dessen Wunder und Geheimnisse nur ein kleiner Abglanz des großen Lichtes sind, das wir einst alle schauen mögen dürfen.